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arina strahlte ihn an und sein Herz begann sofort zu hüpfen.
»Möchtest du noch ein Stück Kuchen?« Nach einer löchrigen Nacht hatte er am frühen Morgen eine ganze Stunde in der Küche zugebracht, weil sie ihm am Tag zuvor von Schokoladenkuchen vorgeschwärmt hatte. Er wusste selbst nicht, was in ihn gefahren war. Aber Marina ging ihm nicht aus dem Kopf. Er hatte sie sogar aus ihrem Zimmer gelassen, damit sie ihm Gesellschaft leistete. Ihm blieb bloß eine Stunde, danach musste er zurück zur Arbeit. Dort durfte er auf keinen Fall auffallen. Zugegeben, es gab auch einen weiteren Grund, warum er Marina nicht mehr einsperrte. Er wollte sie testen. Er musste unbedingt wissen, ob sie wegliefe, sobald sie die Gelegenheit bekam. Normalerweise wartete er vier oder fünf Nächte ab. Dann schlich er sich, während die Frau schlief, in das Zimmer und lockerte die Bodendiele. Nur ein wenig, aber genug, damit der Spalt sichtbar wurde. Die meisten Frauen entdeckten die Lücke nach ein paar Stunden. Es wäre sicherlich besser gewesen, einfach bis heute Nacht zu warten, doch seine Neugier ließ ihm keine Ruhe. Außerdem wollte er sich nicht in etwas verrennen, was am Ende gar nicht echt war. Sein oberster Grundsatz lautete, die Wahrheit herauszufinden und sich nicht täuschen zu lassen. Der Test mit den sorgfältig von ihm gefälschten Tagebucheinträgen hatte bisher nie versagt.
Als Kind hatte er miterlebt, was eine untreue Frau aus einem Mann machen konnte. Sein Vater war zum Schluss ein einziges Wrack gewesen und hatte erst seine Mutter und anschließend sich selbst erschossen. Auch er hatte in dieser Nacht sterben sollen, doch die Kugel hatte keines seiner Organe getroffen. Damals hatte er den Tod gespürt. Der starre, an die Zimmerdecke gerichtete Blick seiner Mutter hatte sich unauslöschlich in sein Hirn eingebrannt. Er konnte ihr feuchtes, klebriges Blut an seinen Knien fühlen, sobald er die Bilder wachrief. Blutüberströmt war er über ihren reglosen Körper gekrochen und hatte versucht, ihr nicht in die Augen zu sehen. Halb ohnmächtig war er auf sie gesunken. Ihr warmer Körper hatte ihn am Tod zweifeln lassen. Er rüttelte an ihr und schrie. Bis ihn nur noch ein Gedanke beherrschte: Er wollte mit ihr sterben. Doch dann hörte er plötzlich ihre Stimme wie aus weiter Ferne. Sie wollte, dass er aufstand und Hilfe holte. Er gehorchte und schaffte es mit Ach und Krach zum Telefon, wo er die Notfallnummer wählte. Danach wurde alles schwarz um ihn herum.
Erst eine Woche später kam er auf der Intensivstation wieder zu sich. In seinem Hals steckte der Schlauch einer Beatmungsmaschine. Er konnte nicht sprechen, nur blinzeln. Die mitleidigen Blicke der Krankenschwestern würde er sein Lebtag nicht vergessen. Seitdem hatte er sich zurück ins Leben gekämpft und sich eines vorgenommen: Das Schicksal seines Vaters würde er nicht wiederholen. Seine zukünftige Frau würde er auf Herz und Nieren prüfen und sie nicht aus den Augen lassen.
»Der Kuchen ist lecker.« Marina schlang ein ganzes Stück innerhalb weniger Sekunden hinunter. Für eine so schlanke Frau hatte sie wirklich einen gesunden Appetit.
Er lächelte und verscheuchte die schrecklichen Bilder.
»Nimm dir noch ein Stück und warte hier. Ich muss nur schnell etwas erledigen.« Er nickte ihr zu und schritt zur Tür.
»Warte«, rief Marina.
Er drehte sich um.
Ihr Blick hatte sich verändert.
»Ich wollte mich noch einmal dafür bedanken, dass ich meine Mutter anrufen durfte. Das hat mir wirklich viel bedeutet.« Ihr rumänischer Akzent entzückte ihn jedes Mal aufs Neue. Sie klang so höflich und unterwürfig, wie er es sich schon immer von einer Frau gewünscht hatte. In dieser Hinsicht war sie tatsächlich das genaue Gegenteil seiner Mutter, die seinen Vater ständig herumkommandiert hatte. Dass sie sich so um ihre Familie sorgte, sprach ebenfalls für sie. Das hätte er von einer Nutte nicht erwartet. Marina passte in so einigen Punkten nicht in das Bild, das er eigentlich von solchen Frauen hatte.
»Das ist doch selbstverständlich. Ich habe dir ja versprochen, ich kümmere mich um dich.«
Sie lächelte dankbar.
»Rühr dich nicht vom Fleck«, befahl er und hob zur Sicherheit den Zeigefinger. Er zog die Küchentür zu und schloss sie ab. Dann ging er nach oben in Marinas Zimmer. Vorsichtig löste er das Dielenbrett aus der Verankerung. Er beförderte das Buch zutage und legte anschließend nur den Schlüssel zurück in den Hohlraum. Das Buch behielt er. Er wollte Marina nicht verstören. Sie hatte noch keine Strafe bekommen und begriff nicht, dass er sie gefangen hielt.
Er beschloss, nichts daran zu ändern. Vorerst.