Die Zeit schien träge zu verharren.
Blaue Blitze zuckten aus dem Schlund, der den Anschein erweckte, als ob ein gewaltiger Riss entstanden sei.
Wie tief dieser Riss war, wohin er führte oder was sich jenseits davon befand, wusste niemand zu sagen – doch mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen sahen die Orks und ihre Gefährten, was aus der Tiefe des Schlundes hervorkam.
Es war abermals ein Drache. Aber was für einer!
Mit ausgebreiteten Schwingen flog er zwischen den Blitzen hindurch, die ihn für Bruchteile von Augenblicken gleißend umhüllten.
»Ich glaub es nicht. Das … das ist Curran«, stellte Balbok fest, als er die rote Zeichnung der Schuppen erkannte.
»Er ist zurück«, stieß Beeka hervor, hoffnungsvoll und bestürzt zugleich.
Doch der einstige Drachenkaiser war nicht alles, was durch den Schlund kam und seinen Weg nach Erdwelt fand – denn etwas folgte ihm, das noch ungleich größer war, ein gewaltiges, von Blitzen umranktes Gebilde …
»Shnorsh!«, rief Rammar aus.
Es hatte den Anschein, als wäre ein Stern vom Himmel gefallen, so mächtig und gezackt und aus seinem Inneren heraus leuchtend war das, was aus dem Riss im Himmel drang … und vor den Augen der verängstigten, geschlagenen Bürger Draganas, die schon jede Hoffnung aufgegeben hatten, kam ein Kristallschiff der Elfen aus dem Schlund.
Woher es gekommen war, ob aus Vergangenheit oder Zukunft oder den Räumen jenseits der Sterne – niemand wusste eine Antwort darauf zu geben.
Doch es war hier, so wirklich und wahr wie die Drachen, die über der Stadt kreisten und sie mit flammendem Tod überzogen – und schon im nächsten Moment griff das Kristallschiff, dessen sternförmiger Rumpf und spitze Stacheln tatsächlich an einen strahlenden Himmelskörper erinnerten, in den ungleichen Kampf ein. Am Himmel schwebend wie die Luftschiffe aus Tirgaslan, jedoch ungleich majestätischer und ohne dass ein Ballon es dort oben halten musste, steuerte das Kristallschiff auf die Streitmacht der Drachen zu.
Blaue Blitze entluden sich aus den Stacheln, jenen nicht unähnlich, die aus dem Schlund gekommen waren, so als würden sie von derselben mysteriösen Kraftquelle gespeist – doch diese Lichtbogen waren sauber gezielt, und wann immer sie eine Feuerechse erfassten, fiel diese schwelend vom Himmel, eine dunkle Rauchspur nach sich ziehend, die Flügel brennend oder nur noch verkohlte Stümpfe.
Atemlos verfolgten die Bürger von Dragana das Schauspiel – dann brachen die ersten in Jubel aus, als sie begriffen, dass eine neue, mächtige Partei auf ihrer Seite in den Konflikt eingetreten war und die Drachen, die eben noch Furcht und Schrecken verbreitet hatten, nun ihrerseits das Fürchten lehrte.
Doch noch gaben die Echsen nicht auf!
Wütend darüber, dass jemand ihnen den sicher geglaubten Sieg streitig machen wollte, griffen sie das Kristallschiff an, das wie ein riesiger Stern über der Stadt schwebte. Von allen Seiten fielen sie darüber her, überzogen es mit der Glut ihrer Flammen – doch aus welchem rätselhaften, schimmernden Material das Schiff auch gefertigt sein mochte, es hielt der Hitze stand.
Die Drachen landeten daraufhin auf der Außenhülle und verkrallten sich darin, während sie sie mit Klauen und Zähnen zu beschädigen suchten. Tatsächlich gelang es ihnen hier und dort, einzelne Splitter aus der schimmernden Hülle zu reißen und gar einen der stachelförmigen Ausleger abzubrechen. Pforten öffneten sich daraufhin am Kiel und entließen weitere Kristallschiffe, die ähnlich gebaut zu sein schienen wie das große, jedoch kleiner und wendiger waren und nur einem einzelnen Krieger Platz bieten mochten. Indem sie mit blauen Blitzen um sich warfen, befreiten die Jäger die Außenhülle des Mutterschiffs von den Echsen, die sich wie riesige Blutegel dort festgesetzt hatten.
Dann, plötzlich, tauchte Curran auf! Mit wuchtigen Flügelschlägen setzte er sich an die Spitze der Kristalljäger und übernahm die Führung. Einer Speerspitze gleich bohrten sich die aus allen Rohren Blitze schießenden Boote in den Pulk des Drachenheeres.
