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ie Sonne versteckte sich hinter ein paar dunklen Wolken. Laura blickte in den Himmel, der plötzlich grau und bedrohlich wirkte. Es sah nach Regen aus, vielleicht würde es sogar ein Gewitter geben. Sie beschleunigte ihre Schritte. Max kam ihr unschlüssig hinterher.
»Der Juwelier hat schon geschlossen. Wir können doch da nicht einfach rein.«
Laura winkte ab. »Ich will nur ausprobieren, ob der Schlüssel passt.«
»Warum sollte Zapke ausgerechnet diesen Schlüssel am Fundort verlieren?«
Laura blieb nicht stehen, sie seufzte: »Hör zu, Max. Ich muss es wissen. Wir testen kurz und dann sind wir wieder weg, okay?«
»Von mir aus«, stöhnte Max und trottete ihr weiter missmutig hinterher.
Laura huschte über den Parkplatz zum Hintereingang des Juweliergeschäfts Ernst Göpke
.
»Hier ist das Lager«, flüsterte sie und zog den Schlüssel aus der Hosentasche. Sie streifte sich Gummihandschuhe über und holte ihn aus der Asservatentüte. Vorsichtig schob sie den Schlüssel in das Sicherheitsschloss. Sie spürte keinen Widerstand.
»Das gibt es doch nicht«, stieß Max ungläubig aus, als sie den Schlüssel drehte und die Tür aufsprang.
»Ich hatte so eine Ahnung«, flüsterte sie triumphierend. »Ein Lagerraum, genau wie der Juwelier ihn beschrieben hat.«
»In dem er Zyankali lagert«, fügte Max hinzu und grinste. »Das hätte ich echt nicht für möglich gehalten. Lass uns Milan Zapke festnageln. Er hatte Zugriff zu diesem Schlüssel und hat ihn bei Paula Maaßens Leiche verloren.«
Laura wählte sofort die Nummer der zuständigen Streife. »Wo steckt Zapke?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Ich wollte gerade Bescheid geben, dass er seine Wohnung verlassen hat und mit seinem Wagen in westlicher Richtung unterwegs ist.«
»Westliche Richtung?« Sie warf Max einen alarmierten Blick zu. »Folgen Sie ihm und lassen Sie ihn auf keinen Fall aus den Augen. Wir machen uns jetzt auf den Weg und stoßen dazu. Sobald er sich seiner Geisel nähert, schlagen wir zu. Ich fordere zusätzlich Verstärkung an.« Laura legte auf. Ihr ganzer Körper vibrierte vor Aufregung. Endlich hatten sie eine heiße Spur. Hoffentlich führte er sie zu seinem Versteck. Wenn Eva Hengstenberg überhaupt noch lebte, dürfte es zumindest psychisch äußerst schlecht um sie stehen.
»Los«, sagte sie zu Max, und beide sprinteten zum Wagen zurück. Kaum gab Max Gas, organisierte sie die Verstärkung.
Sie brausten durch Berlin. Die Straßen waren auch am Abend noch ziemlich verstopft. Max fluchte und hupte. Ständig musste er bremsen. Er ignorierte die Beschwerden der anderen Autofahrer, als er sich an einem Lkw vorbeiquetschte, der zwei Spuren blockierte. Sie benötigten fast eine halbe Stunde, bis sie den Streifenwagen endlich erreicht hatten.
»Da vorne fährt Zapke«, rief Laura und fixierte seinen Wagen, als könnte sie ihn dadurch aufhalten. »Er fährt Richtung Grunewald.« Das Herz donnerte ihr gegen die Rippen. Routinemäßig glitt ihre rechte Hand zur Dienstpistole. Das kühle Metall beruhigte sie. Sie hoffte, keinen Gebrauch von der Waffe machen zu müssen. Aber um das Leben von Eva Hengstenberg zu retten, würde sie vor nichts zurückschrecken.
»Er biegt ab«, sagte Max plötzlich.
Zapke lenkte seinen Wagen nach Norden.
»Vielleicht will er zum Spandauer oder zum Tegeler Forst.«
»Gut möglich. Von seiner Wohnung aus kann er es innerhalb einer halben Stunde zum Krankenhaus und anschließend in den Wald zu irgendeiner verlassenen Hütte oder einem Unterschlupf schaffen.« Max bremste ab. »Verdammt. Wo will er denn jetzt hin?«
Die Zivilstreife vor ihnen hatte fast eine Vollbremsung hingelegt, weil Zapke erneut abgebogen war. Langsam folgten sie dem Wagen. Die Häuser rechts und links der Fahrbahn wichen Bäumen und Sträuchern. Sie fuhren in einen Park.
»Könnte er hier seinen Unterschlupf haben?«, fragte Laura.
Doch Max antwortete nicht. Er hielt an, weil auch die Streife angehalten hatte. Milan Zapke stieg in etwa hundert Meter Entfernung aus.
»Hinterher!«, rief Laura und sprang mit Max gleichzeitig aus dem Wagen.
»Ich hab ein gutes Gefühl«, stieß er aus und zeigte auf ein Schild.
»Friedhof«, las Laura vor. Im selben Moment traf die Verstärkung ein. Vier vermummte Kollegen rannten auf sie zu.
»Ist er das?«, fragte einer von ihnen und deutete in Zapkes Richtung.
Der Verdächtige näherte sich dem von einer mannshohen Hecke umgebenen Friedhof. Zapke ging auf das gusseiserne Tor zu.
Laura nickte. Die Männer verteilten sich wortlos auf dem Gelände. Sie gehörten zu einer Spezialeinheit, die solche Zugriffe täglich trainierte.
»Was hat er da in der Hand?«, raunte Laura und setzte sich ebenfalls in Bewegung.
»Sieht aus wie Blumen«, zischte Max und zog die Pistole aus dem Halfter. Er rannte voraus.
Zapke verschwand hinter der Hecke.
Sie huschten an den Eiben entlang bis zur Pforte. Laura blickte hindurch. Zapke marschierte mitten auf dem Hauptweg. Dann bewegte er sich nach rechts. Aus dem Augenwinkel nahm Laura die Männer des Spezialeinsatzkommandos wahr. Sie lauerten in der Hecke, während die beiden Kollegen der Zivilstreife hinter ihnen in Stellung gegangen waren, um Zapke den Rückweg abzuschneiden.
Milan Zapke ging in aller Seelenruhe auf eines der Gräber zu. Davor blieb er stehen und senkte den Kopf.
Lauras Verstand arbeitete auf Hochtouren. Sie wollte diesen Mistkerl unbedingt festsetzen, doch irgendetwas stimmte nicht.
»Warte mal kurz«, flüsterte sie und ließ Max allein. Sie entfernte sich ein paar Meter, um Simon anzurufen.
»Wo ist Lena Reimann begraben?«, fragte sie, ohne ihn zu begrüßen. Tief in ihrem Innersten kannte sie die Antwort. Verdammt! Sie wartete ein paar endlose Sekunden und lauschte dem Klappern von Simons Tastatur. Als er ihr die Daten durchgab, fluchte sie leise und legte auf.
Sie begab sich wieder an Max’ Seite. »Pfeif das SEK zurück. Er besucht das Grab von Lena Reimann.«
Max’ Augen weiteten sich verblüfft. Sofort griff er zum Funkgerät.
»Rückzug«, befahl er und warf einen skeptischen Blick auf Zapke. »Bist du dir sicher?«
Laura nickte. »Simon hat es gerade überprüft. Es besteht kein Zweifel.«