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aura ging voraus, die Pistole vor sich ausgestreckt. Über ihr rauschten dichte Baumkronen, die kaum etwas vom Mondlicht durchließen. Max und Taylor schlichen hinter ihr durchs Unterholz des Königswaldes. Simon hatte eine alte, leer stehende Villa ausfindig gemacht, die früher einmal als Pension gedient hatte und Samuel Maschke gehörte. Er hatte das riesige Gebäude von seinen Eltern geerbt, jedoch nie die Mittel besessen, es instand zu halten. Da half auch die kleine Apotheke seines Onkels, bei dem er nach dem Tod der Eltern aufgewachsen war, nicht viel. Laura hatte die tragische Familiengeschichte nur mit halbem Auge überflogen. Simon hatte einen alten Zeitungsbericht über die Pension aus einem Online-Archiv gefischt. Sie wollte Eva Hengstenberg retten. Wenn sie Glück hatten – und sie hoffte es inständig –, lebte die junge Frau noch.
Unter ihr knackte ein vertrockneter Zweig. Sie lauschte in die Dunkelheit hinein. Ganz in der Nähe musste der Schäferhund stecken. Sobald er auftauchte, sollte er betäubt werden. Der Knopf in ihrem Ohr rauschte. Die Spezialeinheit hatte bereits Stellung rund um das Gebäude bezogen. Das Gelände war zuvor mit einer Wärmebildkamera abgesucht worden. Bis auf den Hund befand sich niemand außerhalb des Gebäudes.
»Sind auf Position«, dröhnte es in Lauras Kopfhörer. Sie schlich weiter zum nächsten Baumstamm. Das Haus lag jetzt direkt vor ihr. Sie sah schwaches Licht in einem der Fenster.
»Hund ruhiggestellt«, meldete ein Kollege über Funk.
Laura atmete auf. Sie wollte keine Bekanntschaft mehr mit bissigen Hunden machen. Den Einsatz, in dem Max gebissen worden war und sich die Wunde später entzündet hatte, würde sie nie vergessen. Sie sah einen schwarzen Schatten, der sich zur Haustür bewegte. Sie folgte ihm lautlos. Der vermummte Polizist würde jeden Augenblick die Haustür öffnen. Den Moment wollte sie nicht verpassen.
»Tür geöffnet«, meldete der Polizist leise per Funk.
Laura nahm die drei Stufen zum Eingang mit einem Satz und glitt hinter ihm durch den schmalen Spalt. Im Flur gab der Kollege der Spezialeinheit ihr ein Zeichen. Sie sollte mit Max und zwei Polizisten nach oben. Er würde sich im Erdgeschoss umsehen. Taylor blieb ebenfalls unten. Sie stieg mit Max die Treppe hinauf und hielt sich dabei dicht an der Wand. Die alten Dielen knarrten. Sie verlangsamte das Tempo und lauschte aufmerksam, während sie vorsichtig eine Stufe nach der anderen nahm.
Nichts.
Das verdammte Haus lag in vollkommener Stille.
Oben im Flur blieb sie stehen. Sie sah nach links und nach rechts. Der Gang zog sich in die Länge. Diverse Türen gingen zu beiden Seiten ab. Die Polizisten liefen zur linken Seite, sie und Max machten sich in die andere Richtung auf. Max schlich voraus bis zum Ende des Ganges, während sie im vorderen Teil verblieb. Ungefähr auf der Hälfte des Flurs hatte sie das Licht im Fenster gesehen. Dort musste Samuel Maschke stecken. Sie knipste kurz ihre Stirnlampe aus, um zu sehen, durch welchen Türspalt Helligkeit drang. Die Lampe wieder eingeschaltet, näherte sie sich auf Zehenspitzen der dritten Tür. Ganz langsam drückte sie die Klinke hinunter. Hinter sich hörte sie etwas knacken. Sie sah sich kurz um, konnte jedoch nichts erkennen. Sie hielt die Luft an und spähte durch den Türspalt. Auf einem hellblauen Himmelbett lagen ein paar Kissen und eine ordentlich gefaltete Bettdecke. An der Wand gegenüber stand ein Kosmetiktisch. Daneben befand sich eine Tür. Laura huschte ins Zimmer und blickte sich gründlich um, bevor sie sich der Tür näherte. Sie lauschte zunächst und öffnete sie dann langsam. Das Badezimmer war ebenfalls leer. Es roch nach Seife, so als hätte vor Kurzem jemand geduscht.
Laura machte kehrt und durchsuchte das nächste Zimmer. Sie stieß auf ein rosafarbenes Himmelbett und im Badezimmer auf eine eingeschlagene Fensterscheibe. Sie probierte als Nächstes das Zimmer schräg gegenüber. Das Erste, was sie erblickte, war eine brennende Kerze. Sofort schoss ihr Puls in die Höhe.
Die Pistole auf das breite Bett gerichtet, betrat sie das Zimmer.
»Hände hoch«, rief sie und zielte auf die Person unter der Decke.
