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RARK ANN SNOUSHDA

Balbok hatte recht behalten.

Auf der Südseite der Berge, von denen sie mühsam wieder herabgestiegen waren, herrschte Winter.

Je weiter der große Ork und seine Begleiter nach Süden vorgedrungen waren und die Berge hinter sich gelassen hatten, desto kälter war es geworden – und schließlich hatte es zu schneien begonnen.

Für die Wildwüchse und die oltorr’hai, die dergleichen nie gesehen hatten, war es ein seltsames Schauspiel, wie die weißen Flocken lautlos aus dem Himmel fielen. Balbok erklärte ihnen daraufhin, was Rammar auch ihm erklärt hatte – dass Schneeflocken die Späne waren, die abfielen, wenn Gulz der Schlächter seinen saparak schärfte. Die Gefährten schien das nicht ganz zu überzeugen, aber sie widersprachen auch nicht, und durch eine sich zunehmend weiß färbende Landschaft setzten sie ihren Marsch fort. Nahrung zu finden wurde nun immer schwieriger. Echsen oder andere Kleintiere waren in dieser Gegend nicht mehr anzutreffen, Beeren, Moos und Flechten waren alles, was auf dem kargen Speiseplan stand. Ein von zottigem Fell bewachsenes Tier, das so unvorsichtig war, ihren Weg zu kreuzen, fand ein jähes Ende, als Balbok seine Axt danach warf – und füllte die Mägen der Gefährten für einige Tage.

Doch der karge Proviant war nicht das einzige Problem, das dem Ork und seinen Begleitern zusetzte. Auch das veränderte Klima machte ihnen zu schaffen. Die Reittiere waren die Ersten, die dies zu spüren bekamen. Solange es nur der Wind gewesen war, der beständig von Südosten wehte, hatten die Echsen der Kälte noch getrotzt. Doch je mehr das Land in Schnee und Frost versank und sich dichter Nebel darüberbreitete, desto träger wurden ihre Bewegungen. Anfangs dachten die Gefährten, dass es an mangelndem Futter oder den Strapazen der langen Reise läge, aber auch der Herzschlag der Kreaturen verlangsamte sich – und schließlich brach das erste Tier unter seinem Reiter zusammen und verfiel in eine rätselhafte Starre. Es war nicht tot, denn es atmete noch, aber es schlief auch nicht, denn es ließ sich nicht wecken, und der Blick seiner Reptilienaugen war ziellos und leer.

Schon bald ging das zweite Tier nieder und kurz darauf noch ein drittes, und noch bis zum Abend jenes düsteren Tages waren alle Reitechsen in jene totenähnliche Starre verfallen, sodass Balbok und seine Gefährten keine andere Wahl hatten, als ihren Marsch anderntags zu Fuß fortzusetzen.

Weit kamen sie jedoch nicht.

Der Nächste, dem die Kälte zu schaffen machte, war Gullwyn. Der Fischmann, dessen Heimat die Küsten und Seen des milden Nordens waren, zeigte dieselben Anzeichen von Trägheit, die auch die Reitechsen an den Tag gelegt hatten: Seine Bewegungen verlangsamten sich, und seine Kräfte ließen nach, und mit jedem Fuß, den sie weiter nach Süden setzten, schien es schlimmer zu werden.

Gerüchte begannen unter den acht verbliebenen Soldaten um sich zu greifen.

Dass es gute Gründe dafür gebe, warum nie einer der Ihren das Land jenseits des Gebirges betreten habe; dass ein Fluch darauf laste, den der Drachenkaiser selbst nicht lösen könne, und ein Ork schon gar nicht; und dass sie alle zum Untergang verurteilt wären, wenn sie weiterzogen.

Balbok hörte sie murren, und ihm war klar, dass er als Anführer der Gruppe etwas unternehmen musste – aber was sollte er tun?

»Umbal« , hörte er es in seinem Ohr plärren, als ob ein kleiner Rammar auf seiner Schulter säße und ihm ins Gewissen redete, »lass dir das nicht gefallen! Wenn du nicht schleunigst etwas dagegen tust, werden die Schimmelinge anfangen zu meutern, und am Ende wirst du es sein, der mit durchschnittener Kehle im Schnee liegt! Greif zum saparak, und erschlag sie alle, ehe sie dich erledigen …«

Balbok nickte – der kleine Rammar in seiner Vorstellung hatte nicht unrecht. Wie ein altes orkisches Sprichwort besagte, war Angriff die beste Verteidigung.

Andererseits …

Die oltorr’hai hatten sich freiwillig für diese Mission gemeldet, und bislang hatten sie ihm treu zur Seite gestanden – jedenfalls sehr viel treuer als ein gewisser Bruder. Sie hatten nur Angst, das war alles. Und gegen Angst, das wusste jeder Ork, gab es nur ein Rezept.

