Eines hatten Menschen und Elfen gemeinsam – sie waren besessen von ihrer Vergangenheit.
Schon die Schmalaugen waren eifrig darum bemüht gewesen, vergangene Ereignisse aufzuschreiben und sich ihrer genau zu entsinnen (bis auf das, woran die Nachwelt sich nicht erinnern sollte ). Und da sie in mancher Hinsicht das große Vorbild der Milchgesichter gewesen waren, trieben auch diese einen Kult um ihre Geschichte, die Rammar nie hatte nachvollziehen können.
Wozu sollte das auch gut sein?
Natürlich hatte er Menschen dazu befragt, und meist hatten sie ihm dieselbe Antwort gegeben: dass man die Pflicht habe, sich der Vergangenheit bewusst zu sein, um für die Zukunft aus ihr zu lernen und begangene Fehler nicht zu wiederholen … Nach allem, was Rammar über die Menschen gelernt hatte, war das nur eine leere, hohle Phrase, denn wenn die Milchgesichter eines ganz sicher nicht taten, dann aus ihrer Vergangenheit lernen.
Im Gegenteil, sie machten immer wieder dieselben dummen Fehler, und dann fielen sie gewöhnlich übereinander her und schnitten einander die Kehlen durch, im Grunde nicht viel anders als Orks. Nur dass sie dabei gerne behaupteten, es in allerbester Absicht zu tun und durch und durch edler Gesinnung zu sein, während sie ihrem Feind den Schädel spalteten.
Orks hingegen scherten sich erst gar nicht um das, was früher gewesen war – und nicht nur weil ihre Sprache keine Schrift kannte und sie somit schon gar nicht gewusst hätten, wie sie ihre Vergangenheit aufzeichnen sollten. Sondern weil sie sich anders als die Menschen nicht selbst betrogen oder sich einredeten, besser zu sein als vorangegangene Generationen. Ein Ork fraß und schlief und brachte hin und wieder jemanden um die Ecke – unterm Strich also ziemlich genau dasselbe Muster, dem auch Menschen folgten. Nur dass Orks sich nicht bei jedem Axthieb einbildeten, er müsse für die Nachwelt aufgezeichnet werden. Und sie bauten auch keine Denkmäler wie das scheußliche Ding, das man für Rammar und Balbok einst vor dem Palast von Tirgas Lan errichtet hatte – Rammar hatte es eigenhändig zerlegt.
Wenn schon, dann wurde die Erinnerung an große Helden allenfalls in Geschichten bewahrt – Rammar ging fest davon aus, dass die Abenteuer Rammars des schrecklich Rasenden inzwischen überall an den Lagerfeuern der bolboug’hai erzählt wurden.
Aber das war es dann auch schon.
Keine Chroniken.
Keine Aufzeichnungen.
Keine in Leder gebundenen Wälzer.
Und doch war auch dem geschichtsvergessenen Rammar bewusst, dass jener Moment, in dem die Gorwal II den festgeschriebenen Punkt erreichte, einer war, der in die Historie von Erdwelt eingehen würde. Von nun an würde alles anders werden – wie bald schon, konnte allerdings auch Rammar der schrecklich Rasende in all seiner Klugheit in diesem Augenblick nicht erahnen …
»Dies ist die Position«, stellte Kapitän Pyaras fest. Er hatte selbst das Steuer übernommen und stand breitbeinig auf dem Achterdeck. Die Matrosen auf den Decks und in den Wanten hatten ihre Arbeit unterbrochen und starrten ihn erwartungsvoll an. Die Zeit schien stillzustehen, die See lag ruhig und weit, so als wäre auch sie sich der Tragweite des Augenblicks bewusst.
»Bist du sicher?«, fragte Rammar skeptisch.
Pyaras nickte. »Ich habe unsere Position vergangene Nacht geprüft und am frühen Morgen noch einmal. Es besteht kein Zweifel – dies ist der Punkt, an dem meine Männer und ich damals von der Barriere verschlungen wurden und das Schicksal seinen Lauf nahm.« Ein Schatten legte sich über seine wettergegerbten Züge. Rammar war klar, dass er in diesem Moment an seine Leute dachte, an Raybert, Riek, Turpin und all die anderen, die es nicht geschafft hatten. Sentimental, wie die Menschen nun einmal waren, war das wohl unvermeidlich.
»Und das bedeutet?«, hakte der Ork nach.
Pyaras straffte seine schlanke Gestalt und richtete sich am Steuer auf. »Es bedeutet«, rief er mit lauter Stimme und nicht nur an Rammar, sondern an die gesamte Besatzung gewandt, »dass unsere Hoffnungen berechtigt waren: Der Bann, den der Dunkelelf Margok einst verhängte, ist erloschen. Die Barriere zwischen der Neuen und der Alten Welt existiert nicht mehr!«
Es war das, was sie sich alle erhofft und womit sie im Grunde auch gerechnet hatten – es nun jedoch endgültig bestätigt zu finden, sorgte bei den Männern für lauten Jubel, der weithin über die blaue See scholl. Selbst Rammar gönnte sich für einen Moment ein zufriedenes, selbstgefälliges Grinsen, bedeutete es doch, dass ihm nun nichts mehr den Weg auf seine Insel verwehren konnte. Die Seeleute brüllten ihre Erleichterung heraus und fielen einander in die Arme, wie es ihrer sentimentalen Art entsprach. Einem Matrosen, der Rammar im Überschwang der Gefühle ebenfalls umarmen wollte, drohte der Ork Prügel an.
»Nun kann uns nichts mehr aufhalten«, war auch Pyaras überzeugt und überließ wieder seinem Steuermann das Ruder. »Nicht mehr lange, und du wirst wieder auf deinem Thron sitzen und Millbru essen, König der Orks.«
»Es heißt bru-mill «, verbesserte Rammar, der seinen Blick weiter nach Norden gerichtet hielt – denn was er dort sah, wollte ihm nicht recht gefallen …
»Hmmm«, machte er skeptisch.
»Was hast du? Zweifelst du etwa daran? Die Barriere existiert nicht mehr! Dieses Schiff ist gut und stark, und der günstige Wind wird dafür sorgen, dass wir im Handumdrehen …«
»Ich weiß nicht«, fiel Rammar ihm ins Wort, ohne seinen Blick vom Horizont zu wenden. Seine Schweinsäuglein waren zu schmalen Schlitzen verengt. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass da draußen trotzdem etwas ist.« Er zog den Rüssel kraus und schnüffelte. »Ich denke, ein Sturm zieht auf, Mensch.«
Pyaras trat neben ihn und spähte ebenfalls. Dann, um sich zu vergewissern, griff er zum Fernrohr – und im selben Moment gab auch der Ausguck oben auf dem Hauptmast Alarm.
»Das ist kein Sturm, Ork«, widersprach der Kapitän grimmig. »Aber was auch immer es ist, es kommt direkt auf uns zu …«