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KROL BRAITHARHAI

Sie waren befreit.

Mehr noch, sie waren entfesselt.

Als Aderyn-Mathora die geflügelten Gestalten betrachtete, wie sie aus der Tiefe emporstiegen und dabei noch die letzten Reste geborstenen Eises von ihren gepanzerten Körpern schüttelten, erfüllte sie eine Euphorie, wie sie sie lange nicht gekannt hatte. Sie war selbst dabei gewesen, damals, als das Kristallschiff mit den Verstoßenen in Anwar gelandet war, hatte zusammen mit Curran und seinen anderen Getreuen der Übermacht der Drachen ins Auge geblickt und damit der drohenden Vernichtung. Damals hatte sie den Feuerechsen nur den Tod gewünscht – heute jedoch, Zeitalter später, erfüllte ihr Anblick sie mit grimmiger Genugtuung. Denn diese Kreaturen waren ihre Rückkehr in die Welt, der Schlüssel zu ihrer Rache …

Auf dem aus Eis geformten Vorsprung stehend, der weit in das gewaltige Rund der Höhle hinausragte, betrachtete sie die furchterregende Vielfalt, die sich entlang der senkrecht ansteigenden Wände an den von Frost überzogenen Fels klammerte – Drachen unterschiedlicher Größe, vom mächtigen Lindwurm bis zum vogelähnlichen Wyvern. Hornplatten und gepanzerte Schuppen glänzten im Licht der Morgensonne, das durch die dünne Eiskuppel einfiel, überall flatterten ledrige Flügel, und lange Drachenschweife wanden sich schlangengleich.

Das Fauchen, das die Luft erfüllte und durchsetzt war vom Geruch von Brand und Schwefel, hatte Aderyn auch damals gehört, vor undenklich langer Zeit.

Damals hatte es ihr Angst gemacht.

Jetzt war es, als bräche ihr eigener Durst nach Rache sich darin Bahn …

»Ihr hattet recht, Mathora, in jeder Hinsicht«, säuselte Kelon, der an ihrer Seite stand, nun vollends wieder zu jenem Jasager und Speichellecker verkommen, den sie stets so verachtet hatte. »Die Drachen haben nur darauf gewartet, befreit zu werden.«

Aderyn nickte nur.

Sie wusste besser als jeder andere, was es bedeutete, gefangen zu sein … gefangen von Regeln, gefangen von Feinden, gefangen in einem Körper, der langsam zerfiel. Sie war die Verheißene – und nicht nur jene der Nevathani. Sie war auch die Befreierin der Drachen, ihre Mathora …

»Hört mich an«, rief sie mit lauter Stimme hinaus, wissend, dass es völlig gleichgültig war, welcher Sprache sie sich bediente. Die Feuerechsen verständigten sich auf andere Weise, vermochten in die Gedanken von ihresgleichen ebenso zu blicken, wie sie in Aderyns Gedanken zu blicken vermochten.

Jedenfalls soweit sie es zuließ …

»Lange ist es her, dass unser gemeinsamer Feind Margok euch ins Eis verbannt, dass er euch mit einem Fluch belegt hat, der bis zum heutigen Tag andauerte. Ein ganzes Zeitalter lang wart ihr gefangen, unfähig, euch zu bewegen, aber doch bei Bewusstsein, die mächtigsten Kreaturen Erdwelts dazu verdammt, der Geschichte tatenlos beizuwohnen. Welch eine Verschwendung … welch ein Unrecht!«

Das Fauchen verstärkte sich, ging in wütendes Brausen über in einem von Schwefelgestank durchsetzten Sturm der Entrüstung. Aderyn konnte nicht nur die Gegenwart der Echsen spüren, sondern auch den todbringenden Hass, der jede Faser von ihnen erfüllte …

»Heute endet die Zeit der Gefangenschaft!«, fuhr sie mit lauter Stimme fort, obwohl jedes einzelne Wort sie spürbar Lebenskraft kostete, »ich, Mathora, habe euch befreit! Ich war es, die Margoks Bann brach und euch aus der Gefangenschaft im Eis erlöste! Die eure Lungen nach einem Zeitalter eisiger Kälte wieder mit Wärme und Feuer gefüllt hat! Doch ich will dafür keinen Dank. Denn ich bin nicht nur eure Befreierin, ihr Söhne und Töchter des Feuers – ich bin auch diejenige, die aus eigener Erfahrung weiß, wonach ihr euch nach all den Jahren der Dunkelheit und der Gefangenschaft am allermeisten sehnt … Es ist das, wonach auch mein Herz dürstet, meine Kinder, nämlich Rache … Rache an jenen, die euch und mir all dies angetan haben!«

Wieder wurde ein Fauchen laut, Aderyn konnte die Zustimmung, die ihre Worte fanden, fast körperlich spüren. Es war, als würde der Zorn der Drachen, der bislang noch diffus und allgemein gewesen war, allmählich Gestalt annehmen. So als würde Aderyn einem Schmied gleich an einem Amboss stehen und ein Schwert formen – mit dem Unterschied, dass nicht glühender Stahl, sondern lodernder Hass ihr Werkstoff war.