Nämlich eine gute Geschichte …

»Douk« , sagte Balbok und wandte sich kopfschüttelnd zu seinen Gefährten um, »das ist kein Fluch, der auf diesem Land liegt.«

»Was soll es denn sonst sein?«, fragte jetzt sogar Evan, der gemeinsam mit Drel den armen Gullwyn stützte.

Balbok hielt inne. »Habe ich euch je die Geschichte von Borsh dem Stinkfisch erzählt?«

»Nein«, erwiderte Evan kopfschüttelnd. »Was war mit ihm?«

»Also, Borsh der Stinkfisch schwamm in Luraks Pfuhl herum. Das gefiel Lurak gar nicht, denn bald begann der ganze Pfuhl, nach Borsh zu stinken – und mit ihm auch jeder einzelne Ork, der aus dem Pfuhl herauskroch, als er geboren wurde. Also nahm Lurak Borsh und warf ihn ins duuchg-mur, hoch oben im Norden, wo der Nurwinter herrscht.«

»Bislang gefällt mir die Geschichte noch nicht sonderlich«, sagte der Hauptmann der Soldaten etwas ratlos. »Und weiter?«

»Na ja, eine Weile schwamm Borsh der Stinkfisch im eiskalten Wasser herum«, fuhr Balbok fort, »aber dann verließen ihn plötzlich seine Kräfte. Er erstarrte und ging unter.«

»Genau wie Gully«, stellte Evan jetzt fest.

Drel fiepte zustimmend.

»Zum Glück fand Gonz der Fresssack den armen Borsh und nahm ihn mit«, berichtete Balbok mit belehrend erhobenem Klauenfinger weiter. »Und wisst ihr was? Kaum schwamm Borsh wieder in wärmerem Wasser, war er ganz der Alte und stank fröhlich vor sich hin.«

»Wie kann das sein?«, fragte der Hauptmann.

»Es lag an seinem Blut«, erklärte Balbok achselzuckend. »Es war nicht warm wie unseres, sondern kalt – und als er dann auch noch ins eiskalte Wasser fiel, war es um ihn geschehen.«

»Und du meinst, bei den Echsen war es genauso?«, fragte Evan zweifelnd. »Und auch bei Gullwyn?«

»Korr .« Balbok nickte.

»Was für eine dämliche Geschichte«, beschwerte sich der Soldat. »Die ist ja noch unglaubwürdiger als die von den Spänen des saparak

Balbok zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid«, meinte er, obwohl Rammar ihm zigmal eingeschärft hatte, dass sich ein Ork aus echtem Tod und Horn niemals entschuldigte. »Eine bessere Erzählung habe ich nicht auf Lager.«

»Und eine Ahnung, wohin wir gehen sollen, hast du leider auch nicht«, konterte der Hauptmann, der auf den Namen Vigoras hörte. »Sieh dich doch nur einmal um, Balbok! Überall ist Nebel und Eis, man kann kaum die Hand vor Augen erkennen – wie willst du uns da führen? Noch dazu, wo wir nur noch zu Fuß gehen können und einer nach dem anderen zusammenbricht?«

»Wie gesagt, das liegt nur an Gullys kaltem Blut«, beharrte Balbok. »Aber wenn ihr mir nicht glauben wollt, dann kehrt um. Ich werde allein weitergehen.«

»Du … entlässt uns aus deinen Diensten?«

»Korr .« Balbok nickte und senkte den Blick. »Wenn Rammar dabei wäre, hätte er schon längst alles hingeschmissen. Und ihr seid ja nicht mal meine Brüder, also …«

»Aber wir sind deine Freunde«, fiel Evan ihm ins Wort. »Wir bleiben bei dir, großer Ork, egal, was geschieht.«

Drel fiepte wieder, sogar Gully blubberte träge.

»Und du, Hauptmann?«

Vigoras antwortete nicht sofort. Ein Moment der Stille trat ein, die schwer und drückend war im dichten Nebel.

