Sanfter Regen fällt auf die Sommerrosen, die im Garten von Les Rhumbs blühen. Von See her kommt Nebel auf, der die Umrisse des Hauses verschwimmen lässt. In der großen Villa von Ende des 19. Jahrhunderts hoch über der Stadt Granville in der Normandie mit freiem Blick über den Ärmelkanal verbrachte Christian Dior seine Kindheit. Das ist der Grund, weshalb man dort ein Museum eingerichtet hat, um sein Erbe zu würdigen. Der von seiner Mutter angelegte Garten, der das Haus umgibt, ist heute eine für jedermann offene Parkanlage. An diesem Morgen ist es überraschend still auf dem Gelände, was an dem feuchten Wetter liegen kann. Ein paar Dutzend Besucher sind gekommen, um sich die neue Ausstellung anzusehen, die Fürstin Gracia von Monaco gewidmet ist und Kleider zeigt, die Christian Dior für sie entworfen hat.
Soeben bin ich durch die Ausstellung geführt worden. Jede Abteilung nimmt einen Raum ein, den Familie Dior im frühen 20. Jahrhundert bewohnt hat. Dabei vermischen sich in meinem Kopf die Zeiten auf wundersame Weise: Während ich Fürstin Gracias Outfits aus den 1950er Jahren bewundere und sie in den Roben, die jetzt leblos in Glasvitrinen stehen, durch Filmausschnitte gleiten sehe, suche ich in den Mauern des Gebäudes nach Spuren von Catherine Dior. Auf den Bildschirmen schreitet die tote Fürstin durch ihren Palast in Monaco und lockt mich in ihr vergangenes Leben wie in ein Gruselmärchen. Aber ich will mich nicht verführen lassen – weder von ihrer gespenstischen Präsenz, noch von ihren Hinterlassenschaften in Samt und Seide.
Vielmehr hoffe ich die so lange zurückliegende Zeit wiederzuentdecken, da Catherine ein Kind war. Doch ich spüre nichts von ihrer Anwesenheit, nicht einmal in dem kleinen Zimmer, das ihr gehörte und wo ein kurzer Text ihre Rolle in Christian Diors Lebensgeschichte so erklärt:
Catherine war Christians Lieblingsschwester. Als er 1947 sein erstes Parfüm präsentierte, nannte er es ihr zu Ehren Miss Dior und beschrieb es als den »Duft der Liebe«.
Dazu passt, dass ich bei diesem Besuch in Granville dieses Parfüm trage. Nach der Terminologie der Parfümherstellung wird es als »grünes Chypre« klassifiziert, eine Mischung der Duftnoten von Galbanum (einem Pflanzenharz mit unverkennbarem Geruch), Bergamotte, Patchouli und Eichenmoos mit der Wärme von Jasmin und Rose als Herznote. In dem Raum, der einmal Catherines Zimmer war, spüre ich für einen Augenblick diesen einzigartigen Duft. Er geht nicht von mir selbst aus, sondern von einer anderen unsichtbaren Quelle … Vielleicht von dem riesigen Parfümflakon, das Christian Dior einst Fürstin Gracia schenkte und das draußen auf dem Gang ausgestellt ist?
Keiner der Räume von Les Rhumbs ist heute noch möbliert. Stattdessen stehen dort Schränke und Vitrinen aufgereiht, in denen Artefakte, Zeichnungen und Fotografien präsentiert werden – zur Zeit sämtlich mit Bezug auf Fürstin Gracias Garderobe. Wenn auch manches dieser Objekte schmerzliche Erinnerungen weckt – zum Beispiel das Bild der jungen Grace Kelly in einem himmlischen weißen Kleid auf dem Ball aus Anlass ihrer Verlobung mit Fürst Rainier 1956, da sie nicht ahnen konnte, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte – bleibt Les Rhumbs doch der Ort des Gedenkens an eine fernere Vergangenheit. Denn hier haben sich Maurice und Madeleine Dior Anfang des 20. Jahrhunderts niedergelassen und ihre fünf Kinder großgezogen. Sie hatten 1898 geheiratet. Madeleine war damals ein hübsches neunzehnjähriges Mädchen. Maurice Dior, mit sechsundzwanzig bereits ein ehrgeiziger junger Mann, plante, die von seinem Großvater 1832 gegründete Düngemittelfirma zu erweitern. Ab 1905 führten er und sein Cousin Lucien den gutgehenden Betrieb gemeinsam, und dessen Erfolg brachte ihnen gesellschaftlichen Aufstieg. Lucien Dior ging in die Politik und war bis zu seinem Tod 1932 Parlamentsabgeordneter. Seine Frau Charlotte und Madeleine lagen offenbar permanent im Wettstreit miteinander, wer die besser gekleidete Herrin über den wohlhabenderen Hausstand sei.
Ich habe das zerlesene Taschenbuch von Christian Diors Autobiographie mitgebracht. Äußerlich bietet sich mir das Haus genauso dar, wie er es in seinen eindrucksvollen Erinnerungen an Les Rhumbs geschildert hat: »Das Haus meiner Jugend war in einem sanften, mit grauem Kies vermischten Rosaton getüncht, und diese beiden Farben sind in der Mode meine Lieblingsnuancen geblieben.« Doch die so sorgfältig gestaltete Inneneinrichtung, die er detailliert beschreibt, ist verschwunden: Die Schäferinnen aus Porzellan, die gläsernen Bonbonschalen und der übrige Zierrat, an den sich Christian in allen Einzelheiten erinnert.
