E
va hockte vor ihrem leeren Teller und versuchte, die Stunden zu schätzen, die vergangen waren. Es fiel ihr schwer, denn als Orientierung diente nur das Tageslicht, das durch die Milchglasscheiben schien. Vermutlich nahte der Abend. Im Zimmer wurde es langsam schummrig. Wo blieb bloß die Polizei? Sie hatte keine Geräusche mehr gehört. Paula musste es geschafft haben. Sie würde doch sicherlich als Erstes Hilfe holen, oder hatte Paula sie vergessen? Eine düstere Vorahnung legte sich über Eva. Womöglich war Paula etwas zugestoßen. Aber sie hatte keine Hilferufe vernommen. Nur dann und wann einen Vogel, der draußen zwitscherte. Manchmal ein Knarren, was jedoch auf das Alter des Hauses zurückzuführen war. Zumindest redete sie sich das ein. Ihr verletzter Finger pochte quälend. Der dumpfe Schmerz beeinträchtigte ihre Wahrnehmung. Vielleicht bildete sie sich auch alles nur ein und in Wirklichkeit war es mucksmäuschenstill. Womöglich gehörte Paula ebenso in die Welt ihrer Fantasie. War da überhaupt jemand an der Tür gewesen? Eva rieb sich nachdenklich die Stirn. Die Haut fühlte sich trocken und heiß an. Sie glühte regelrecht. Erschöpft streckte sie sich auf dem alten Dielenboden aus und genoss die Kühle, die er ausstrahlte. Sie durfte auf keinen Fall krank werden. Sie musste durchhalten, bis Hilfe kam.
Eva blickte verzweifelt hinauf zur Decke. In den Ecken hingen Spinnweben, die so dick waren, dass sie seit Jahren dort hängen mussten. Eine fette, schwarze Spinne krabbelte an ein paar dünnen Fäden entlang. Eva sah hastig weg. Spinnen machten ihr Angst. Nur gut, dass die Zimmerdecke so hoch war. Sie drehte den Kopf zur Seite und schielte über die alten Dielen. Einige hatten sich im Laufe der Zeit verzogen, sodass der Boden wie ein Wellenmeer aussah. Eva stellte sich vor, sie säße in einem Boot und könnte einfach davonrudern. Sie spürte eine frische Brise auf dem Gesicht und genoss den Fahrtwind. Sie trieb von Ritze zu Ritze. Noch fünf oder sechs Dielen, und sie hätte die Grenze ihres Gefängnisses erreicht. Ein breiter Spalt fiel ihr ins Auge. Sie blinzelte und zuckte unwillkürlich zusammen.
Schritte näherten sich.
Schnelle Schritte.
Die Polizei?
Eva fuhr hoch und setzte sich auf das hellblaue Himmelbett. Der Schlüssel drehte sich in der Tür. Ihr Herz begann zu rasen. Die Polizei hatte keinen Schlüssel und Paula auch nicht. Eva wagte kaum zu atmen.
»Geht es dir gut, Eva?«, fragte ihr Entführer, als er hereinkam, und musterte sie sorgenvoll. Sein Blick wanderte zu dem leeren Teller. »Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht. Tut mir leid, dass ich so lange nicht nach dir sehen konnte. Ich war sehr beschäftigt.«
Eva nickte entgeistert. Wo blieb die Polizei? Hatte Paula es nicht geschafft? Hatte der Mann sie womöglich wieder in den Keller gesperrt?
»Iss. Es tut mir wirklich leid.« Er strich ihr sanft über den Arm.
Sie hatte Mühe, nicht zurückzuzucken. Die Berührung fühlte sich scheußlich an. Sie roch seinen warmen Atem.
»Ich habe nicht viel Zeit. Versprich mir, brav zu sein und hier auf mich zu warten.« Er nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte ihren Kopf herum. Seine Augen waren so blau wie das Meer, auf dem sie gerade davongerudert war. Ein dünner gelber Kranz lag um die dunkle Pupille.
»Ich verspreche es«, wisperte sie tonlos und suchte in dem Blau eine Antwort auf ihre Frage. Wo steckte Paula?
»Ich bin bald wieder für dich da und werde mich um dich kümmern. Bis später.« Er ließ von ihr ab und verschwand ohne ein weiteres Wort aus ihrem Zimmer.
Eva wartete noch einen Augenblick, bis sich seine Schritte entfernt hatten, und atmete erleichtert auf. Sie stürzte sich gierig auf die belegten Brote, die er auf einem Teller für sie dagelassen hatte. Erst als sie endlich satt war, fielen ihr die Dielen wieder ein. Vom Bett aus suchte sie nach dem Spalt, der ihr aufgefallen war.
Er befand sich unterhalb des Fensters, ungefähr einen Meter von der Wand entfernt. Eva betrachtete ihn aus der Nähe und trat mit dem Fuß auf die Diele. Sie knarrte und bog sich unter ihrem Gewicht. Neugierig untersuchte sie das Brett. Sie schob den Fingernagel in den Spalt und hebelte es ein wenig hoch.
