33
L aura näherte sich dem Supermarkt. Die Dunkelheit hatte sich über Berlin gelegt, auch wenn die zahlreichen Straßenlaternen dagegen ankämpften. Das hektische Leben ruhte oder hatte sich in die Clubs und Bars der Stadt verlagert. Niemand würde kurz vor Mitternacht einen Supermarkt aufsuchen, der um zweiundzwanzig Uhr schon geschlossen hatte. Als Laura auf den Parkplatz fuhr, erwartete sie gähnende Leere. Der kühle Nachtwind erfasste ihr Haar und ließ sie leicht frösteln, als sie ausstieg. Sie schlang die Arme um den Leib und blickte sich um. Wobei sie keine Ahnung hatte, wonach sie eigentlich Ausschau hielt. Sie lief auf die Scheibenfront des Marktes zu. Hinter dem Glas verschluckte die Schwärze das Innere des Gebäudes. Sie blieb stehen und betrachtete ihr Spiegelbild in den finsteren Scheiben. Dann drehte sie sich wieder um und ließ den Blick über den Parkplatz schweifen.
Was hast du hier gesucht, fragte sie stumm und rief sich das Gesicht der unbekannten Toten ins Gedächtnis. Statt einer Antwort vernahm sie irgendwo ein Klirren in der Dunkelheit. Laura huschte aus dem Licht der Laterne in den Schatten. Abermals klirrte es. Vielleicht hatte eine Katze oder Ratte ein paar leere Glasflaschen umgestoßen. Doch dann hustete jemand. Das war eindeutig ein menschlicher Laut. Laura überlegte kurz, zurück zum Auto zu gehen, aber die Neugier siegte. Sie schlich in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren, und erspähte im Dunkeln schemenhaft die Überdachung für die Einkaufswagen. Sie näherte sich leise und lauschte.
Nichts.
Kein Geräusch und keine Bewegung.
Laura umrundete die Überdachung und blieb an der Rückseite stehen. Wieder spitzte sie die Ohren. Es klirrte erneut. Das Geräusch kam ganz aus der Nähe. Sie bewegte sich zum Rand des Parkplatzes, wo mehrere große Bäume standen.
»Hau ab!«, brüllte plötzlich eine raue Männerstimme.
Laura erstarrte und versuchte, den Mann in der Dunkelheit auszumachen. Er musste sich irgendwo bei den Bäumen aufhalten.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie höflich und zog das Handy aus der Tasche. Sie schaltete das Licht ein und schwenkte den Strahl suchend zwischen den Stämmen hin und her.
Ein Gesicht mit tief liegenden Augen und etlichen Falten tauchte aus der Dunkelheit auf und funkelte sie zornig an.
»Mach das Licht aus. Du blendest mich«, knurrte der Mann und hielt sich die Hände vors Gesicht. »Was willst du hier? Das ist mein Revier.«
Laura nahm den Strahl ein wenig herunter und er landete auf den verschlissenen Kleidern eines Obdachlosen, der auf einem Pappkarton saß. Neben ihm standen zwei Bierflaschen. Der Mann griff hastig eine von ihnen und versteckte sie hinter dem Rücken.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Laura und wunderte sich, wie der Mann es nachts auf dem harten Asphalt aushalten konnte.
»Ich brauche keine Hilfe. Hau endlich ab. Geh zu deinen Kunden und lass mich in Ruhe«, krächzte er und fuchtelte mit dem freien Arm. Den anderen hielt er immer noch im Rücken.
Laura wandte sich ab, blieb dann jedoch stehen, weil ihr ein Wort des Mannes nicht aus dem Kopf ging. Warum dachte er, dass sie zu einem Kunden wollte? Der Supermarkt hatte doch längst geschlossen. Sie drehte sich wieder um.
»Was für einen Kunden meinen Sie?«
Der Obdachlose lachte auf. »Willst du mich verarschen? Ich kenne Weiber wie dich. Genauso eine hat mich in den Ruin getrieben.« Er wedelte abermals mit dem Arm und zeigte auf eine Stelle irgendwo hinter den Bäumen. »Da wolltest du gerade hin, oder? Da trefft ihr Schlampen euch doch immer mit euren Gönnern.«
Laura verstand und zog ein Foto der unbekannten Toten hervor.
»Kennen Sie diese Frau?« Sie leuchtete mit ihrem Handy auf das Bild.
»Die sehen alle gleich aus. Kann sein, dass die auch mal hier war. Wie gesagt, die treffen sich mit ihren Kunden hinter den Bäumen.« Abermals zeigte er in die Richtung.
