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ils Vehling sprang in seinen Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Laura folgte ihm unauffällig. Was hatte dieser Mann vor? Sie hatte ihm gerade über den Tod von drei seiner Kursteilnehmerinnen berichtet. Eine wurde darüber hinaus vermisst, und Nils Vehling hatte nichts Besseres zu tun, als wie ein Verrückter durch Berlin zu rasen? Wollte er seinen Anwalt aufsuchen? Mit dem könnte er aber genauso gut telefonieren. Oder war er etwa auf dem Weg zu Eva Hengstenberg? Laura musste wissen, was da vor sich ging. Sie hielt sich dicht hinter Vehling, damit sie ihn im Verkehrschaos nicht verlor. Vehling überholte einen BMW. Der Fahrer hupte empört. Als Laura ebenfalls überholen wollte, versperrte der BMW ihr den Weg.
»Verdammt«, fluchte sie und musste notgedrungen bremsen.
Vehling rauschte davon und bog um die nächste Ecke ab. Sie würde ihn noch verlieren. Sie riss das Lenkrad rechts herum. Der Wagen schräg hinter ihr blendete auf. Laura war das völlig egal. Sie drängte sich in die viel zu enge Lücke und zog kurz darauf wieder links hinüber, um den verflixten BMW zu überholen. Der gab zuerst Gas, bremste jedoch, bevor es zu einer Kollision kam. Laura schoss an ihm vorbei und hielt nach dem silbernen Kleinwagen Ausschau, der irgendwo im Getümmel vor ihr stecken musste. Er konnte nicht mehr als drei-, höchstens vierhundert Meter entfernt sein. Sie überholte auf der linken Spur ein paar Autos. Weit vorn sprang eine Ampel auf Grün. Sie entdeckte Vehling, der an erster Position stand und wie ein Rennfahrer startete. Sie drückte das Gaspedal durch und fügte sich zwei Autos hinter ihm wieder in seiner Spur ein. Sie erreichten Charlottenburg, und je länger sie fuhr, desto mehr beschleunigte sich ihr Puls. Als Nils Vehling an der nächsten Kreuzung links abbog, stockte ihr der Atem. Vehling manövrierte auf das Krankenhaus zu.
Ungläubig folgte sie ihm und vergrößerte dabei wieder ein wenig den Abstand. Langsam rollte sie um die Ecke. Vehling lenkte seinen Wagen über den Parkplatz und hielt schließlich ungefähr fünfzig Meter vor dem Eingang an. Er sprang aus dem Wagen und rannte in die Notaufnahme. Laura parkte auf der anderen Seite des Platzes. Sie öffnete die Fahrertür, wollte hinterhersprinten, blieb dann jedoch sitzen. Er würde sie in der Notaufnahme entdecken. Das wollte sie nicht, denn so würde sie nie herausfinden, was er vorhatte. Vehling war nicht blöd.
Laura beschloss zu warten. Früher oder später musste er zu seinem Wagen zurückkehren. Sie nutzte die Zeit und wählte Max’ Nummer.
»Ich bin noch im Gespräch mit Dimitri Slatzki. Ist es wichtig?«, fragte Max.
Im Hintergrund konnte Laura eine Männerstimme hören, die soeben verstummte.
»Entschuldigen Sie mich kurz«, brummte Max in eine andere Richtung. Nach einer Weile fragte er sie: »Was gibt es?«
Laura erzählte ihm, was sich ereignet hatte.
Max hörte schweigend zu, bis er fragte: »Soll ich zu dir kommen? Slatzki hat ein Alibi von einem Barbesitzer und zwei weiteren Freunden bekommen. Er ist zwar kooperativ, hat jedoch keine Idee, wer Paula entführt und getötet haben könnte. Die anderen Opfer scheint er nicht zu kennen. Ansonsten war er sichtlich geschockt von der Todesnachricht. Ich glaube ihm.«
»Und warum hat er Paula erst eine Woche nach ihrem Verschwinden als vermisst gemeldet? Er hätte doch merken müssen, dass sie überhaupt nicht bei ihrer Schwester war.«
»Zu der Schwester hat er nicht den besten Kontakt. Er hat es erst vier Tage später herausgefunden, weil sie nicht ans Telefon ging. Und Paulas Schwester war es gewohnt, dass Paula mal auftauchte und mal nicht. Slatzki hat jedenfalls zunächst versucht, sie selbst zu finden, und nach drei Tagen hat er die Polizei informiert.«
»Das ist ja ein toller Freund«, erwiderte Laura. »Am besten machst du dich sofort zu mir auf den Weg. Vehling kommt gerade heraus. Ich muss Schluss machen.« Sie legte auf.
