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L aura starrte regungslos auf die tote Frau hinab. Etwas ganz tief in ihrem Inneren wünschte sich, dass sie nur träumte. Doch das tat sie nicht. In ihr herrschte eine gähnende Leere. So als stünde sie vor einem Abgrund, der sie im nächsten Augenblick verschlucken würde. Ihr fehlten die Worte. Sie wusste bloß noch eines: Sie hatte versagt.
»Es ist nicht Eva Hengstenberg«, stellte Taylor fest, der mit seiner Handytaschenlampe die Leiche hinter dem Supermarkt anstrahlte.
Taylors Stimme löste Laura aus ihrer Starre.
»Sie liegt genauso da wie das erste Opfer. Er hat sie wieder vor den Mülltonnen abgelegt«, hauchte Laura und schloss für einen Moment die Augen. In ihrem Kopf begann es zu rattern. Sie öffnete die Fotos auf ihrem Handy und blätterte durch die letzten Aufnahmen, bis sie das Gruppenfoto fand, das Eva Hengstenbergs Vater ihnen gezeigt hatte.
»O nein«, entfuhr es ihr heiser. »Ich kenne ihren Namen.« Sie zeigte auf die junge Frau, die etwas abseits stand, und öffnete die Notizfunktion. Bei ihrem Besuch im Yogastudio hatte sie alle Namen ins Handy eingegeben. »Das ist Paula Maaßen.«
Laura hockte sich hin und hielt das Foto neben den Kopf der Toten. »Eindeutig. Das ist sie.«
Sämtliche Alarmglocken läuteten in Laura. Sie rief sofort die Zivilstreife an, die Erik Krüger observierte.
»Ist er in seiner Wohnung?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Ja«, antwortete eine verschlafene Stimme.
»Gehen Sie auf der Stelle zur Wohnung, überprüfen Sie das noch einmal und geben Sie mir Bescheid!«, bat Laura und legte auf.
Sie überlegte kurz, Frau Kohlmeier zu kontaktieren und nach Milan Zapke zu fragen. Bestimmt fertigte sie weiterhin Aufzeichnungen darüber an, wer wann das Haus verließ oder zurückkam. Die alte Dame würde wissen, ob Zapke innerhalb der letzten drei, vier Stunden mit dem Wagen unterwegs war. Laura ging davon aus, dass die Leiche heute erst nach Schließung des Supermarktes hier abgelegt worden war. Ansonsten wäre sie mit Sicherheit von einem Mitarbeiter oder Kunden entdeckt worden. Aber es war viel zu spät, um die alte Dame zu belästigen. Sie würden bis morgen früh warten müssen. Der Täter schien es jedenfalls auf die Teilnehmerinnen dieses Yogakurses abgesehen zu haben. Steckte etwa doch der Kursleiter hinter den Morden? Oder war es reiner Zufall, dass drei von vier Opfern Vehlings Kurs besuchten?
Laura ging in die Knie und betrachtete abermals ausgiebig die Tote. Sie trug ein T-Shirt und kurze Jeans. Wieder waren beide Zeigefinger mit dem Hammer bearbeitet worden und hatten sich schwarz verfärbt. Der Rechtsmediziner würde beantworten können, wann diese Verletzungen ungefähr entstanden waren. Um Paula Maaßens rechtes Handgelenk verlief ringförmig eine kräftige Schwellung. Die Haut an der Hand war teilweise abgeschürft. Die andere Hand hingegen schien unverletzt. Insgesamt wirkte die Haut der Toten rosig, was vermutlich an einer Zyankali-Vergiftung lag, wie Laura durch die ersten beiden toten Frauen gelernt hatte. Die Beine waren zerkratzt, so als wäre das Opfer durch dorniges Gestrüpp gerannt. Ein Dorn steckte tief in der rechten Wade. An den Schuhsohlen klebten Blätter und Erde. Laura konnte sich nicht entsinnen, dass die Schuhe der beiden anderen Toten ebenso verschmutzt gewesen wären.
»Verdammt«, fluchte Max, der eben eingetroffen war und sich zu ihnen gesellte. »Danke für deinen Anruf, Laura. Ich bin sofort los. Die Spurensicherung ist auf dem Weg.« Er grüßte Taylor mit einem Kopfnicken und hockte sich neben sie.
Lauras Handy klingelte. Unverzüglich nahm sie den Anruf entgegen.
»Erik Krüger ist zu Hause. Er hat uns die Tür geöffnet«, brummte der Kollege von der Zivilstreife.
»Wie sah er aus?«
»Wie meinen Sie das? Er sah aus wie immer.«
»Trug er einen Schlafanzug? Wirkte er müde, so als hätten Sie ihn aus dem Bett geklingelt?«
Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment Stille.