Tatsächlich gab es nach. Ungläubig hielt sie das Dielenbrett in den Händen. Das Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals, denn darunter öffnete sich ein Hohlraum. Wie hatte ihr das die ganze Zeit entgehen können? Sie blickte sich ängstlich zur Tür um und vergewisserte sich, dass niemand draußen zu hören war. Dann griff sie in den Hohlraum und fischte ein kleines Buch heraus. Darin erblickte sie eine krakelige Handschrift, die so aussah, als wären die Zeilen in großer Eile geschrieben worden. Rechts oben stand ein Datum. Zwanzigster März. Das war ungefähr dreieinhalb Monate her.
Heute habe ich zum ersten Mal sein Gesicht gesehen. Ich war erstaunt darüber, dass er gar nicht so böse aussieht, wie man sich einen Entführer vorstellt. Er hat mich die ganze Zeit angelächelt, mir ein tolles Menü gekocht, und anschließend haben wir getanzt. Ich möchte trotzdem wieder nach Hause, doch ich traue mich nicht, es ihm zu sagen. Was würde er dann tun?
Eva las atemlos die Zeilen, die die fremde Frau hinterlassen hatte. Sie kam ihr vor wie eine Seelenverwandte, denn jedes Wort, das auf dem Papier stand, hätte auch von ihr sein können. Genauso fühlte sie sich. Hilflos, verwirrt, zwischen Angst und Hoffnung gefangen. Sie las, wie die Fremde zum ersten Mal bestraft wurde. Wie sie daraus gelernt hatte und versuchte, fortan zu gehorchen. Doch dann wieder schrieb die Unbekannte: Ich halte es keine Sekunde länger hier aus. Ich habe herausgefunden, dass er nicht jede Nacht in diesem Haus verbringt. Das verschafft mir Zeit, über eine Fluchtmöglichkeit nachzudenken. Ich habe ihn gebeten, mir das Haus zu zeigen. Er hat mich herumgeführt und ich habe mir die einzelnen Räume so gut es ging gemerkt.
Eva blätterte gespannt weiter und entdeckte eine Skizze des Hauses. Mehrere Zimmer gingen vom Flur ihrer Etage ab. Über ihr befand sich der Raum aus Glas, in dem sie nach ihrer Entführung aufgewacht war. Erst jetzt sah sie, dass es sich eigentlich um eine verglaste Terrasse handelte. Und in der unteren Etage war die Haustür eingezeichnet. Die Darstellung enthielt nur den Ausgang und die Treppe. Mehr hatte die Fremde offenbar nicht zu Gesicht bekommen. Genauso hatte Eva das Erdgeschoss ebenfalls in Erinnerung. Den Keller kannte sie noch nicht. Er bestand aus einer Vielzahl von Räumen und schien ähnlich aufgeteilt wie das Stockwerk mit ihrem Zimmer. Eva überflog die nächsten Einträge, die sich alle sehr ähnelten. Als sie am Ende des Buches ankam, fiel ihr eine Unebenheit auf der Innenseite des Umschlages ins Auge. Langsam fuhr sie mit der Fingerspitze darüber. Das Papier gab ein wenig nach, fast so, als wäre es darunter hohl.
Eva hob das Buch an und schüttelte es. Abermals begann ihr Puls zu rasen, denn es klapperte darin. Etwas steckte hinter dem Papier. Sie drückte mit dem Fingernagel einen Schlitz hinein und schielte hindurch. Sie erkannte nicht das Geringste und vergrößerte deshalb die Öffnung, bis sie einen metallischen Gegenstand ausmachen konnte. Hastig riss sie das Papier ab und staunte.
In dem Hohlraum versteckte sich ein Schlüssel. Unwillkürlich blickte sie zur Zimmertür. Konnte es sein, dass die Unbekannte es irgendwie geschafft hatte, einen Zimmerschlüssel an sich zu bringen? Aufgeregt blätterte sie noch einmal durch die Seiten, um herauszufinden, ob sie einen Hinweis auf den Schlüssel übersehen hatte. Aber da stand nichts. Eva spitzte die Ohren und schlich dann auf Zehenspitzen zur Zimmertür. Sie lauschte lange, und als alles ruhig blieb, lugte sie durch das Schlüsselloch. Ein leichter Luftzug streifte ihr Auge. Sie blinzelte und starrte so lange hindurch, bis sie schemenhaft den Flur erkannte.
Eva atmete tief durch, richtete sich auf und steckte den Schlüssel geräuschlos hinein. Er passte. Ihre Finger begannen vor Aufregung zu schwitzen. Sie drehte den Schlüssel herum.
Klack.
Ungläubig verharrte sie hinter der Tür. Sie holte noch einmal tief Luft und drückte ganz vorsichtig die Klinke herunter.