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rau Kohlmeier ging nicht ans Telefon. Ein Handy besaß die alte Frau nicht. Laura seufzte und legte auf. Max steuerte den Wagen auf das Mietshaus zu und parkte direkt davor.
»Milan Zapkes Auto ist nicht da«, bemerkte Laura und stieg aus. Sie blickte auf die Uhr. »Mist. Wir sind vermutlich zu früh dran. Wahrscheinlich arbeitet er noch.«
Max überholte sie und schritt zügig zur Haustür. Dort klingelte er bei Zapke. Als niemand öffnete, versuchte er es bei Frau Kohlmeier.
»Na toll«, brummte er, nachdem er es ein weiteres Mal probiert hatte. »Es scheint wirklich keiner zu Hause zu sein.«
Laura drängte sich an Max vorbei und drückte mehrere Klingelknöpfe zugleich.
»Was machst du?«
»Ich will hier rein. Ist doch merkwürdig, dass Frau Kohlmeier nicht aufmacht.« Laura verspürte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Alte Leute änderten ihre Gewohnheiten nicht einfach und Frau Kohlmeier verbrachte den größten Teil des Tages zu Hause. Sie hatte es an ihren Aufzeichnungen gesehen. Die Frau saß anscheinend täglich mehrere Stunden am Küchenfenster.
»Hallo?«, knarzte eine Stimme aus dem Lautsprecher.
Noch bevor Laura antworten konnte, summte der Türöffner. Hastig drückte sie die Tür auf und lief die Treppe hinauf. An der Wohnungstür von Milan Zapke und Lena Reimann blieb sie stehen und klopfte. Sie presste das Ohr an die Tür, vernahm jedoch keine Geräusche von innen.
»Der ist nicht da«, flüsterte sie und nahm die Treppe ins nächste Geschoss. Max folgte ihr.
»Wollen Sie zu mir?« Ein ergrauter Mann mit Krückstock versperrte den Treppenabsatz zu Frau Kohlmeiers Wohnung. Er musterte sie kritisch durch seine dicke Hornbrille.
»Guten Tag«, sagte Laura freundlich und stellte sich und Max vor. »Wir kommen vom Landeskriminalamt und sind auf der Suche nach Frau Kohlmeier.«
»Sie sind von der Polizei und wissen nicht, wo sie ist?« Der Alte kniff die Augen zusammen und baute sich so auf dem Treppenabsatz auf, als wolle er ihn mit allen Mitteln verteidigen.
»Wissen Sie denn, wo sie ist?«, fragte Max noch einmal so freundlich.
Der Alte hob die knochige Hand. »Wären Sie tatsächlich von der Polizei, wüssten Sie es auch«, rief er heiser.
Laura zückte ihren Dienstausweis. »Schauen Sie sich den Ausweis in Ruhe an und wählen Sie notfalls bitte die angegebene Nummer auf der Rückseite. Dort wird man Ihnen die Richtigkeit bestätigen.«
»Was wollen Sie von Elise?«, brummte er, nachdem er einen Blick auf den Ausweis geworfen hatte.
»Wir haben ein paar Fragen an sie.«
»Sie sind bestimmt wegen Lena hier, richtig? Der Zapke hat sie auf dem Gewissen. Das weiß doch jeder. Der hat die arme Frau geschlagen. Einmal habe ich geklingelt und ihm anständig die Meinung gegeigt.« Der Krückstock schwang drohend in die Höhe. »Solche Mistkerle gehören hinter Gitter.«
»Wir ermitteln in jede Richtung«, erklärte Laura und nahm die nächste Stufe. »Deshalb müssen wir dringend mit Frau Kohlmeier sprechen, oder haben Sie heute Nacht vielleicht mitbekommen, ob Milan Zapke das Haus verlassen hat?«
»Tut mir leid. Ich habe Fernsehen geschaut. Elise kann es auch nicht gesehen haben, weil sie im Krankenhaus liegt.«
»Du liebe Güte«, erwiderte Laura. »Was ist denn geschehen?«
Der Alte beugte sich ein Stück zu ihr herunter. »Jemand hat sie die Treppe hinuntergestoßen«, zischte er empört. »Hier sind Gauner unterwegs. Die sollten Sie mal festnehmen.«
»Das ist ja schrecklich. Wann ist das passiert?«, fragte Laura.
»Gestern Vormittag. Elise wollte einkaufen gehen. Ich weiß das, weil sie ihren Beutel dabeihatte. Ich saß in der Küche und las gerade die Zeitung, als ich ein fürchterliches Poltern hörte. Natürlich bin ich sofort ins Treppenhaus gestürmt und da lag sie …« Der Alte verzog schmerzlich das Gesicht und zeigte auf eine Stufe unter ihnen. Mit dünner Stimme fuhr er fort: »Sie blutete im Gesicht. Ich bin auf der Stelle zurück zum Telefon und habe den Krankenwagen gerufen. Dann bin ich zu ihr. Sie war kaum bei Bewusstsein, aber sie atmete. Ich habe ihre Hand gehalten, bis die Notärztin hier war.« Er wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich hoffe, sie übersteht es.«
»Das tut mir wirklich leid«, murmelte Laura entsetzt. »Woher wollen Sie wissen, dass jemand Frau Kohlmeier gestoßen hat? Sind Sie da sicher?«
Der Mann nickte entschieden. »Ich habe die Haustür knallen hören. Jemand hat sie gestoßen und ist dann abgehauen.«
Merkwürdiger Zufall, schoss es Laura durch den Kopf. Milan Zapke wusste ganz genau, dass sie Elise Kohlmeier besucht hatte. Seine verfluchte Kamera im Flur zeichnete alles auf. Hatte er die alte Dame die Treppe hinuntergestoßen, um eine lästige Zeugin loszuwerden? Sie warf Max einen fragenden Blick zu.