Von der Ankunft des Kristallschiffs überrascht und aufgeschreckt, waren Aderyns Drachen eben dabei, sich neu zu formieren – doch daraus wurde nichts. Lichtblitze zuckten im dichten Rauch, und Feuerstöße flackerten, Dutzende von Feuerechsen fielen leblos vom Himmel. Hin und wieder stürzte auch ein Kristalljäger aus den Wolken und zerschellte am Boden zu flirrenden Splittern, doch ihre Zahl war gering im Vergleich zu den Verlusten, die das Heer der Drachen nun erlitt.
Das Schlachtenglück hatte sich gedreht.
Trotz der vielen Opfer, die sie zu beklagen hatten, und trotz der Tatsache, dass die halbe Stadt noch immer lichterloh in Flammen stand, gab es unter den Anwari nun wieder Hoffnung … die vage Aussicht, dass dieser Tag womöglich doch nicht der letzte in ihrer aller Leben sein würde.
Auch Balbok und Rammar jubelten, zusammen mit ihren Gefährten, mit denen sie auf der Brüstung ausgeharrt hatten – als plötzlich ein großer Schatten über ihnen auftauchte.
Alarmiert blickten die Brüder hinauf, Axt und saparak bereits abwehrbereit erhoben – doch es war Curran, der aus den Rauchschwaden herabsank. Mit den Hinterbeinen ließ er sich auf der Mauerkrone nieder und verharrte kauernd, die Flügel halb angelegt. Mit den glühenden Augen sah er auf sie herab.
»Mein Kaiser!«, rief Enok und verbeugte sich.
Das bin ich längst nicht mehr – und brauche es auch nicht mehr zu sein. Als mein Nachfolger hast du deine Sache mehr als gut gemacht, Enok, erster dieses Namens …
»Aber … ich habe Dragana an den Rand der Vernichtung gebracht!«, erwiderte Enok kopfschüttelnd. »Wie sollen meine Untertanen mir jetzt noch vertrauen?«
Sie kennen dich und wissen, dass du selbstlos und nach bestem Wissen gehandelt hast – dies ist die oberste Pflicht eines jeden Anführers, nicht mehr und nicht weniger. Ich hatte das einst vergessen, und sieh, was aus mir geworden ist. Doch für dich hege ich Hoffnung, mein Nachfolger und Erbe.
»Das also war es, was du noch tun wolltest«, meinte Balbok mit breitem Grinsen. »Hilfe holen …«
»Korr, das war doch klar«, behauptete Rammar. »Ich jedenfalls habe die ganze Zeit über nicht daran gezweifelt …«
So ist es, weiser Rammar, bestätigte der alte Drache. Von einem einsamen Berggipfel aus habe ich Kontakt mit jenem Volk aufgenommen, dem ich selbst einst angehörte, vor langer Zeit …
»Du meinst die Schmalaugen?« Rammar schnaubte. »Aber sie sind doch längst aus Erdwelt abgehauen!«
Das ist wahr. Doch obwohl sie weit entfernt weilen, können sie noch gerufen werden – geradeso wie ich nun zu euch spreche. Ich wusste nicht, ob sie nach all der Zeit und nach allem, was ich getan hatte, meine Rufe überhaupt hören würden, aber sie taten es.
»Und wie«, bestätigte Enok mit Blick auf ein weiteres Rudel Drachen, die mit brennenden Flügeln aus den Rauchwolken stürzten.
»Dann wird Dragana also nicht untergehen?«, fragte Beeka.
Curran schüttelte das mächtige Haupt. Nicht heute.
»Und Aderyn?«, fragte Balbok.
Deshalb bin ich gekommen. Unsere gemeinsame Feindin hat sich in die Berge zurückgezogen. Sie ist verblendet von Zorn und Hass, ich fürchte um die Sicherheit des Kindes …
»Wo ist sie?«, wollte Balbok wissen. Die Axt hatte er schon marschbereit auf der schmalen Schulter.
Ich weiß es nicht genau. Als das Schlachtenglück sich wendete, hat sie Hals über Kopf die Flucht ergriffen. Niederlagen hinzunehmen, war noch nie ihre Stärke.
»Korr .« Balbok schnaubte und nickte Rammar zu. »Dann müssen wir nach ihr suchen.«
»Sie wird tot sein inzwischen«, mutmaßte Rammar. »Als wir sie zuletzt sahen, war sie mehr Leichnam als lebendig.«
Ihr wisst es noch nicht, sagte Curran in seinem Kopf.
»Was meinst du?«
Ihr sucht eure Feindin in der falschen Gestalt, Rammar. Aderyn ist nicht mehr, was sie zuvor gewesen ist. Als die Drachen aus ihrem Schlaf im Eis erwachten, ist sie mit einem von ihnen eine Verbindung eingegangen, so wie ich es vor langer Zeit mit ihrer Königin tat.
Rammar sog scharf die bittere, von Brandgeruch durchsetzte Luft ein. »Soll das heißen … aus dem Drachenweib ist zuletzt noch ein richtiger Drache geworden?«
Genau das, bestätigte ihr Urahn, genau das … und sie hat das Kind bei sich.