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SPOGG !

Die Orks gerieten ins Taumeln und hatten Mühe, sich auf den Beinen zu halten, als die Risse im Boden sich dehnten. Nur einen Lidschlag später begann sich das Eis nach oben zu wölben, und dann platzte es wie eine überreife Frucht.

Glitzernde Splitter wurden emporgeschleudert und gingen prasselnd nieder, sodass die Brüder sich mit den bloßen Armen davor schirmen mussten, während sie sich gleichzeitig auf dem wankenden Boden aufrecht zu halten suchten. Und durch die gezackte Öffnung, die mitten im Eis entstanden war, stieß ein bizarres Gebilde.

Es war eine Klaue – eine große, grässliche, von gepanzerten Schuppen besetzte Krallenhand!

Das Ding allein war schon furchterregend und mörderisch genug. Der Gedanke, dass an der Klaue noch ein ganzes uchl-bhuurz hängen mochte, versetzte Rammar in Panik. Entsprechend schrie er, dass seine Stimme sich überschlug, während er mit vor Schreck geweiteten Augen an dem bizarren Ding emporblickte – das im nächsten Moment wahllos um sich zu schlagen begann!

»Shnorsh!« , kreischte Rammar, als er einem wütenden Hieb nur um Haaresbreite entging. Er taumelte zurück, worauf er auf dem Eis ausglitt und auf den asar fiel. Daraufhin bildeten sich unter ihm nur noch mehr Risse im Eis.

Auch Balbok wurde um ein Haar ein Opfer der Klaue. Im letzten Moment gelang es ihm, sich darunter hinwegzuducken, ehe sie niederging und sich daranmachte, die Öffnung im Eis zu vergrößern und den Weg frei zu machen …

»Ich glaube, es ist ein drachga, Rammar!«, brüllte Balbok heiser. »Und er will raus …«

»Umbal, du merkst auch alles«, keuchte Rammar, der nicht mehr vom Boden hochkam – sobald er es versuchte, glitt er wieder aus. »Natürlich ist es ein Drache, was soll es denn sonst sein? Bormod der Enterich?«

»Dann hatte Aderyn recht …«

»Korr«, gab Rammar missmutig zu, während er erneut niederging. »Unser Geschrei hat ihn aus seinem Schlaf geweckt, und jetzt ist er stinkwütend.«

»Genau wie du, wenn ich dich wecke.« Balbok war plötzlich bei ihm und hielt ihm die Rechte hin, um ihn auf die Beine zu ziehen.

Rammar fackelte nicht lange.

Er war sich der Würdelosigkeit seiner Lage bewusst, aber lieber wurde er von seinem dämlichen Bruder auf die Beine gezogen als von einem drachga bei lebendigem Leib gefressen.

In der Zwischenzeit hatte die Klaue ihr Zerstörungswerk fortgesetzt. Eine zweite Klaue erschien, die sich am gezackten Rand einklammerte, dann ein gehörntes Haupt, riesig groß und grässlich anzusehen mit der schwarzen Panzerung, dem mörderischen Maul und den glühenden Augen wie aus einem Wirklichkeit gewordenen Albtraum.

Geradezu riesenhaft wuchs das Haupt des Drachen in die Höhe, auf einem schuppenbesetzten Hals thronend, der wiederum in einen mächtigen Körper überging. Die Klauen bildeten die Mittelglieder von Flügeln, die an dem Koloss klebten wie bei einem Vogel, der frisch aus dem Ei schlüpfte. Kaum hatte sich der Drache durch die Öffnung gezwängt, entfaltete er die ledrigen Schwingen und schlug damit. Dies entfesselte einen wahren Sturm in der Grube, der die Orks an den Rand zurücktrieb und sie dazu brachte, sich instinktiv aneinanderzuklammern aus Sorge, einer allein könnte womöglich verloren gehen.

Indem sie den Kopf in den Nacken warf und ein fürchterliches Gebrüll anstimmte, stemmte sich die schwarz gepanzerte Bestie vollends aus dem Eisloch. Die Hinterbeine erschienen. Und zuletzt ein langer geschuppter Schwanz, der mit fiesen Stacheln bewehrt über das Eis wischte – und den Orks dabei gefährlich nahe kam.