Nichts rührte sich. Laura ging mit vorgehaltener Waffe auf das Bett zu und zog die Bettdecke weg. Große dunkle Augen starrten sie ängstlich an. Ein unbekanntes Mädchen lag nackt auf dem Laken. Es verschränkte panisch die Arme vor der Brust. Sein Blick flackerte hektisch umher und blieb ein Stückchen über Lauras Kopf stehen.
Plötzlich hörte Laura ein Klicken hinter sich. Jemand hatte eine Waffe entsichert. Sie erstarrte.
»Leg die Waffe auf den Boden«, dröhnte eine tiefe Männerstimme direkt an ihr Ohr.
Laura reagierte nicht.
»Na los! Mach schon! Ganz langsam. Kapiert?«
Laura sah das Mädchen an, das auf einen Punkt hinter ihr starrte. Wie in Zeitlupe sank sie in die Knie, wobei sie unablässig in die Augen des Mädchens blickte. Demnach musste der Mann schräg hinter ihr stehen. Laura ging noch ein Stück weiter in die Hocke und fuhr mit einem Ruck herum.
Der Mann war verschwunden.
Laura blinzelte ungläubig und hastete auf den Flur. Wo war er so schnell hin? Max und zwei Kollegen des Spezialeinsatzkommandos stürmten ihr entgegen.
»Wo ist er?«, knurrte einer von ihnen mit vorgehaltener Waffe.
»Er stand gerade hinter mir, und im nächsten Augenblick war er weg.«
Der Polizist gab seinem Kollegen ein Zeichen. Die beiden begannen, die umliegenden Räume abzusuchen.
Laura ging zurück in das Zimmer zu dem Mädchen.
»Wo ist der Mann hin?«, fragte sie die Unbekannte.
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie in gebrochenem Deutsch und zog die Bettdecke wieder hoch bis zum Kinn.
Laura blickte sich um. »Sie müssen doch gesehen haben, wo er hin ist.«
Das Mädchen schüttelte entschlossen den Kopf, beinahe ein wenig trotzig. Laura glaubte ihr kein Wort.
Max verschwand im Badezimmer.
»Nichts«, brüllte er. »Hier ist niemand. Das Fenster ist verschlossen.«
Er kam zurück und blickte sich um.
Laura stellte sich genau dorthin, wo sie eben gestanden hatte. Sie rief sich die Stimme des Unbekannten ins Gedächtnis und fuhr abermals herum. Ihr Blick fiel auf den Wandschrank, der vier Türen hatte. Sie riss die ersten beiden Türen auf.
Das Mädchen begann im gleichen Augenblick zu schreien:
»Lauf, Pedro! Lauf!«
Eine winzige Sekunde lang fragte sich Laura, wer zum Teufel Pedro war. Sie starrte in den leeren Schrank, der keine Rückwand hatte. Stattdessen klaffte hinter dem Schrank eine mannshohe Öffnung in der Mauer, die den Weg zu einer schmalen Wendeltreppe freigab.
»Ruf die Verstärkung und pass auf das Mädchen auf«, bat sie Max und stieg mit vorgehaltener Waffe die ausgetretenen Stufen hinab. Die Treppe schlängelte sich um eine Säule herum, sodass sie nicht weit nach unten sehen konnte. Laura stürmte hinunter bis in den Keller und erreichte abermals einen Gang, von dem mehrere Türen abgingen.
»Kommen Sie raus!«, brüllte Laura. »Das Haus ist umstellt. Sie haben keine Chance.« Sie lauschte, konnte jedoch nicht mehr hören als das Trampeln der Kollegen, die ihr in diesem Augenblick zu Hilfe eilten. Sie wandte sich nach rechts und stieß die nächste Tür mit dem Fuß auf. Der Strahl ihrer Stirnlampe fuhr über leere Kisten, staubige Möbel und altes Kinderspielzeug.
»Gesichert«, hörte sie von der anderen Seite des Kellers, wo die Kollegen begonnen hatten, die Räume zu durchforsten.
Sie leuchtete die Wände ab und entdeckte eine weitere Tür. Irgendwo in der Ferne über ihr kreischte das Mädchen. Laura drückte die Klinke hinunter. Die Tür war verschlossen. Sie nahm Anlauf und warf sich mit der Schulter dagegen. Das morsche Holz knirschte, doch das war nicht genug.
Plötzlich stand Taylor neben ihr. »Lass mich mal«, murmelte er und rammte die Tür mit aller Kraft. Diesmal funktionierte es. Das Schloss gab krachend nach. Laura stürmte mit ausgestreckter Waffe an ihm vorbei und hielt abrupt wieder an.
Auf dem Boden lag eine Frau. Sie rührte sich nicht. Ihre rechte Hand ruhte auf einer Wasserflasche.
»Eva?«, rief Laura und nahm ihr Gesicht in die Hände. »Können Sie mich hören?«
Eva Hengstenberg reagierte nicht. Laura fühlte dennoch einen schwachen Puls.