Der schien ähnliche Überlegungen anzustellen, denn er fragte: »Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte? Jemand aus dem Haus?«
Doch der Alte schüttelte den Kopf. »Wenn ich das wüsste, würde ich mir denjenigen persönlich vorknöpfen.«
»Wir finden den Täter«, beruhigte ihn Laura und drückte dem Mann ihre Visitenkarte in die Hand. »Rufen Sie an, falls es Neuigkeiten gibt oder Ihnen etwas zu Lena Reimann einfällt.«
Als sie wieder im Wagen saßen, bat Laura Max darum, zum Krankenhaus zu fahren. Max gab Gas.
»Dieser Milan Zapke hat sich auf Nummer eins der Verdächtigen katapultiert«, verkündete er, während er mit viel zu hoher Geschwindigkeit über eine gelbe Ampel brauste. »Er kennt alle Opfer, hat Zugriff auf Zyankali und möglicherweise eine wichtige Zeugin ausgeschaltet, nachdem sie sein Alibi zunichtegemacht hat.«
Besser hätte Laura es nicht auf den Punkt bringen können. »Wir müssen den Mann unter Beobachtung stellen.«
Max schüttelte den Kopf. »Wir sollten ihn festnehmen und durch die Mangel drehen. Alleine für die Nummer mit der Kohlmeier würde er in den Bau wandern.«
»Mir wäre es lieber, er läuft noch ein bisschen frei rum und führt uns zu seinem Versteck.«
»Stimmt vermutlich. Trotzdem möchte ich diesen Mistkerl am liebsten sofort festnehmen«, brummte Max und bog auf den Parkplatz des Krankenhauses ab. Frau Kohlmeier war in dieselbe Klinik eingeliefert worden, in der Dr. Gebauer arbeitete.
Laura grinste beim Aussteigen. Normalerweise war sie diejenige, die nicht sonderlich viel Geduld zeigte. Dieser Fall schien Max echt an die Nieren zu gehen. Sie näherten sich mit eiligen Schritten dem Eingang. Kaum hatten sich die gläsernen Automatiktüren geöffnet, entdeckte Laura Dr. Gebauer, die aus der Notaufnahme kam. Sie trug keinen Kittel und wirkte völlig erschöpft. Sie schien nach einem langen Arbeitstag auf dem Weg nach Hause zu sein. Laura ging auf die Ärztin zu und grüßte sie.
»Haben Sie den Täter gefasst?«, fragte Dr. Gebauer und schüttelte auch Max die Hand.
»Wir sind hoffentlich kurz davor«, erwiderte Laura. »Gestern Vormittag wurde eine Frau Kohlmeier eingeliefert. Sie ist die Treppe hinuntergestürzt und eine wichtige Zeugin für uns.«
Dr. Gebauer überlegte. »Ich habe eigentlich Feierabend, aber für Sie schaue ich mal kurz nach. Gestern war wieder so viel los, dass ich mich auf Anhieb nicht erinnern kann.« Sie eilte hinüber hinter den Empfangstresen und suchte dort im Computer nach dem Namen. Sie scrollte durch ein paar Datensätze, bis sie die Patientin gefunden hatte. »Kommen Sie, vielleicht ist sie inzwischen aufgewacht. Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht, damit sie die erste Nacht übersteht. Die Wirkung sollte jedoch langsam ausschleichen.«
Die Ärztin führte sie durch einen langen Flur in ein Patientenzimmer mit drei Betten und blieb gleich vor dem ersten stehen. »Frau Kohlmeier?«, fragte sie leise und berührte sanft den Arm der alten Frau.
Elise Kohlmeier reagierte nicht. Sie sah fürchterlich aus. In ihrem Gesicht hatten sich dunkelrote bis bläuliche Schwellungen gebildet. Ihre Unterlippe war aufgesprungen. Über der Stirn lag ein dicker Verband. Der rechte Arm war bandagiert. Unter der Bettdecke lugte ein eingegipster Fuß heraus.
»Sie ist leider noch nicht wach. Versuchen Sie es morgen früh wieder. Dann ist sie hoffentlich ansprechbar.« Dr. Gebauer wandte sich ab, doch Laura hielt sie auf.
»Konnten Sie feststellen, ob Frau Kohlmeier gestürzt ist oder ob sie jemand gestoßen hat?«
»Ich weiß es nicht. Aber schauen Sie hier.« Dr. Gebauer zog die Bettdecke zurück. »An der Innenseite ihrer Hände finden sich Reibungsverbrennungen. Diese könnten entstanden sein, als sie versucht hat, sich am Treppengeländer festzuhalten. Das könnte sowohl bei einem normalen Sturz, aber auch bei Fremdeinwirkung passiert sein.« Sie drehte Frau Kohlmeiers linke Handfläche nach außen, sodass Laura und Max einen Blick darauf werfen konnten.
»Wir schicken unseren Rechtsmediziner zu ihr. Er soll diese Verletzungen aufnehmen«, sagte Laura. »Könnten Sie uns Bescheid geben, sobald Frau Kohlmeier wieder ansprechbar ist? Wir müssen unbedingt herausfinden, ob ihr jemand etwas angetan hat.«
»Natürlich. Ich informiere die zuständige Schwester. Sie wird Sie anrufen.« Dr. Gebauer lächelte müde. »Ich muss wirklich Feierabend machen und eine Runde schlafen.«
Laura und Max bedankten sich bei der Oberärztin und verließen das Krankenhaus.
»Wenn du mich fragst, spricht alles dafür, dass Zapke die arme Kohlmeier so zugerichtet hat. Wir fahren jetzt zur Apotheke und schnappen uns den Kerl«, beschloss Max, als sie wieder im Auto saßen.