Nils Vehling trat mit einer langhaarigen Blondine im Schlepptau aus der Notaufnahme. Laura machte ein paar Fotos von den beiden. Sie kannte die Frau nicht. Irgendetwas war komisch. Vehling hatte ihr einen Arm um die Taille gelegt. Er zog sie mit sich, obwohl sie sich gegen seinen Griff zu wehren schien. Oder stützte er sie nur? Laura sah unsicher mit an, wie die Frau stehen blieb und auf ihren Bauch deutete. Vehling schüttelte heftig den Kopf, fasste ihre Hand und zog so kräftig, dass sie beinahe stolperte. Laura wurde aus der Situation nicht schlau. Vehling bugsierte die Blondine auf den Beifahrersitz seines Wagens. Er schlug die Tür zu, hastete um das Auto und stieg ein. Dann preschte er mit der Frau davon, dieses Mal allerdings etwas weniger schnell.
Laura fuhr hinterher. Erneut rief sie Max an.
»Er hat eine blonde Frau aus der Notaufnahme geholt und nach meiner Beobachtung unsanft ins Auto verfrachtet. Ich verfolge ihn.«
»Okay, sag Bescheid, sobald du weißt, wo er hinfährt. Ich bin unterwegs.«
Laura hoffte, dass Vehling in sein Versteck fuhr, falls er der Täter war. Doch schon bald musste sie feststellen, dass er ins Yogastudio zurückkehrte. An der nächsten roten Ampel schickte sie Max eine Nachricht. Er brauchte nicht mehr zu kommen. Sie verfolgte Vehling trotzdem weiter, denn sie traute diesem Kerl nicht über den Weg.
Als sie am Yoga und Leben
ankamen, parkte sie außerhalb Vehlings Sichtweite. Sie pirschte sich hinter einer Mauer heran und beobachtete, wie die Blondine aus dem Wagen stieg. Zuerst ging sie ruhig neben Nils Vehling her, doch plötzlich fing sie an zu kreischen. Vehling griff nach ihr und zog sie in Richtung des Gebäudes. Die Frau wollte offensichtlich nicht mitgehen, aber Vehling zerrte sie unerbittlich mit sich. Die Tür knallte hinter ihnen zu.
Laura rannte hinterher. Sie erreichte den Eingang und drückte die Klinke herunter. Doch die Tür war abgeschlossen. Überrascht versuchte sie es ein weiteres Mal. Vergeblich. Von drinnen hörte sie die aufgebrachte Stimme der Frau. Laura hämmerte gegen die Tür.
»Vehling, machen Sie auf!«
Ihre Rufe gingen in der lauten Auseinandersetzung unter. Die Tür einzutreten würde ihr nicht gelingen. Also fischte Laura einen Dietrich aus der Tasche und schob ihn ins Schloss. Taylor hatte ihr gezeigt, wie es funktionierte. Sie drehte das Metallstäbchen so lange, bis sie einen Widerstand spürte. Dann drückte sie kräftig dagegen. Sie wiederholte diesen Vorgang mehrfach, bis die Tür endlich aufsprang. Die Blondine hatte längst aufgehört zu kreischen. Laura hastete ins Gebäude. Von Sarah, die normalerweise hinter dem Tresen saß, war nichts zu sehen. Sämtliche Kursräume waren geschlossen. Laura lauschte. Eine bedrückende Stille lastete auf dem Studio. Das einzige Geräusch schien von Lauras Herz zu kommen, das wie wild in ihrer Brust schlug. Sie rannte zu dem Raum, in dem sie vorhin mit Nils Vehling gesprochen hatte. Er war leer. Sie riss die nächste Tür auf. Nichts. Sie probierte es weiter, ganz am Ende des Ganges und stockte. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg.
Drei Augenpaare starrten sie an.
Laura hielt immer noch die Klinke in der Hand. Ihr Gehirn war unfähig, das Bild, das sich vor ihr auftat, zu verarbeiten. Sie hatte etwas völlig anderes erwartet. Eine am Boden liegende Blondine. Einen prügelnden Nils Vehling auf ihr. Blut. Lebensgefahr. Doch nichts dergleichen ging hier vor sich. Die Blondine saß auf einer Yogamatte, neben ihr hockte Sarah und vor ihnen Nils Vehling, der den Blick weiterhin unverwandt auf sie richtete.
»Was machen Sie hier?«, fragte Laura um Fassung bemüht.
Vehlings linke Augenbraue schoss in die Höhe. »Die Frage wäre eher, was machen Sie
hier? Wir haben geschlossen. Wie sind Sie hier hereingekommen?«
Laura schnappte unauffällig nach Luft. Sie hatte sich verrannt und die Situation offenbar völlig falsch eingeschätzt.
»Ich habe beobachtet, wie Sie diese Frau anscheinend gegen ihren Willen hierhergebracht haben«, erwiderte sie und musterte die Blondine, deren Augen groß wie Mühlsteine wurden.
