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D as Glöckchen über der Tür klingelte wieder, als Laura und Max die Apotheke betraten, und lockte sofort den Apotheker hervor. Sie waren die einzigen Kunden, doch sobald er sie erkannte, verschwand das Lächeln auf seinen Lippen.
»Sie schon wieder?«, fragte er und fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar. »Wir haben seit Ihrem letzten Besuch kein Zyankali verkauft.«
»Deswegen sind wir nicht hier«, entgegnete Max. »Wir sind auf der Suche nach Milan Zapke.«
Die Augen des Apothekers weiteten sich. »Wegen seiner Partnerin?« Offensichtlich war er froh, dass es nicht um seine Lieferungen ging. Er brachte sogar ein Lächeln zustande. »Herr Zapke ist gerade raus. Er muss noch zwei Lieferungen ausfahren. Heute ist wirklich die Hölle los. Es scheint fast so, als seien die Menschen plötzlich zu bequem, um hierherzukommen. Wenn das so weitergeht, muss ich Gebühren verlangen.«
»Hat Milan Zapke gestern gearbeitet?«, wollte Laura wissen.
»Ja, er hat kurz nach neun angefangen.«
Laura überschlug die Zeit. Er hätte durchaus die Gelegenheit gehabt und Frau Kohlmeier vorher die Treppe hinunterschubsen können.
»Wann hat er heute Feierabend?«, fragte sie und sah sich in der Apotheke um.
Der Apotheker blickte auf die Uhr, die über der Tür hinter ihm hing.
Laura folgte seinem Blick.
»In einer Stunde. Es sei denn, es kommen noch dringende Bestellungen rein«, erwiderte der Apotheker.
Laura hörte nur mit halbem Ohr hin. Die Tür unter der Uhr war offen. Daneben stand ein Schrank, den sie nur von der Seite sehen konnte. Daran war eine Hakenleiste befestigt, an der verschiedene Schlüssel hingen. In Lauras Kopf ratterte es. Eine flüchtige Erinnerung tauchte auf und drohte sofort wieder zu verschwinden. Der Apotheker redete unaufhörlich weiter. Max stellte eine Frage, doch Laura blendete sie aus und forschte in ihrem Gedächtnis. Erst als eine Mitarbeiterin plötzlich in der schmalen Türöffnung erschien und an die Schlüssel stieß, machte es bei Laura klick.
»Frau Krause ruft gerade an. Sie wartet dringend auf ihre Medikamente«, maulte die Frau. »Ist die Lieferung nicht unterwegs?«
Der Apotheker nickte und schickte sie mit einem kurzen Wink wieder hinaus. Die Mitarbeiterin drehte sich um und berührte abermals mit der Schulter die Schlüssel.
Genau in diesem Moment sah Laura den Schlüssel vor sich, der von der Spurensicherung am Fundort von Paula Maaßens Leichnam sichergestellt worden war.
»Kennen Sie zufällig diesen Schlüssel?«, fragte Laura und öffnete ihre Fotos auf dem Smartphone.
»Mmh.« Der Apotheker schob seine Brille den Nasenrücken hinauf und betrachtete die Aufnahme intensiv. Dann wandte er sich um und ging zu der Schlüsselleiste an dem Schrank. »Manche Kunden, die wir häufiger beliefern, händigen uns ihre Schlüssel zu ihrem Lagerraum aus. Das Foto ist leider unscharf. Ich kann die Nummer nicht erkennen.« Er schaute eine Weile auf das Foto und schüttelte den Kopf. »Ich kenne diesen Schlüssel nicht.«
»Danke«, erwiderte Laura ein wenig enttäuscht. Vielleicht würde sie später noch einmal mit dem Originalbeweisstück vorbeikommen. »Wir warten im Wagen, bis Herr Zapke von seiner Tour zurückkehrt«, erklärte sie und verließ mit Max die Apotheke.
Als sie wieder im Auto saßen, rief Laura die Streife an, die Erik Krüger überwachte. Sie wollte keine mögliche Spur vernachlässigen.
»Der ist mit dem Rettungswagen unterwegs. Wir folgen ihm mit reichlich Abstand. Hat gerade eine längere Pause in einer Seitenstraße gemacht und ist jetzt auf dem Weg zum Krankenhaus.«
Laura bedankte sich und informierte sich bei der anderen Streife über Nils Vehling. Der war anscheinend seit Stunden im Yogastudio tätig, denn sein Wagen parkte die ganze Zeit davor.
»Ich glaube, wir haben die Situation wieder besser unter Kontrolle«, stellte Max fest. »Früher oder später sollte sich einer der drei Verdächtigen auf den Weg zu seinem Opfer machen.«
Lauras Handy klingelte.
Martina Flemming vom Rechercheteam meldete sich.