»Jener, der dies einst bewirkte und euch zu langer Haft verdammte, ist nicht mehr unter uns. Er wurde besiegt, schon vor langer Zeit, so wie die Geister, die ihm folgten. Doch die einst in das Land kamen, in das ihr euch geflüchtet hattet, und es euch wegnahmen, sind in gewisser Weise noch immer hier! Ihre Nachkommen und Erben bevölkern eure stolze Stadt, die einst den Namen Taras Caron trug und jetzt Dragana heißt, wie zum Hohn nach eurer großen Königin benannt …«

»Herrin«, raunte Kelon ihr von der Seite zu, hörbar von Unruhe ergriffen, »haltet Ihr es für klug, den Zorn der Bestien auf das Elfengeschlecht zu wecken? Immerhin haben auch wir ihm einst angehört …«

»Glaub mir, mein ewig zaudernder Archivar, da braucht nichts geweckt zu werden, nur in Bahnen gelenkt«, beschied Aderyn ihm selbstherrlich. »Dort in Dragana«, erhob sie abermals ihre Stimme, »sind meine Feinde, und ich schwöre, wenn ihr mir bei der Rache an meinen Feinden helft, so helft ihr euch zugleich selbst. Denn mit mir als eurer Anführerin werdet ihr nicht nur wieder über den südlichen Kontinent herrschen wie einst vor Margoks Bann – sondern schon bald darauf über ganz Erdwelt, so wie einst, ehe die Schmalaugen kamen!«

Das Fauchen wurde zum Orkan.

Flammen züngelten aus den Schlünden der Echsen, deren Zahl nun nicht einmal mehr zu schätzen war, an den umliegenden Wänden war kaum noch Eis oder Fels zu erkennen. Der Vergleich mit einem Vulkan drängte sich Aderyn auf, in dessen Innerem sich das flüssige Magma ansammelt und seinem Ausbruch entgegenfiebert – nicht viel anders verhielt es sich mit den Drachen. Die Öffnungen, die sie mit ihrem Feuer in die Kuppeldecke schmolzen, wurden immer größer. Bald schon würde die wiedererweckte Drachenbrut aus ihrem Gefängnis entfliehen, hinaus in die Welt – bis dahin musste es Aderyn gelungen sein, sich zu ihrer Anführerin aufzuschwingen!

Die Zeit drängte – doch bedauerlicherweise deuteten die Signale, die Aderyn empfing, in eine andere Richtung. Zwar spürte sie, dass ihre Worte die Echsen erreichten – aber auch, dass sie nicht das bewirkten, was Aderyn beabsichtigte.

Hört auf sie, sie wird uns führen, sagten einige wenige.

Nein, folgt ihren Plänen nicht, widersprachen die anderen, und diese waren sehr viel zahlreicher. Sie ist eine von ihnen, eine Elfin, wir können es spüren …

»Mathora«, sagte Kelon an ihrer Seite. Der Archivar bemerkte den wachsenden Widerstand ebenfalls und wurde zusehends ängstlicher.

Aderyn sah ihn an, dann blickte sie zu Taithas und den Tempeldienern, die hinter ihr standen. Ihr war klar, dass sie keinen von ihnen würde schützen können, wenn der Zorn der Feuerechsen über sie hereinbrach, so wie sie auch sich selbst nicht würde schützen können … die Nevathani waren also ohnehin verloren. Aber sie, Aderyn, hatte noch eine Wahl.

