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M arina hockte mit angezogenen Knien auf ihrem Bett.
Sascha lief davor mit hochrotem Kopf auf und ab.
»Wo wollte Irina hin?«, donnerte er und ballte die Hände zu Fäusten. »Ich weiß, dass sie bei dir war. Also raus mit der Sprache!«
Marina zog den Kopf ein. Lange würde sie das nicht mehr durchhalten. Hoffentlich kam gleich ihr nächster Freier, dann musste Sascha von ihr ablassen. Er würde niemals einen Kunden vergraulen. Dafür war er viel zu gierig aufs Geld.
»Ich habe keine … keine Ahnung«, stotterte sie erneut. »Ich bin doch gar nicht abgehauen.«
»Jaja«, brüllte Sascha verärgert. »Irina ist auch bald zurück. Das garantiere ich dir. Und dann wird sie ihr blaues Wunder erleben.«
Marina hoffte das Gegenteil. Sie wünschte sich so sehr, dass Irina es aus dieser Hölle herausgeschafft hatte. Inzwischen bereute sie es bitterlich, dass sie Irinas Angebot mitzugehen nicht angenommen hatte. Vielleicht hätte sie ihre Mutter einfach vorwarnen können. Aber diese Gedanken waren jetzt überflüssig. Sie hatte sich falsch entschieden und nun musste sie die Suppe auslöffeln. Immerhin hatte sie neue Kraft geschöpft. Ein Tag Erholung hatte ihr gutgetan.
»Ich würde dich doch niemals anlügen«, brachte sie hervor, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie schaute Sascha mit extragroßen Augen an. Er mochte das.
Und tatsächlich funktionierte es. Sascha wandte den Blick ab.
»Okay. Du bist hier und du bleibst hier. Sobald sich Irina bei dir meldet, gibst du mir Bescheid. Sie schuldet mir ein paar Tausend Euro und das kann ich nicht durchgehen lassen.« Er schnaufte zornig und stampfte aus dem Zimmer.
Marina konnte hören, wie er zum nächsten Mädchen ging. Sie atmete erleichtert auf. Erst einmal hatte sie Ruhe vor Sascha. Aber früher oder später würde er die Wahrheit herausfinden. Entweder er erwischte Irina oder eines der anderen Mädchen plauderte. Sie war sicher, dass Irina nicht nur mit ihr gesprochen hatte.
Erschöpft lehnte sie sich zurück in die Kissen. Jetzt hoffte sie, dass nicht so schnell der nächste Freier käme. Doch bevor sie durchatmen konnte, klopfte es bereits an der Tür.
»Marina?« Judith vom Empfang steckte den Kopf herein. »Pedro ist für dich da. Er will an der Bar etwas mit dir trinken.«
»Unten?«
»Ja. Beeil dich. Lass ihn nicht warten.« Judith verschwand wieder.
Marina sprang auf und überprüfte ihre Haare im Spiegel. Schnell ordnete sie ein paar Strähnen und zog rosa Lippenstift nach. Die meisten Männer mochten es, wenn sie besonders jung aussah. Dann hüpfte sie die Treppen ins Erdgeschoss hinunter, froh, endlich aus dem Zimmer herauszukommen.
»Pedro«, flüsterte sie, als sie bei ihm war, und senkte dabei die Stimme zu einem äußerst sexy Ton, wie sie fand.
»Was möchtest du trinken?«, fragte er und leckte sich nervös über die Lippen.
»Prosecco.« Marina setzte sich auf den Barhocker neben ihn. »Ich finde es super, dass wir heute mal hier unten sind. Es ist eine schöne Abwechslung.«
Er nickte und betrachtete sie intensiv.
»Wie alt bist du eigentlich?«
»Achtzehn«, log sie, denn sie wollte nicht, dass er ging.
Er bestellte zwei Drinks und reichte ihr das Sektglas.
»Auf uns«, sagte er mit einem Leuchten in den Augen und hob sein Glas.
Marina prostete ihm zu und nahm einen prickelnden Schluck. Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Marina spürte den Alkohol, der hitzig durch ihre Adern floss. Sie fühlte sich leicht und beschwingt, fast wie ein Teenager bei einem Date. Vorsichtig studierte sie Pedros Gesicht. Er hatte schöne blaue Augen. Die Nase kam ihr ein wenig zu dick vor, aber dafür war das Kinn umso markanter. Pedro hatte volles Haar. Sie fragte sich, wie alt er sein könnte. Dreißig, fünfunddreißig oder vielleicht sogar schon vierzig? Sie musste sich eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte. Sie war erst sechzehn. Jeder Mensch über fünfundzwanzig erschien ihr zwangsläufig alt.
»Schmeckt es dir?«, fragte Pedro.
Marina lächelte.
»Du kannst noch ein Glas haben«, bot er ihr an.
»Nein, danke«, entgegnete sie. Sascha mochte es nicht, wenn sie zu viel tranken. Der nächste Freier wartete in spätestens einer Stunde und ihr Atem durfte nicht nach Alkohol riechen.
»Du darfst nicht, stimmt’s?«, schlussfolgerte Pedro und sah sich um. Er beugte sich zu ihr hinüber und flüsterte: »Machst du das hier gerne?«
Marina lächelte tapfer weiter. »Ich bin da, um dir zu gefallen«, sagte sie, denn alles andere hätte fatale Folgen gehabt. Sascha würde es herausfinden.
»Wünschst du dir eine Familie? Kinder?«, fragte Pedro und musterte sie durchdringend.
»Weiß nicht.« Sie schlug die Augen nieder. Das Gespräch entwickelte sich überhaupt nicht gut. Sie wollte nicht von solchen Dingen sprechen. Schon gar nicht mit Pedro. Er war nichts weiter als ein Freier, auch wenn er sich besonders nett verhielt.
»Ich könnte für dich sorgen«, sagte er plötzlich und strich unmerklich über ihre Hand.
Marina sah auf. Ihr Herz galoppierte. Was redete er da?
»Möchtest du kurz raus an die frische Luft? Ich glaube, du verträgst keinen Alkohol.«
Es war doch nur ein Glas, wollte Marina sagen, aber auf einmal begann die Bar sich zu drehen.
»Mir ist übel«, murmelte sie und winkte den Barkeeper heran. »Sag Sascha, dass ich zwei Minuten frische Luft schnappe.«
Der Mann nickte finster. Sie erhob sich schwankend. Pedro griff ihr unter den Arm. Er zog sie mehr, als dass sie selbst ging. Endlich gelangten sie nach draußen. Kühler Wind schlug ihnen entgegen. Marina atmete auf. Sie wollte stehen bleiben, doch Pedro packte ihren Arm fester und zerrte sie mit sich.
»Lass mich los«, lallte Marina. Ihr Sichtfeld engte sich auf einmal ein. Die Beine versagten ihr den Dienst. Pedro trug sie jetzt fast.
»Wohin bringst du mich?«, wollte sie fragen, aber die Lippen gehorchten ihr nicht mehr. Sie brachte nur ein merkwürdiges Blubbern heraus. Pedro hörte gar nicht zu. Das Letzte, woran sie dachte, war der Prosecco. Irgendjemand hatte ihr da etwas untergemischt.