»Weg! Weg!«, rief Rammar heiser. In Ermangelung einer Waffe trat er nach dem Drachenschwanz. »Lass mich bloß in Ruhe!«

Der Kopf der Bestie flog herum.

Ihr Glutaugen erfassten die Brüder, stinkender Rauch wölkte aus ihren Nüstern.

Dann holte der Drache tief Luft.

»Shnorsh«, zischte Balbok.

»Er wird uns verbrennen!«, jammerte Rammar.

»Bruder …«, begann Balbok.

»Lass mich bloß in Ruhe«, kam es zurück, während sie sich noch immer fest aneinanderklammerten.

Im Rachen der Bestie konnten sie schon die Flammen züngeln sehen und waren überzeugt davon, dass es jeden Augenblick vorbei sein, dass sie als verkohlte Überreste enden würden.

Balboks letzte Gedanken galten dem kleinen Orkling, den er nun niemals richtig kennenlernen würde und der ohne arkor würde aufwachsen müssen. Niemand würde da sein, um dem Kind den ersten kleinen saparak zu schmieden. Niemand, dem es einen Zahn ausschlagen konnte, um seine Sammlung an Talismanen damit zu beginnen. Niemand, der ihm beibrachte, wie man anständig auf Orkisch fluchte …

Rammar dagegen hatte sich fest vorgenommen, in den letzten Augenblicken seines Lebens an gar nichts zu denken – doch er ertappte sich dabei, dass er stattdessen an seinen Bru…

»Was?«, machte der feiste Ork plötzlich und erstickte seinen vermeintlich letzten Gedanken im Keim. »Was ist denn jetzt …?«

Zu beider Überraschung hatte der Drache sie nicht geröstet. Tatsächlich schien sein Interesse an den Orks eher gering zu sein, denn er hatte sich von ihnen abgewandt und das mächtige Haupt erneut in den Nacken gelegt. Und als er im nächsten Moment einen gleißenden Flammenstrahl spuckte, galt er nicht den beiden Brüdern, sondern der hohen Kuppeldecke – deren Eis augenblicklich schmolz.

Eiszapfen lösten sich und stürzten zu Boden, schlugen wie Geschosse auf dem Grund der Grube ein, sodass sich Balbok und Rammar der nächsten Todesgefahr ausgesetzt sahen – doch noch ungleich schlimmer waren die Risse, die sich nun überall bildeten, nicht nur in Boden und Decke, sondern auch an den Wänden!

Wo die Oberfläche des Eises wieder zu Wasser wurde, wurde sie klar und durchsichtig, und man konnte die Kreaturen im Eis erkennen: Hunderte waren es, Drachen aller Arten und Größen, die dort in Starre gefangen waren – mehr, als Balbok und Rammar je zuvor gesehen hatten, und ganz sicher auch mehr, als sie jemals hatten sehen wollen!

Teils waren die Echsen in grotesken Verrenkungen begriffen, teils schienen sie inmitten der Bewegung erstarrt zu sein – mit ausgebreiteten Flügeln und aufgerissenen Mäulern, die Klauen erhoben wie kurz vor dem tödlichen Streich … Jahrtausende waren sie so im Eis gefangen gewesen, gebannt durch Margoks Fluch. Doch in diesem Moment begann das Leben in sie zurückzukehren.

Wohin man auch blickte, sah man rote Glut aufflammen, zahlreich wie Sterne am nächtlichen Himmel – es waren die Augen der Bestien, in die plötzlich wieder Leben kam. Und mit dem feurigen Lodern in ihren Augen schien auch der Rest der Kreaturen aus der Starre zu erwachen. Eis ging zu Bruch, gewaltige Scherben lösten sich und fielen in die Grube, wo sie in tausend Scherben sprangen. In einer Eruption glitzernden Frosts brach hier ein scheußliches Drachenhaupt aus dem Eis, dort eine weitere Klaue, hier ein geschuppter Arm, der sich zum Flügel entfaltete …

Es war wie eine Lawine, die in Gang gesetzt worden war, denn jede Bestie, die erwachte, schien wiederum weitere Drachen zu wecken. Überall splitterte das Eis und gab die mächtigen, uralten Kreaturen wieder frei. Das Heer, von dem Aderyn gesprochen hatte, erwachte – und es gab nichts, was Balbok und Rammar dagegen hätten unternehmen können.