»Sie wollte zuerst nicht hören«, erklärte Vehling genervt. »Ihr Mann hat sie verprügelt, so schwer, dass sie ins Krankenhaus musste. Sie hat mich von dort aus angerufen und um Hilfe gebeten. Deshalb habe ich sie abgeholt. Aber plötzlich wollte sie zurück zu ihrem Mann und das habe ich verhindert. Zugegeben, vielleicht war ich ein wenig grob, doch in diesem Moment hatte ich keine andere Möglichkeit, damit sie wieder zur Vernunft kommt.«
Die Blondine nickte eifrig. »Nils hat mir nichts getan«, erklärte sie mit der Stimme eines Püppchens. »Aber es ist sehr nett, dass Sie sich Sorgen machen.« Sie setzte ein Zahnpastalächeln auf.
Laura konnte sich nicht erinnern, jemals in eine peinlichere Situation hineingeplatzt zu sein. Ihr wurde beinahe übel.
»Wir meditieren, damit es mir besser geht«, fügte die Blonde überflüssigerweise hinzu.
»Dürfte ich Sie kurz nach draußen bitten? Ich möchte gern unter vier Augen mit Ihnen sprechen«, sagte Laura.
Die Blonde blickte unsicher zu Nils Vehling. Als der nickte, stand sie auf und kam zur Tür.
Laura bat sie, ihr in die Eingangshalle zu folgen, und suchte dort eine Ecke, in der sie ungestört reden konnten.
»Geht es Ihnen wirklich gut?«, fragte sie und musterte die Frau aufmerksam.
»Ja. Nils hat nur versucht zu helfen. So ist er, wir können ihn jederzeit anrufen.«
»Verraten Sie mir Ihren Namen?«
»Linda Kaufmann.«
»Linda, Sie sollten sich nicht so behandeln lassen. Wenn Herr Vehling Sie gegen Ihren Willen hierhergebracht hat, sollten Sie erwägen, ihn anzuzeigen.« Laura sah in Lindas Blick, dass sie das niemals tun würde. Nicht Vehling und ihren Lebensgefährten vermutlich auch nicht. Sie seufzte unmerklich. Was stimmte nur nicht mit solchen Frauen? Warum ließen sie sich von diesen Kerlen drangsalieren?
»Wie gesagt, er wollte mir nur helfen. Ich wäre am liebsten gleich zurück zu Manfred, aber Nils hat ja recht. Das wäre dumm gewesen.« Abermals setzte sie ihr strahlendes Lächeln auf.
»Ich kann dafür sorgen, dass Sie in einem Frauenhaus unterkommen. Natürlich anonym. Niemand würde Sie finden und Sie könnten sich in Ruhe ein neues Leben aufbauen.«
Linda zuckte mit den Achseln. »Da war ich schon mal. Manfred hat mich irgendwann über meine Mutter gefunden und seitdem sind wir wieder zusammen. Ich komme einfach nicht von ihm los. Deshalb bin ich ja hier, bei Nils. Er hilft mir, mit der Situation klarzukommen.«
Laura drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand. »Rufen Sie mich an, wenn Sie Hilfe brauchen.«
Linda nahm die Karte mit spitzen Fingern und verstaute sie in ihrer Hosentasche. Vermutlich würde sie dort bis zur nächsten Wäsche versauern und wäre anschließend nicht mehr lesbar. Laura hätte diese Frau am liebsten wachgerüttelt. Doch es war sinnlos. Sie sollte sich stattdessen auf Eva Hengstenberg konzentrieren.
Sie brachte Linda zurück zum Kursraum und wandte sich an Vehling.
»Scheint ja alles in bester Ordnung zu sein. Dann noch einen schönen Tag zusammen.« Sie machte kehrt und bemühte sich, nicht im Laufschritt aus dem Studio zu stürmen. Ihre Wangen glühten heißer als Lava.
»Warten Sie«, rief Nils Vehling ihr hinterher, als sie gerade den Ausgang erreichte.
Laura stöhnte leise und wandte sich um.
»Es tut mir leid, falls ich grob zu Linda war. Ich wollte ihr nur helfen«, erklärte Vehling und streckte die Hand nach ihr aus.
Laura machte unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Erzählen Sie ihr das lieber. Es war nicht in Ordnung, wie Sie mit ihr umgegangen sind. Das wissen Sie hoffentlich?«
Vehling zuckte mit den Achseln. »Wenn ich noch irgendetwas für Sie tun kann, sagen Sie es bitte. Ich stehe wegen der Morde wirklich unter Schock. Normalerweise kann ich mich gut beherrschen, bloß als Linda vorhin zurück zu ihrem Mann wollte, wusste ich mir einfach keinen anderen Rat.«
»Falls Ihnen etwas einfällt, geben Sie Bescheid.« Sie ließ ihn in der Tür stehen und atmete auf dem Weg zu ihrem Wagen ein paarmal kräftig durch.