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FOULLSOUCHASHHAI

Vieles von dem, was Aderyn einst getan hatte, wozu sie einstmals fähig gewesen war, konnte sie in ihrem malträtierten, von den Flammen des apiron ausgezehrten Körper nicht mehr; ihre Fertigkeiten als Kriegerin waren verloren, so wie ihre Künste als Verführerin dahin waren. Wenn es hingegen darum ging, das Wesen ihrer Gegner zu durchschauen, Furcht in ihren Herzen zu säen und sie an Körper und Geist zu quälen, um sie das tun zu lassen, was Aderyn von ihnen wollte, so waren ihre Fähigkeiten noch immer ungebrochen.

Womöglich, dachte sie, war dies ihr wahres Talent und auch dasjenige, welches sie am meisten charakterisierte.

»Ihr erfahrt nichts«, erklärte die alte Mutantin, die Stimme noch fest und so laut, dass es von der hohen Decke widerhallte. »Gwarshyra fürchtet sich nicht.«

Sie waren wieder im Tempel, zu Füßen der Statue, die die Verheißene darstellen sollte. Aderyn hatte die mordlüsterne Alte, die sie hatte töten wollen, auf den Thron setzen lassen, auf dem sie sonst saß, und sie an Hand- und Fußgelenken daran fesseln.

»Das sagtest du schon«, meinte Aderyn unbeeindruckt, während sie den Thron umkreiste wie ein Raubtier, das seine Beute sicher wusste und nun mit ihr spielte. Kelon und Taithas standen ein Stück abseits. Aderyn hatte ihnen verboten einzugreifen, ganz gleich, was geschehen würde …

»Die Sache ist nur, ich weiß es besser«, fuhr sie fort. »Jede Kreatur Erdwelts fürchtet sich vor irgendetwas, und du bildest keine Ausnahme.«

Die Alte lachte leise. »Sieh mich an, falsche Göttin. Ich bin alt und verstoßen … was könntest du Gwarshyra noch nehmen, das ihr noch nicht genommen wurde?«

Aderyn ging auf, dass Kelon sich geirrt hatte. Das alte Wort gwarshyra  – Wächterin – bezeichnete in diesem Fall nicht nur die Tätigkeit der Alten, es war auch ihr Name. Vermutlich hatte sie irgendwann selbst beschlossen, sich so zu nennen, was darauf schließen ließ, dass die alte Mutantin keine hergelaufene Wahnsinnige war, sondern sich auf einer Mission wähnte. Aderyn begriff, dass sie es mit einer Überzeugungstäterin zu tun hatte, einer wahrhaft Gläubigen.

Die Frage war nur, woran sie glaubte …

»Ich verstehe deinen Standpunkt besser, als du glaubst, das tue ich wirklich«, versicherte sie der Greisin, »und ich habe einen gewissen Respekt vor unbeugsamen Geistern, die bereit sind, für ihre Überzeugung in den Tod zu gehen. Allerdings übersiehst du dabei zwei Dinge, altes Weib. Sieh mich an! Ich bin noch weit schlimmer entstellt als du, und dennoch weiß ich aus erster Hand, dass auch in diesem elenden, unansehnlichen Körper noch immer Leidenschaft brennt – versuche also erst gar nicht, mir weiszumachen, dass dir alles gleichgültig wäre …«

»Und das zweite, was ich übersehe?«, krächzte Gwarshyra.

Aderyn lächelte freudlos. An einem anderen Ort, zu einer früheren Zeit hätte sie in der unbeugsamen Alten womöglich eine verwandte Seele erkannt und sie in ihre Dienste aufgenommen – hier und jetzt war das nicht möglich, und sie bedauerte es beinahe. »Zweitens«, fuhr sie fort, »habe ich nicht vor, dir etwas zu nehmen, alte Frau. Im Gegenteil, ich möchte dir etwas geben.«

»Und das wäre?«

Statt zu antworten, blickte Aderyn nur nach oben, auf den Kopf der Statue, wo zwei Tempeldiener Posten bezogen hatten – und auf Aderyns Geheiß hin ganz langsam eine mit Feuer gefüllte Schale ausgossen.

Von unten sah es aus, als würde der geöffnete Mund der steinernen Göttin plötzlich Feuer speien: Feuer und Glut regneten in einem orangeroten Bausch herab – und ergossen sich über den Thron, der zu Füßen der Statue stand … und über die alte, gebeugte Gestalt, die daraufsaß.

»Schmerz«, sagte Aderyn nur.

Die Alte zuckte zusammen, als die ersten glühenden Kohlen in ihren Schoß fielen und auf ihr schäbiges Gewand. Für einen Augenblick, der lange genug war, dass Aderyn ihr dafür Respekt zollte, gelang es ihr noch, die Beherrschung zu bewahren und zu verhindern, dass sie in Panik ausbrach. Doch der gehetzte Blick in ihren Augen machte deutlich, dass dies ein reiner Akt des Willens war, für den sie schon kurz darauf keine Kraft mehr hatte. Als ihre Kutte Feuer fing, als erste kleine Flammen auf dem schmutzig dunklen Stoff zu tanzen begannen, als feurige Glut auf ihren Kopf fiel und ihr Haupt und Haar versengte, begann sie sich wie von Sinnen auf dem Thron zu gebären. Ihre ohnehin grässlich anzusehenden Gesichtszüge verzerrten sich zu einer bizarren Fratze, während sie aus Leibeskräften schrie.