Anfangs wollte es sich Rammar nicht eingestehen, aber dann wurde ihm klar, warum er vorhin nicht mehr von allein auf die Beine gekommen war. Und dass er sich wahrscheinlich nicht mehr aufrecht hätte halten können, wenn er sich nicht an seinem Bruder festgeklammert hätte.

»Rammar«, stöhnte Balbok, »merkst du es auch?«

»Was denn, Halbhirn?«

»Ich fühle mich … schwach.«

»Schmarren, das kommt dir nur so vor.«

»Aber ich … ich …«

Balbok konnte tatsächlich nicht mehr. Mit einem Stöhnen brach er in die Knie, und da Rammar nun nichts mehr hatte, worauf er sich stützen konnte, ging auch er unter dem Gewicht seines eigenen Körpers nieder, während das Inferno ringsum weitertobte.

Immer noch mehr Drachen erwachten zum Leben.

Die ersten hatten sich inzwischen vollständig aus dem Eis befreit. Sie streckten ihre Flügel, während sie sich an das Eis klammerten, schwangen sich in die von Wasserdampf dunstige Luft und flatterten unter der Kuppel umher, kreisten um den schwarzen Drachen, der zuerst erwacht war und nun mit mächtigem Flügelschlag aufstieg. Das Feuer aus seinen glühenden Lungen hatte bereits Löcher in die hohe Decke geschmolzen, fahler Himmel schimmerte hindurch.

»Das … das Albtraumweib muss recht gehabt haben«, stieß Rammar stöhnend hervor. »Unsere Energie, die Kraft unseres Zorns hat den drachga’hai wieder Leben eingeflößt … und je mehr von ihnen erwachen, desto weniger bleibt für uns selbst übrig.«

»Rammar«, klagte Balbok stöhnend. »Mir ist schon ganz elend! Ich glaube, ich kann schon Kurul sehen. Er ist unglaublich hässlich …«

»Das bin ich, du Trottel! Ich liege direkt neben dir!«

»Ach … so.« Balbok klang weder erleichtert noch betroffen. Dazu war er bereits zu erschöpft.

»Siehst du … was du uns wieder für einen bru’mill eingebrockt hast?«, fragte Rammar. Zu gerne wäre er in wildesten saobh verfallen. Doch ihm fehlte einfach die Kraft dazu.

»Korr«, bestätigte Balbok nur.

»Dann … gibst du zu … dass du … umbal bist?«

»Korr .«

»Warum nur … Schicksal … Bruder wie dich …?«

Mehr brachte auch Rammar nicht mehr hervor, allem Zorn zum Trotz. Die letzten Worte kamen ihm nicht mehr über die wulstigen Lippen, und es war ihm auch gleichgültig.

Die umgebenden Geräusche nahm der Ork nur noch gedämpft wahr, während er rücklings auf dem Boden lag. Die Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul, sein riesiger Wanst türmte sich wie ein Gebirge über ihm auf, während er hinauf zur Decke starrte und auf die Kreaturen, die unter heftigem Flügelschlag dort oben kreisten, Bestien mit glühenden Augen …

Sein Blick verschwamm ebenso wie der von Balbok, der neben ihm lag und nicht weniger erschöpft war – mit dem Unterschied, dass er immer wieder an das Kind denken musste.

»Aderyn«, hauchte er mit letzter Kraft, »darfst du nicht … unser Kind … nicht verdient …«

Eine Müdigkeit überkam ihn, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte, noch nicht einmal dann, wenn Zauberei im Spiel gewesen war. Sein Verstand tat es seinem Blick gleich und trübte sich ein, das Letzte, was er vor seinem geistigen Auge zu erkennen glaubte, war Aderyn die Garstige, wie sie das Kind davontrug und dabei hämisch lachte – in Wahrheit war es das Fauchen der Drachen, das nur noch wie aus weiter Ferne an Balboks Bewusstsein drang.

Dann ein grässliches, alles durchdringendes Bersten – und auch das dünne Eisplateau, auf dem die beiden Orks lagen, zerbarst in einer Kaskade glitzernder Splitter.

Die bodenlose Tiefe ließ den Brüdern keine Chance. Kopfüber verschlang sie sie, und die beiden schrien aus Leibeskräften, brüllten ihren letzten verbliebenen Atem hinaus in das ewige Eis und in den Abgrund, der sie verschlang …