»Danke«, sagte Laura knapp und beschloss, sich dort einmal umzusehen. Sie schritt über trockenes Gras und gelangte auf eine weitere Parkfläche, die von der Straße aus gar nicht sichtbar gewesen war. Nur ein einziges Auto parkte hier, ein dunkelroter Golf. Neugierig ging sie näher und legte die Hand auf die Motorhaube. Sie war kühl. Eine dicke Staubschicht lag auf dem Wagen. Laura fotografierte das Kennzeichen und schickte es Simon, damit er den Fahrzeughalter ermittelte. Dann kehrte sie zu dem Obdachlosen zurück.
»Wie lange steht der Golf schon auf dem Parkplatz?«
»Sehe ich aus wie die Auskunft?«, nörgelte der Mann und rollte sich auf seinem Pappkarton zusammen.
Laura schob ihm einen Fünfzigeuroschein zu.
»Hier, bitte. Kaufen Sie sich etwas zum Essen und vielleicht eine Matte.« Sie wandte sich ab und wollte zu ihrem Wagen zurückkehren.
»Warte«, knurrte der Obdachlose und hustete heftig. Als er wieder Luft bekam, erzählte er: »Der Golf steht da seit fünf Wochen und drei Tagen. Weiß ich nämlich genau, weil ich da Geburtstag hatte. Keine Ahnung, wer den dort abgestellt hat. Aber seitdem hat ihn niemand mehr gefahren.«
Laura rechnete nach. Die unbekannte Tote wurde vor knapp einem Monat hier aufgefunden. Das Auto wurde ungefähr zehn Tage früher abgestellt. Von Lena Reimann wussten sie, dass der Täter sie ganze elf Tage in seiner Gewalt hatte.
Sie bedankte sich ein weiteres Mal und begab sich zurück zu ihrem Wagen, der genauso einsam auf dem nächtlichen Parkplatz direkt vor dem Supermarkt stand. Als sie ihn fast erreicht hatte, zuckte sie zusammen. Jemand saß auf ihrer Motorhaube. Konnte der Obdachlose sie überholt haben? Doch das war nicht möglich.
Entschlossen schritt sie auf die Gestalt zu.
»Was machen Sie auf meinem Auto?«
Die Person antwortete nicht.
Laura kramte erneut ihr Handy aus der Tasche, um das Licht einzuschalten.
»Ich wollte dich sehen.«
»Taylor?« Vor Überraschung ließ sie das Handy fallen. Es plumpste zu Boden.
»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Taylor war sofort bei ihr und hob das Handy auf, bevor sie danach greifen konnte.
»Scheint noch okay zu sein«, murmelte er. »Das Display ist nicht geborsten.« Er gab ihr das Telefon zurück und hielt ihre Hand fest.
»Was machst du hier?«, flüsterte er und zog sie zu sich.
»Das könnte ich dich auch fragen«, erwiderte Laura. »Woher weißt du überhaupt, dass ich hier bin?«
Taylor schmunzelte. »Nachdem ich deine Nachricht erhalten habe, bin ich sofort ins Auto gesprungen, um dich abzuholen. Ich hatte Glück, dass du genau im richtigen Moment an mir vorbeigefahren bist. Und dann habe ich dich einfach verfolgt.«
»Warum bist du nicht ausgestiegen? Was, wenn mich der Kerl hinter den Einkaufswagen überfallen hätte?«, fragte sie mit gespielter Entrüstung.
Taylor kicherte. »Du hattest die Lage voll im Griff. Zu jedem Zeitpunkt.« Er küsste sie auf den Hals. »Kommst du jetzt mit mir nach Hause? Ich bin noch wach.«
Laura lächelte für den Bruchteil einer Sekunde, dann erstarrte ihr das Lächeln auf den Lippen.
Der Obdachlose schrie lauthals um Hilfe.
Sofort stürmte sie mit Taylor los. Sie rannten zu den Einkaufswagen, doch die Stimme kam woanders her. Laura sprintete hinter das Supermarktgebäude.
Der Obdachlose kam ihr entgegengetaumelt.
»Was ist passiert?«, rief sie und griff dem Mann unter den Arm.
»Hilfe, Hilfe«, brüllte der Alte völlig von Sinnen. Er ging auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Er atmete so heftig, dass er kein Wort mehr herausbrachte.
»Was ist denn los?«, wiederholte Laura ruhig, während Taylor versuchte, den Mann wieder auf die Beine zu bringen.
»… Tote«, keuchte der Obdachlose nach einer Weile. »Dahinten bei den Containern liegt eine Tote.«