»Es ist wahr«, antwortete sie, als sie spürte, wie der Zorn der Drachen überzukochen drohte, »ich selbst bin eine Elfin gewesen, ich leugne es nicht – aber ich bin es nicht mehr!« Sie wandte sich zu den Ammen um, entriss ihnen kurzerhand das Kind und hielt es mit den dürren Armen hoch, was sie an den Rand ihrer Kräfte brachte. »Dies ist mein Kind!«, schrie sie dazu, »unter Schmerzen zur Welt gebracht! Es ist ein Unhold, wie ihr seht – von meinesgleichen wurde ich dafür bitter bestraft!«

»Mathora, was tut Ihr?«, fragte Kelon, der Unheilvolles ahnte. »Was, bei den alten Königen, sagt Ihr da?«

»Man hat mich verstoßen für das, was ich bin«, fuhr Aderyn unbeirrt fort, »so wie man euch verstoßen hat. Zu meinem Volk habe ich keine Verbindung mehr, es hat Erdwelt längst verlassen!«

Lüge! Alles Lüge!, geisterte es reihum. Traut ihr nicht! Sie will uns täuschen wie einst der Dunkelelf …

»Das ist nicht wahr«, widersprach Aderyn entschieden – doch die unbändige Wut, die ihr entgegenschlug, sagte ihr, dass sie keine Chance gegen den Blutdurst hatte, der sich bei den Bestien nun Bahn brach und den sie schlicht unterschätzt hatte.

Worte genügten nicht mehr.

Nur noch Taten konnten sie retten.

Und Aderyn-Mathora traf eine Entscheidung.

»Ich verstehe euer Misstrauen und euren Zorn«, versicherte sie mit lauter Stimme, die sie ihre letzte Kraft kostete. »Doch ich bin nicht die, die ihr vor euch zu haben glaubt, und ich werde es euch beweisen. Seht her!«

Und mit einer Bewegung, die so unerwartet war, dass Kelon neben ihr nicht damit rechnete, fuhr sie herum und stieß ihren einstigen Berater und jetzigen Archivar von der Plattform.

»Für euch, meine Kinder!«, rief sie dazu.

Kelon stieß einen Schrei aus. Mit den langen Armen rudernd, rang er um sein Gleichgewicht, jedoch vergeblich. Im nächsten Moment verschlang ihn bereits der Abgrund, in den der Archivar kopfüber stürzte.

Sehr tief fiel er allerdings nicht.

Zwei Feuerechsen, Wyverne mit kurzen Flügeln, schossen auf ihn zu, die mörderischen Mäuler weit aufgerissen, und bekamen ihn fast gleichzeitig zu fassen. Einen Augenblick lang wogte der Streit zwischen den Bestien, dann wurde Aderyns Archivar, einst Mitglied im Rat der Ewigen, förmlich in der Luft zerrissen.

»Wie hungrig ihr sein müsst nach all der Zeit«, rief Aderyn voller Genugtuung. »Dies ist mein Geschenk an euch«, fügte sie hinzu, wobei sie auf Taithas und die Tempeldiener deutete, die entsetzt zurückwichen.

»Mathora!«, stieß der Hohepriester hervor.

»Ich erfülle die Prophezeiung – ich kehre nach Hause zurück«, beschied sie ihm, um sich dann wieder den Bestien zuzuwenden, das Kind in ihren Armen. »Sie gehören euch, meine geliebten Drachen!«, rief sie aus.

Einen Augenblick lang herrschte lähmendes Entsetzen aufseiten der Nevathani. Taithas sandte Aderyn einen letzten, desillusionierten Blick, für den sich Aderyn mit einem Lächeln revanchierte – dann fuhr er herum und wandte sich zur Flucht, genau wie seine Artgenossen.

Im nächsten Moment brach ein wahres Inferno los.

Wie auf ein stummes Kommando hin stürzten sich die Drachen auf die Mutanten, die ihnen nichts entgegenzusetzen hatten. Die Wachen büßten Gliedmaßen und Häupter ein, noch ehe sie auch nur dazu kamen, sich zur Wehr zu setzen, oder endeten in verzehrendem Feuer. Zugleich entbrannte auch in allen anderen Teilen von Ías Caron die Jagd auf die Nevathani … auf lebendiges Fleisch, das die Echsen so lange entbehrt hatten.

In Aderyn breitete sich Genugtuung aus.

Wissend, dass sie den Zwist für sich entschieden hatte, atmete sie auf, wähnte sich einen Schritt näher am Ziel ihrer Wünsche – als ein dunkler Schatten auf sie fiel.

Entsetzt fuhr sie herum und blickte hinauf – um jenen rabenschwarzen Drachen zu erblicken, der als Erster aus dem Eis gekommen war. Aderyn hatte angenommen, dass es sein Schrei gewesen war, den sie aus der Tiefe vernommen hatte, ein Klagen aus ferner Vergangenheit – nun war er zurück, hier und jetzt, und kam mit ausgebreiteten Schwingen auf sie zu, den Schlund weit aufgerissen.

Aderyn stand wie erstarrt, war unfähig, sich zu bewegen. Zugleich hatte sie das Gefühl, sich im Blick der rot glühenden Drachenaugen zu verlieren …