»Wir brauchen sofort einen Arzt«, rief sie und suchte die bewusstlose Frau nach Verletzungen ab. Ihre Zeigefinger waren verbunden. Ansonsten fand Laura auf Anhieb nichts, was auf schwere Verletzungen hinwies.
»Hoffentlich hat er sie nicht vergiftet«, flüsterte sie, während Taylor eine Decke über Eva Hengstenberg legte, die er rasch besorgt hatte.
»Sie wird bestimmt durchkommen«, erwiderte er und hob die Frau hoch. »Ich bringe sie nach draußen, dort wartet schon der Rettungswagen.«
Laura folgte Taylor durch den Keller. Sie nahmen nicht die Wendeltreppe, sondern das Treppenhaus.
Die Notärztin kam ihnen bereits auf der Schwelle der Haustür entgegen. Eva Hengstenberg wurde in Windeseile in den Rettungswagen verfrachtet. Er düste mit Blaulicht davon, noch bevor Laura fragen konnte, ob sie es schaffen würde. Verzweifelt blickte sie den blinkenden Lichtern hinterher.
»Nein«, kreischte irgendwo eine Frauenstimme herzzerreißend. »Nein!« Laura stürmte sofort zurück ins Haus. Die Schreie kamen von oben. Sie nahm die Treppe und rannte in das Zimmer, in dem sie das Mädchen gefunden hatte. Was sie dort erblickte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
»Lassen Sie ihn gehen«, flehte das Mädchen, das plötzlich eine Pistole in der Hand hielt. Die Unbekannte zielte auf Max, der vor dem Wandschrank stand und ihr den Rücken zuwandte. Die Waffe des Mädchens zitterte so stark, dass sie ihm fast aus den Fingern glitt. Trotzdem rührte Max sich nicht von der Stelle. Er hielt seine Pistole ebenfalls ausgestreckt vor sich, gerichtet auf etwas in dem Schrank.
Das Mädchen achtete nicht auf Laura, als sie lautlos das Zimmer betrat, sondern starrte weiterhin auf Max’ Rücken. Die beiden letzten Türen des Schrankes standen jetzt ebenfalls offen. Innendrin hockte Samuel Maschke. Er hatte die Hände über den Kopf gehoben und war wie das Mädchen splitternackt.
»Wie heißen Sie?«, fragte Laura die vor Angst bebende junge Frau und näherte sich langsam dem Bett.
»Marina«, erwiderte sie. »Der Polizist soll Pedro in Ruhe lassen. Wir haben nichts getan. Begreifen Sie?«
Laura nickte. »Ich verstehe Sie, Marina. Sie sind freiwillig hier?«
»Natürlich«, stieß Marina überrascht aus, ohne die Waffe herunterzunehmen. Doch für einen winzigen Augenblick war sie abgelenkt.
Darauf hatte Laura gewartet. Sie schlug blitzartig zu. Die Pistole flog durch den Raum und landete scheppernd auf dem Boden.
Marina sprang auf und stürzte sich auf die Waffe.
»Nicht«, schrie Samuel Maschke plötzlich. »Marina. Nein! Lass die Pistole liegen!«
Marina hielt verdutzt inne. »Was sagst du da, Pedro? Wir wollen doch zusammen sein.«
»Ich will nicht, dass du meinetwegen im Gefängnis landest. Also bitte, lass die Pistole liegen und gehe mit den Polizisten mit. Du kannst ihnen alles erzählen. Sie werden dir helfen.« Maschke blickte zu Max. »Ich ergebe mich.«
Laura schaute verdutzt zwischen ihm und Marina hin und her. Warum nannte Marina ihn Pedro? Sie legte dem Mädchen die Decke über die Schultern und ließ es nach draußen führen. Marina warf Samuel Maschke einen sehnsuchtsvollen Blick zu. Laura verstand die Welt nicht mehr.
»Warum haben Sie all diese Frauen entführt und ermordet?«, fragte sie Maschke, nachdem Max ihm Handschellen angelegt und eine Decke gegeben hatte.
Maschke zuckte traurig mit den Schultern. »Sie haben nicht zu mir gepasst. Ich habe Marina zu spät kennengelernt.« In seinen Augen erkannte Laura die Verzweiflung. »Ich habe so viele Jahre lang nach jemandem wie ihr gesucht«, flüsterte er heiser und stockte, bevor er weitersprach: »Ich gebe alles zu. Aber bitte bringen Sie Marina nach Hause zu ihrer Mutter. Sie braucht ihre Familie.« Seine Stimme brach und er redete nicht weiter.
Musste er auch nicht. Laura fing langsam an zu begreifen, was die Schuld dieses Mannes natürlich nicht im Geringsten milderte. Doch jetzt ahnte sie immerhin, warum er das alles getan hatte.
»Führen Sie ihn ab«, sagte sie zu einem Beamten des Einsatzkommandos und griff zum Telefon. Sie musste wissen, wie es Eva Hengstenberg ging.