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TRURK !

Die Befürchtungen erwiesen sich als wahr.

So verheerend die Verluste auch gewesen sein mochten, die Aderyns Heer am Vortag erlitten hatte, und so viele ihrer Drachen auch von den Geschossen der tirgaslanischen Kanoniere zerfetzt worden sein mochten – beim ersten Licht des Tages warf die Feldherrin ihre fliegenden Krieger erneut in die Schlacht.

Noch immer waren es viele.

Welle um Welle kam über den Grat der Roten Berge, hinter dem sich die Feuerechsen offenbar über Nacht verkrochen hatten, nur um jetzt von Neuem anzugreifen. Schwarz und furchterregend zeichneten sich ihre Silhouetten gegen den morgengrauen Himmel ab. Das Rauschen ihrer Schwingen erfüllte die Luft und nahm immer noch zu, einem Sturmbrausen gleich, als die Drachen sich der Stadt näherten. Verführt von den Versprechungen ihrer neuen Anführerin und getrieben von Rachsucht, hielten sie auf Dragana zu, ungeachtet der Flotte von Luftschiffen, die nördlich der Stadt hoch am Himmel hing und deren Kanonen nur darauf warteten, sich erneut mit donnernder Glut zu entladen …

»Diese dämlichen Viecher«, ereiferte sich Rammar, der zusammen mit Balbok, Enok und ihren übrigen Gefährten hinter einer steinernen Brustwehr stand und den Angriff der Drachen erwartete. »Wie blöd kann man denn sein? Haben die gestern denn nichts gelernt?«

»Diese Kreaturen waren ein ganzes Zeitalter lang im Eis gefangen«, entgegnete Beeka mit Alannahs Weisheit. »Sie sind blind vor Hass und vor Blutdurst halb dem Wahnsinn verfallen – und damit Wachs in Aderyns Händen.«

»Trotzdem«, beharrte Enok, »das sind keine willenlosen Tiere, die nur ihren Instinkten folgen. Sie müssen die Schiffe am Himmel doch sehen. Und sie wissen, was gleich geschehen wird.«

»Korr«, meinte Rammar mit breitem Grinsen. »Ko douk uurk, fairiash’dok, heißt es bei uns.«

»Und das heißt?«, fragte Gullwyn.

»Wer nicht hört, der fühlt«, übersetzte Balbok grimmig. Der große Ork hatte seinen Helm in die Stirn geschoben und den Unterkiefer angriffslustig vorgereckt. Nun, da Rammar und er wieder versöhnt waren und an einem Strang zogen, war er mehr als bereit, sich dem Feind zu stellen – und wenn die Schlacht geschlagen war und Aderyn keine Drachen mehr vorschicken konnte, würden die Ork-Brüder sich auf die Suche nach ihr und dem Kind machen und es aus Aderyns garstigen Klauen befreien …

Anders als beim ersten Angriff hatten die Bogenschützen Draganas erst gar nicht mehr Aufstellung genommen. Ohnehin hatten ihre Pfeile kaum Wirkung gezeigt. Stattdessen hielten sich die Verteidiger hinter Zinnen und unter Hurden verschanzt, um den Drachen im Nahkampf die Stirn zu bieten – denn dazu würde es kommen, wenn die Echsen erst begriffen, dass die Schlacht am Himmel für sie nicht zu gewinnen war.

Die Kanonen der Tirgaslaner würden die Feuerechsen dazu zwingen, entweder zu fliehen oder die Deckung von Türmen und Mauern aufzusuchen. Und wenn sie das taten, würden die Speere, Äxte und Klingen der Draganer ihnen ein Willkommen bereiten, das sie so rasch nicht vergessen würden.

So jedenfalls lautete der Schlachtplan, und niemand sah einen Anlass, daran zu zweifeln.

Die erste Welle der Drachen war heran!

Genau wie am Vortag fielen die Echsen in steilem Sturzflug aus dem Himmel und stießen auf die Mauern der Stadt herab. Katapulte schleuderten ihnen Felsbrocken entgegen, von denen jedoch die wenigsten trafen, nur Herzschläge später waren die Bestien durchgebrochen und überzogen Mauerkronen und Turmkränze wie tags zuvor mit feuriger Glut.

Die Verteidiger hatten eine Nacht lang Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten, und waren diesmal darauf gefasst. Sie suchten Zuflucht unter mit nassen Tierhäuten bespannten Schilden, die dem Feuer zumindest bei den ersten Angriffen trotzen würden – sehr viel mehr würde es dank der Verbündeten aus Tirgaslan ohnehin nicht geben.

In diesem Moment erreichte die zweite Welle die Stadt.