»Wenn wir weitergehen, werden wir uns verirren und elendig erfrieren«, sagte der Offizier leise. »Ihr alle kennt mich und wisst, dass ich kein Feigling bin. Ich habe an eurer Seite im Widerstand gegen die Ewigen gekämpft und später gegen die Schwarzen Garden. Ginge es darum, mein Leben im Kampf für den Kaiser zu geben, so würde ich keinen Augenblick zögern – doch hier, mitten im Nirgendwo, wäre es ein sinnloses Opfer. Ich fürchte, dass du dich geirrt hast, Balbok. Hier draußen gibt es nichts als Eis und Tod. Sollte Aderyn tatsächlich überlebt und sich hierhergeflüchtet haben, so hat sie in dieser weißen Wüste ihr Ende gefunden. Genau wie der Stinkfisch, wenn er nicht von diesem Fresssack entdeckt worden wäre. Und das ist es, was ich dem Kaiser berichten werde. Leb wohl, Balbok.«

Balbok erwiderte nichts. Er hob nur die Hand zum Abschied, als sich die Soldaten formierten. Evan und Drel taten es ihm gleich, und dann setzte sich der Trupp auch schon in Bewegung. Eine Marschordnung gab es längst nicht mehr, es war ein versprengter, erschöpfter Haufen, den Hauptmann Vigoras anführte und der schon nach wenigen Schritten im dichten Nebel verschwand.

Balbok seufzte schwermütig.

Alle verließen ihn – zuerst Rammar, nun Enoks Soldaten. Wahrscheinlich war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Wildwüchse ihm den Rücken kehren und er ganz allein sein würde. Vielleicht, sagte er sich, hatte sein Bruder ja doch recht gehabt, und er war ein dämlicher umbal  …

Achselzuckend wandte er sich um und setzte sich in entgegengesetzter Richtung in Bewegung … aber weit kam er nicht. Schon nach wenigen Schritten prallte Balbok gegen ein Hindernis.

»Was …?«

Fluchend rieb er sich mit einer Klaue den schmerzenden Rüssel, während er mit der anderen vorsichtig umhertastete – um endlich festzustellen, dass sich vor ihm eine Wand befand. Sie war halb durchsichtig und dazu von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, sodass sie im Nebel nicht zu sehen gewesen war – dafür allerdings umso deutlicher zu spüren, wenn man dagegenrannte.

»Das … ist eine Mauer«, stellte Evan fest, »eine Mauer aus Eis. Wie hoch sie wohl sein mag? Und wie weit sie wohl reichen mag …?«

»Keine Ahnung«, gestand Balbok, wobei er den Kopf in den Nacken legte – doch die Mauerkrone war nicht zu erkennen, verlor sich irgendwo über ihm im Nebel. »Mich würde mehr interessieren, wer sie gebaut hat – und was sich auf der anderen Seite befindet.«

Drel pfiff eine Frage, worauf auch Evan und selbst der halb weggetretene Gullwyn Balbok erwartungsvoll ansahen.

»Korr«, bestätigte der Ork daraufhin nickend. »Ich denke, dass es das ist, wonach wir gesucht haben.«

»Dann sollten wir versuchen, den Eingang zu finden«, schlug Evan vor.

»Korr«, wiederholte Balbok, während er merkte, wie sich seine Nackenborsten sträubten und ihn ein unangenehmes Gefühl beschlich … nämlich das Gefühl, von verborgenen Augen beobachtet zu werden …

»Braucht ihr beim Suchen Hilfe?«

Die Stimme, dumpf und fremdartig im dichten Nebel, ließ Balbok herumfahren, seine Rechte zuckte zum Griff des saparak  – doch es war kein Feind, der vor ihm stand, sondern kein anderer als Hauptmann Vigoras, gefolgt von seinen Leuten. Sie waren offenbar umgekehrt.

»Wir hörten eure Stimmen und nahmen an, dass etwas passiert sei«, erklärte der Offizier. Was von seinem blassgrünen Gesicht zwischen dem Helm und dem Kragen seines Umhangs zu sehen war, grinste breit.

»Es ist ja auch etwas passiert«, bestätigte Evan. »Die Expedition hat ihr Ziel erreicht.«

»Das da?« Vigoras deutete auf die Mauer, die sich schemenhaft im Nebel erhob.

»Korr , das ist es«, bestätigte Balbok.

»Bei … Borsh dem Stinkfisch«, murmelte der Hauptmann. Sein Zögern währte nur einen Augenblick. »Männer«, befahl er dann, »schwärmt aus und sucht nach einer Pforte oder einem Eingang, damit wir …«

»Vielleicht müssen wir das gar nicht«, fiel Evan ihm ins Wort und deutete auf Drel, der bereits seine hölzernen Glieder an der eisigen Wand emporranken ließ und so für seine Gefährten eine Kletterhilfe errichtete.

Balbok lächelte dankbar und schickte sich an, der Erste zu sein, der die eisige Wand bestieg – doch in diesem Moment beschlich ihn erneut das Gefühl, dass jede seiner Bewegungen von Augen verfolgt wurde, die sich irgendwo in Nebel und Eis verbargen. Und diesmal waren es ganz sicher nicht die Augen von Hauptmann Vigoras und seinen oltorr’hai .

Sondern etwas ganz anderes …