Am Abend zuvor
M
arina drehte sich glücklich im Kreis. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass Pedro sie gerettet hatte.
»Pedro«, flüsterte sie und machte einen Kussmund. Ihr Spiegelbild lächelte zurück, als sie anhielt. Das Kleid saß wie angegossen. Aber dann gefror ihr das Lächeln von einem auf den anderen Augenblick. Sie musste an ihre Mutter denken. Was, wenn Sascha ihr etwas antat? Sie konnte doch nicht in diesem wundervollen Haus leben, während ihre Mutter vielleicht Höllenqualen litt. Sie brauchte ein Telefon. Sie musste sie warnen. Marina verließ das Badezimmer und eilte zur Tür hinaus. Sie rannte durch den endlos langen, düsteren Flur. Es gab so viele Zimmer, wo sollte sie nur hin? Sie wurde langsamer und lauschte. Die Stille fühlte sich irgendwie bedrückend an. Ob das an der muffigen Luft lag? Dieses Haus müsste dringend gelüftet werden. Die Wände benötigten auch einen frischen Anstrich. Eine Diele knarrte unter ihren Füßen und sie blieb erschrocken stehen. Was, wenn Pedro nicht wollte, dass sie hier herumschnüffelte? Sascha würde kurzen Prozess mit ihr machen. Sie zuckte unwillkürlich zusammen. Vielleicht wäre es besser, zurück ins Zimmer zu gehen. Früher oder später würde Pedro sie holen und dann könnte sie ihn immer noch nach dem Telefon fragen. Plötzlich roch sie etwas. Ein köstlicher Geruch waberte über den Flur. Ihr Magen knurrte sehnsüchtig. Marina schnupperte und folgte dem Geruch. Lautlos schlich sie die Treppe hinunter. Der Duft kam von unten. Pedro hantierte in der Küche. Es schepperte. Erschrocken hielt sie inne. Sollte sie lieber umkehren? Hungrig leckte sie sich über die trockenen Lippen. Ihr Appetit siegte. Sie tapste weiter Richtung Küche. Es roch einfach wunderbar. Sie verwettete ihr Leben darauf, dass Pedro einen Braten schmorte, mit Kartoffeln und Rosmarin. Sie lächelte und blieb im Türrahmen stehen. Pedro war so vertieft, dass er sie überhaupt nicht bemerkte. Er hatte sich eine Schürze umgebunden und sah damit wirklich super aus. Wie ein Profikoch.
»Kann ich dir helfen?«, fragte sie und klopfte an die offene Tür.
Pedro fuhr herum und starrte sie an. In seinen Augen erkannte sie eine Mischung aus Wut und Entsetzen.
»Ich kann auch in meinem Zimmer warten«, stammelte sie schnell. Sie wollte ihn nicht verärgern. Er stand regungslos da. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Wort heraus.
Marina griff hastig eine Kartoffel und begann sie zu schälen.
»Ich helfe dir. Es riecht so gut und ich bin hungrig.« Sie nahm die nächste Knolle und schielte zu Pedro hinüber. Er starrte sie nach wie vor an. Sie ignorierte seinen stechenden Blick und konzentrierte sich auf das Schälen. Endlich drehte Pedro sich wieder zum Ofen um und kümmerte sich um den Braten.
»Magst du Rinderbraten?«, fragte er plötzlich mit einer merkwürdig kratzigen Stimme.
»Ja, mein Lieblingsgericht. Meine Mutter …« Sie stockte, weil sie eigentlich nur gekommen war, um nach einem Telefon zu fragen. Die Sorge um ihre Familie schnürte ihr den Hals zu. »Meine Mutter macht einen perfekten Braten. Ich liebe ihn«, sagte sie, nachdem sie zweimal geschluckt hatte. Sie sah nicht auf und schälte hektisch eine weitere Kartoffel.
»Wo ist deine Mutter?«, hakte Pedro nach. Marina biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte nicht weiter darüber sprechen. Es fiel ihr schon schwer genug, ihn jetzt nicht um das Telefon zu bitten.
»In Rumänien«, wisperte sie mit erstickter Stimme. Sie kämpfte mit den Tränen und drehte sich rasch weg.
Doch es war zu spät. Er hatte sie gesehen.
»Weinst du?« Mit einem Satz stand er neben ihr, nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und sah sie an. »Was hast du denn?«
Marina schniefte. »Sascha wird meiner Mutter wehtun, weil ich mit dir abgehauen bin. Ich … ich muss sie warnen.«
»Der Kerl wird doch nicht extra nach Rumänien fahren«, versuchte Pedro sie zu beruhigen, aber es half nicht. Eine dicke Träne rollte ihr über die Wange.
»Dürfte ich sie anrufen?«
Sie erschrak, als Pedro sie nur stumm anstarrte. Sekundenlang rührte er sich nicht. Doch dann ließ er von ihr ab und verließ die Küche.
Marina blickte ihm verstört hinterher. Ihr Herz raste, weil sie nicht wusste, was er vorhatte. Sie hörte seine Schritte, die sich erst entfernten und nach ein paar Augenblicken wieder näher kamen. Sie knetete nervös die Finger. Er kam mit einem Handy zurück.
»Ruf sie an. Jetzt gleich«, sagte er und Marina fiel ein Stein vom Herzen.