Die Zahl der Echsen, die den äußeren Verteidigungsring mit Feuer und Glut bewarfen, verdoppelte sich von einem Augenblick zum anderen, und allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz gerieten die hölzernen Aufbauten eines Turmes doch in Brand. Von ihrem hohen Posten aus konnten die Gefährten sehen, wie dunkler Rauch zum Himmel aufstieg.

»Was ist da los?«, fragte Rammar ungeduldig. »Sollten Larca und seine Donnerer nicht langsam eingreifen?«

»Sie werden noch auf den geeigneten Moment warten«, erwiderte Beeka, »bis die Drachen alle in Kämpfe verw…«

Ein zweiter Turm ging in Flammen auf und fast gleichzeitig noch ein weiterer. Und als auf einem der Wehrgänge Behälter mit flüssigem Pech Feuer fingen, gab es eine Explosion, die eine Bresche in die Stadtmauer schlug und Kämpfer und Material nach allen Richtungen schleuderte …

»Ich würde sagen, der geeignete Moment wäre jetzt«, knurrte Rammar.

»Allerdings.« Enok warf einen gehetzten Blick zum Himmel, wo die Flotte von Tirgaslan noch immer stand, unbewegt wie eine schwebende Mauer – aber keinerlei Anstalten machte, in den Kampf einzugreifen.

»Was ist da los?«, fragte nun auch Balbok. »Sind die eingeschlafen?«

»Kaum, bei dem Krach«, frotzelte Rammar bitter, als eine weitere Explosion krachte – die Donnerrohre auf den Schiffen allerdings schwiegen weiter beharrlich.

Mittels Handzeichen verständigte sich Enok mit den Generälen, doch auch sie wussten nicht, was das Zögern zu bedeuten hatte. Immer noch mehr Drachen hatten sich in der Zwischenzeit auf die Stadt gestürzt, zogen im Tiefflug über Dächer und Kuppeln hinweg und setzten viele davon in Brand. Die Zahl der Feuer war schon jetzt kaum noch zu überschauen, dichter Rauch stieg auf, so als wollte er sich barmherzig über das Bild der Zerstörung breiten.

»Sie nähern sich dem Palast!«, rief jemand panisch.

Tatsächlich: Zwei Dutzend Feuerechsen hatten sich aus dem über der Stadt tobenden Chaos gelöst und hielten in einer keilförmigen Anordnung auf den Palast des Kaisers zu. Pfeilschnell flogen sie heran, die Schlünde bereits geöffnet, um lodernde Flammen daraus zu spucken.

»Köpfe runter!«, rief Balbok und hatte seine Pranken schon auf den Helmen von Enok und Beeka, drückte sie hinter die Brüstung, als mit infernalischem Rauschen ein ausgewachsener Lindwurm über sie hinwegflog. Die Schwingen hatte er weit ausgebreitet und stieß eine Feuerlanze aus seinen glühenden Lungen.

Für einen Moment wurde es gleißend hell, die Hitze fast unerträglich. Rammar, der sich zuletzt geduckt hatte, schrie heulend auf, als ihm die Nackenborsten versengt wurden. Eine Flammenwalze rollte am Hauptturm des Palasts empor, dann war der Drache schon wieder weg – doch die Bestie würde zurückkehren und wieder angreifen.

Und wieder …

»Wo bleiben die Milchgesichter?«, maulte Rammar, sich den schmerzenden Nacken reibend. »Nicht viel hätte gefehlt, und …«

»Seht nur!«, rief Balbok und deutete zum Himmel.

»Was denn? Haben diese Faulhirne sich endlich dazu entschlossen …?«

Der Rest von dem, was Rammar hatte sagen wollen, blieb ihm im Hals stecken wie ein Knorpel in einem Ranken Knochenbrot. Denn zwar hatte sich die Flotte von Tirgaslan nun in Bewegung gesetzt – aber ganz und gar nicht wie gewünscht!

Statt sich der Stadt zu nähern und endlich in das Kampfgeschehen einzugreifen, waren die Luftschiffe dabei zu wenden und nördlichen Kurs einzuschlagen …

»Bei den alten Königen!«, stieß Beeka hervor.

»Oh nein«, hauchte Enok.

Es klang beschwörend, beinahe flehend. Auf den Wehrgängen ringsum wurden entsetzte Schreie laut.

»Ihr elenden umbal’hai! «, brüllte Rammar aus Leibeskräften. Er sprang auf und wedelte mit dem im Morgenlicht blitzenden saparak , um auf sich aufmerksam zu machen. »Was, bei Narkods Hammer, macht ihr da …?«

Die Schiffe aus Tirgaslan setzten ihr Wendemanöver fort und entfernten sich Richtung Norden, so als gäbe es keinen Krieg und keine Drachen. Nun herrschte kein Zweifel mehr.

Enok war verraten worden.

Und seine Gefährten und sein ganzes Reich mit ihm.