»Wir haben anhand der Kalendereinträge und E-Mails die Freier von Tamara Abaza und Paula Maaßen abgeglichen. Es gibt keine Übereinstimmungen, das heißt, keiner ging zu beiden Prostituierten. Ich kann nur bestätigen, dass Milan Zapke häufig bei Tamara Abaza war. Einen Hinweis auf Nils Vehling konnten wir nicht finden, vermutlich lief das bar oder nebenher.«
»Können Sie mir eine Aufstellung von Gebäuden, Waldhütten oder sonstigen Unterschlüpfen in den Waldgebieten Grunewald und Königswald zukommen lassen?«
»Die wird höchstwahrscheinlich nicht vollständig werden. Dafür gibt es keine Datenbank und auch über das Grundbuch können wir das nicht herausfinden. Aber ich schaue mich überall um und suche alle relevanten Informationen heraus. Dazu muss ich Satellitenaufnahmen auswerten und, wenn ich rankomme, Strom- und Wasserabrechnungen.«
»Tun Sie das und vielen Dank für die Mühen«, erwiderte Laura und knabberte nachdenklich an ihrer Unterlippe, als sie aufgelegt hatte.
»Da kommt er«, stieß Max aus und riss Laura aus ihren Gedanken.
Tatsächlich näherte sich Milan Zapkes Wagen und fuhr direkt an ihnen vorbei. Er hielt dicht vor dem Eingang, stieg aus und schlurfte gelangweilt auf die Apotheke zu. Noch bevor er die Tür öffnen konnte, sprang Max aus dem Auto und rief nach ihm.
»Herr Zapke, wir haben ein paar Fragen an Sie. Kommen Sie bitte einmal zu uns herüber.«
Milan Zapke blieb stehen und drehte sich mit versteinerter Miene um.
Für einen Moment glaubte Laura, er würde abhauen wollen, aber dann schritt er langsam auf sie zu.
»Ich habe Ihnen doch schon alles erklärt«, brummte er, ohne überhaupt zu fragen, worum es ging. »Ich habe Lena nicht ins Krankenhaus gefahren. Keine Ahnung, was die alte Kohlmeier da gesehen haben will.« Er schob die Hände in die Hosentaschen und schaute sie an wie ein uneinsichtiger Teenager.
»Wo waren Sie gestern Vormittag?«, fragte Laura, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
»Arbeiten. Wo denn sonst?« Zapke musterte sie ein wenig hochmütig. »Fragen Sie meinen Chef, der kann das bestätigen.«
»Frau Kohlmeier wurde gegen acht Uhr morgens die Treppe hinuntergestoßen«, erklärte Max und baute sich vor Zapke auf.
Dieser wich sofort einen Schritt zurück.
»Na, hören Sie mal, was wollen Sie mir denn jetzt schon wieder unterstellen?«
»Sie könnten uns helfen, indem Sie uns Ihre Kameraaufnahmen zur Verfügung stellen. Dann können wir sehen, was mit Frau Kohlmeier passiert ist«, schlug Laura vor.
Zapke warf ihr einen Blick zu, als wäre sie nicht zurechnungsfähig. »Ich habe nie behauptet, dass die Kamera Aufzeichnungen anfertigt. Sie können live beobachten oder gar nicht.«
»Sie können uns also nicht sagen, was passiert ist?«, stellte Max fest, und Zapke schüttelte energisch den Kopf.
»Sie haben aber sicherlich mitbekommen, wie sie gestürzt ist, oder? Der Lärm muss sehr laut gewesen sein«, setzte Laura nach.
»Hören Sie, ich habe nichts gehört. Außerdem wohnt sie oben. Wie hätte ich da etwas mitkriegen sollen?«
»Das heißt, Sie haben auch den Rettungswagen nicht gehört, der mit Blaulicht unter Ihrem Küchenfenster vorgefahren ist?«
Milan Zapkes Gesichtsfarbe änderte sich leicht. Er funkelte Max und Laura böse an.
»Warum verhaften Sie mich nicht einfach?«
Max tat einen Schritt auf ihn zu, doch Laura hielt ihn unauffällig zurück. Sie wollte Zapke nicht festnehmen. Es nützte keinem, wenn er die nächsten vierundzwanzig Stunden hinter Gittern saß. Sie beschloss eine andere Strategie.
»Wir können Sie ohne Beweise nicht verhaften. Das wissen Sie bestimmt. Sofern Sie es nicht waren, können Sie uns helfen, den Täter zu fassen. Sie kannten das Leben Ihrer Freundin in- und auswendig. Da ist Ihnen doch sicherlich etwas aufgefallen. Etwas, was Sie momentan vielleicht als unwichtig einschätzen. Bei nochmaligem Nachdenken kommt es Ihnen womöglich ungewöhnlich vor. Also tun Sie uns den Gefallen und denken Sie nach. Bitte.« Laura bemühte sich darum, freundlich zu klingen. Wenn Zapke sich in Sicherheit fühlte, beging er hoffentlich einen Fehler.
Tatsächlich schienen ihre Worte zu wirken, denn seine Gesichtszüge entspannten sich.
»Verstehe«, murmelte er und lächelte schief. »Ich könnte die letzten Wochen noch einmal in Gedanken durchgehen und mich dann bei Ihnen melden.«
»Das wäre nett«, sagte Laura und zog Max zurück zum Wagen. »Wir sehen uns.«