Aderyn empfand tiefe Genugtuung.

Die kreatürliche Angst vor Feuer war etwas, das jedem Lebewesen innewohnte, auch die Nevathani bildeten keine Ausnahme. Kollektiver Schmerz, an den ein ganzes Volk sich zu erinnern glaubte, war eine Sache … individuelle, konkrete Qual, die man am eigenen Körper verspürte, noch einmal etwas völlig anderes. Aderyn wusste dies, weil sie im Lauf ihres langen Daseins beide Arten von Schmerz hinreichend empfunden hatte. Die Sterblichen hingegen verwechselten sie mitunter …

Ihrem Alter und ihrer eben noch zur Schau gestellten Lethargie zum Trotz zerrte die alte Mutantin mit aller Kraft an den ledernen Stricken, mit denen ihre Hand- und Fußgelenke vielfach umwickelt waren.

Natürlich vergeblich.

Sie konnte nicht entfliehen – und die Glut der Flammen fraß immer weiter an ihr, während immer noch mehr davon auf sie herabregnete, auf die nackten Hände und sie ebenfalls verbrannte. Flammen loderten auf ihrem Haupt, um sogleich wieder zu verlöschen, wenn das Haar, das sie nährte, verbrannt war.

»Hört auf!«, schrie die Alte heiser und schneller, als Aderyn geschätzt hatte – nun war sie ein wenig enttäuscht. »Hört damit auf, ich bitte Euch …«

»Es wird enden«, versprach Aderyn ihr ungerührt, »sobald du mir verrätst, was ich wissen will!«

»Gwarshyra kann nichts sagen! Sie darf nicht …«

»Dann wird Gwarshyra brennen«, sagte Aderyn. »Glaub mir, ich habe ebenfalls gebrannt«, fügte sie grimmig hinzu. »Noch ist es nur ein böser Scherz, den die Flammen mit dir treiben. Aber schon bald …«

Ein wahrer Funkenregen stürzte auf die Alte herab, als die Tempeldiener den letzten Glutrest auf sie schütteten. Für einen Moment verschwand sie schreiend hinter einem Vorhang aus roter Glut. Als sie wieder darauf auftauchte, standen ihre Kleider lichterloh in Flammen, die gierig an ihr leckten.

Sie schrie erbärmlich.

»Rede!«, hielt Aderyn dagegen. »Brich dein Schweigen, das dir niemand lohnt, und ich beende deine Qual!«

»Darf … nicht …«

»Wofür willst du schweigen? Für wen? Du bist verstoßen, genau wie alle anderen deines Volkes, es führt kein Weg zurück …«

»Gnade!«, schrie sie.

»Keine Gnade!«, widersprach Aderyn unbarmherzig. »Außer du brichst dein Schweigen …«

Die Flammen loderten und fraßen weiter – und im nächsten Moment war der Punkt erreicht, an den nach Aderyns Erfahrung jede sterbliche Kreatur früher oder später gelangte …

»Crysalion!« , brach es in einer Eruption aus Schmerz und Todesangst aus der Gefolterten hervor.

»Kristalle?«, hakte Aderyn nach. »Wo?«

Das Zögern der alten Frau währte nur einen Augenblick, Glut und Feuer hatten jetzt ganz von ihr Besitz ergriffen. Ihre mutierten Züge waren rußgeschwärzt, das Haupt das Einzige, was noch nicht lichterloh in Flammen stand …

»Lithairt!« , schrie sie in ihrer Not ein weiteres Wort der alten Sprache.

Aderyn spürte, wie sie ein Schauer durchrieselte. Visionen von neuer Macht, von Freiheit und Ungebundenheit, von Heilung für ihren geschundenen Körper, von Möglichkeiten über Möglichkeiten durchzuckten ihr Bewusstsein im Bruchteil eines Augenblicks.

Ein Kristalltor!

»Wo ist es?«, verlangte sie nur zu wissen. »Sag es mir!«

»Der … Monolith …«

»Der Stein der Worte?«

»Ja!«

»Hast du deshalb die Runen entfernt? War dies das Geheimnis, das du bewacht hast? Das du vor mir verbergen wolltest?«

Die Bestätigung der alten Frau war kaum noch zu verstehen. In einem letzten, heiseren Aufschrei gab sie ihr Geheimnis preis, letzte Hoffnung und abgrundtiefe Verzweiflung schwangen zugleich darin mit: Verzweiflung, weil sie wusste, dass sie versagt hatte und in ihrer Mission gescheitert war; und zugleich Hoffnung darauf, dass die Qual nun endlich enden möge …

Aderyn sah nach oben, wissend, dass die Tempeldiener mit Wasser gefüllte Schläuche bei sich hatten, mit denen sie das Feuer jederzeit löschen konnten, um Gwarshyras Folter damit zu beenden – doch Aderyn verweigerte das verabredete Zeichen.

Stattdessen wandte sie sich ab und ließ die Mutantin, die auf dem Thron saß und lichterloh in Flammen stand, dabei wie von Sinnen schreiend, einfach hinter sich zurück. Ein Lächeln huschte dabei über Aderyns Züge.

Es hatte sich bestätigt – wenn es darum ging, Furcht in die Herzen ihrer Gegner zu säen und sie an Körper und Geist zu quälen, waren ihre Fähigkeiten ungebrochen.

Es war ihr wahres Talent.