»Er trug Jeans und T-Shirt und schien wach zu sein«, hörte sie dann.
Laura blickte auf die Uhr. »Es ist fast ein Uhr nachts. Kommt Ihnen das nicht komisch vor? Haben Sie beobachtet, ob die ganze Zeit Licht in der Wohnung brannte?«
»Ja.« Der Polizist stöhnte missmutig. »Das Licht war an. Mein Partner und ich haben den gesamten Abend aufgepasst. Er war die ganze Zeit zu Hause.«
»Danke«, sagte Laura mit einem Seufzen und legte auf.
Max und Taylor blickten sie fragend an.
»Sag bloß nicht, die Kollegen haben es wieder vermasselt«, brummte Max.
Laura zuckte müde mit der Schulter. »Krüger lag jedenfalls noch nicht im Bett.«
»Na toll.« Max erhob sich und griff zu seiner Taschenlampe. »Alter, Geschlecht und Optik passen zu den anderen Opfern. Ich möchte echt wissen, warum der Täter die Leichen jedes Mal vor den Mülltonnen ablegt.«
»Ich denke, weil die Frauen für ihn genau das sind: Müll. Er hat keine Verwendung mehr für sie.« Laura stand ebenfalls auf und deutete auf eine Kamera, die die Zufahrt überwachte. »Wir müssen uns unbedingt die Aufnahmen besorgen. Vielleicht hat er einen Fehler gemacht und wir sehen diesmal einen Wagen oder sein Gesicht.«
Ein greller Lichtstrahl richtete sich plötzlich auf die Tote. Die Spurensicherung war eingetroffen.
Laura trat beiseite, damit das Team seine Arbeit aufnehmen konnte. Von jetzt auf gleich wimmelte es auf dem zuvor verlassenen Supermarktgelände von Menschen in weißen Schutzanzügen. Ein Fotograf schleuderte Blitzlichter durch die Nacht. Dennis Struck kroch mit einer Pinzette über den Müllplatz. Sein üppiger Bart war hinter einem Mundschutz verschwunden.
»Hier liegt ein Schlüssel«, stieß er aus und richtete sich auf. Der kräftige Mann hielt einen silbernen Gegenstand hoch. »Vielleicht hat der nichts mit unserem Fall zu tun, aber er lag vor dieser Mülltonne und nur einen halben Meter von der Leiche entfernt. Er könnte dem Täter oder dem Opfer aus der Tasche gefallen sein.«
»Sind Fingerabdrücke drauf?« Laura betrachtete den flachen Schlüssel, der zu jeder Wohnungstür passen könnte.
»Das wissen wir gleich«, erwiderte Struck und machte sich an die Arbeit. Er nahm einen feinen Pinsel und trug schwarzes Pulver auf. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Leider nein. Der Schlüssel wurde gründlich abgewischt oder jemand hat ihn mit Handschuhen benutzt.«
»Verdammt«, fluchte Laura und fragte sich, wie das sein konnte. Normalerweise fanden sich auf jedem Schlüssel Abdrücke. Selbst ein Arzt oder eine Krankenschwester trug nicht ständig Handschuhe.
»Lässt sich ermitteln, zu welchem Schloss dieser Schlüssel passen könnte? Ist da vielleicht eine Nummer drauf?«, fragte Max.
»Das ist ein Sicherheitsschlüssel. Leider verrät uns die Nummer nicht, wofür oder von wem er benutzt wird. Es gibt kein zentrales Register für so etwas. Ich befürchte, dieser Schlüssel bringt uns nicht weiter. Es sei denn, jemand findet die passende Tür.«
»Na toll«, tönte Taylor. »Da haben wir endlich ein mögliches Beweisstück und dann hilft es uns nicht.«
»Wir suchen hier alles aufs Gründlichste ab und drehen jeden Stein um. Sobald wir noch etwas haben, melde ich mich«, versprach Dennis Struck.
»Danke«, erwiderte Laura machte ein Foto von dem Schlüssel und der Nummer darauf. »Bevor wir gehen, könnten Sie die Taschen der Toten durchsuchen?«
Dennis Struck nickte und begann mit der rechten Hosentasche. Anschließend durchsuchte er die linke und zuletzt die Gesäßtaschen. Er hielt ein Papiertaschentuch in das grelle Licht der Scheinwerfer.
»Da sind ein paar Blutspuren drauf. Wir prüfen, ob die von der Toten oder jemand anders stammen.«
In diesem Augenblick klingelte Lauras Handy. Simon Fischer rief an.