Ich habe seine Autobiographie wieder und wieder gelesen, doch erst heute fällt mir auf, dass er darin seine Brüder und Schwestern nicht beim Namen nennt. Er erwähnt einen Bruder, und den nur kurz, dazu seine geliebte Catherine. Es ist, als hätten Raymond und Jacqueline nie existiert. Auf dem Familienfoto in der Eingangshalle des Museums sind die Geschwister dann doch vollzählig versammelt: Raymond, der Älteste, geboren am 27. Oktober 1899; Christian, der am 21. Januar 1905 zur Welt kam (in dem Jahr kaufte sein Vater Les Rhumbs); gefolgt von Jacqueline, geboren am 20. Juni 1908, Bernard, am 27. Oktober 1910 und Catherine, das Nesthäkchen der Familie, das sieben Jahre später, am 2. August 1917, das Licht der Welt erblickte.
Der Standort des Hauses ist geradezu spektakulär: Stolz erhebt sich Les Rhumbs auf einer Landspitze aus Granit mit überwältigendem Blick auf eine Meeresbucht. Ein Schiffseigner hat es erbaut, und der Name ist ein nautischer Begriff für die Markierung auf dem Kompass, die man landläufig Windrose nennt. Das Symbol findet sich in einem Fußbodenmosaik der Villa wieder, das im Original erhalten geblieben ist.
An diesem Tag ist der Himmel blassgrau gefärbt, in Diors Grau, das Himmel und Meer miteinander verschmelzen lässt. Nach dem Rundgang durch die Ausstellung erlaubt man mir, mich für den Rest des Tages zum Schreiben in ein Häuschen im Garten zurückzuziehen, wo einst die Kinder gespielt haben. Es steht, vor neugierigen Blicken verborgen, am Ende eines Pfades ein gutes Stück vom Haus entfernt. Von drinnen ist der Blick durch die Fenster einfach umwerfend. Zwei Seiten des Raumes sind verglast, und das Häuschen wirkt wie an den Rand eines steilen Absturzes gebaut, von wo man auf zerklüftete Felsen in der Tiefe blickt. Es herrscht Ebbe, die Sandbänke sind nackt und der Strand leer, Möwen gleiten darüber hin und lassen ihre klagenden Schreie ertönen.
Wie mag dieser Blick die Hoffnungen und Träume der Kinder geprägt haben? Christian Dior hat sicher oft daran gedacht, als er 1956, ein Jahr vor seinem unerwartet frühen Tod in seine Autobiographie schrieb: »Das Haus in Granville … wie alle anglo-normannischen Bauten der Jahrhundertwende war es scheußlich. Dennoch bewahre ich ihm eine zärtliche und bewundernde Erinnerung. Mein Leben, mein Stil, fast alles verdanken sie seiner Lage und seiner Bauweise.«
Christians früheste Kindheitserinnerungen sind mit Les Rhumbs verbunden, das zu jener Zeit der Hauptsitz der Familie war, wenn sie auch einige Zeit in Paris verbrachte. 1911 erwarb Maurice Dior eine Wohnung im wohlhabenden 16. Arrondissement, doch während des Ersten Weltkriegs lebte die Familie nur noch in Granville. Erst 1919 kehrte sie nach Paris zurück und bezog eine größere Wohnung in der Rue Louis-David im selben Bezirk. Christian war damals bereits Gymnasiast und besuchte das nahegelegene Lycée Gerson. Catherine wurde zunächst von einer Gouvernante zu Hause unterrichtet und ging dann in eine Mädchenschule von Granville. Im Dior-Archiv finden sich mehrere Fotoaufnahmen davon, wie sie als Kind am Strand spielt. Sie muss Les Rhumbs sehr geliebt haben, denn von Anfang an unterstützte sie die Initiative, dort ein Museum einzurichten. Sie nahm 1997 an der Eröffnungsfeier teil und wirkte von 1999 bis zu ihrem Tod als dessen Ehrenpräsidentin. Nach ihren Erinnerungen wurde der Garten so weit wie möglich in der ursprünglichen Gestalt wiederhergestellt. In dem Gewächshaus an der Vorderseite der Villa pflanzte man Palmen und Farne, so wie ihre Mutter es getan hatte. Catherine korrespondierte viele Jahre lang mit den Museumskuratoren, deren Fragen nach der Bepflanzung des Gartens sie präzise beantworten konnte. An den erinnerte sie sich als eine »grüne Festung«, vor dem Wind geschützt durch Baumreihen und hohe Wälle von Erde, die man auf die Landzunge transportiert hatte. Ihr Bruder Christian hatte Rosen, Geißblatt und Glyzinien dazu gebracht, eine weiße, hölzerne Pergola hinaufzuklettern, und gemeinsam sahen sie den Goldfischen zu, die unter den Seerosen im Teich umherschwammen. Die Mutter beschrieb Catherine als »bemerkenswerte Botanikerin«, die sich in Klima und Bodenbeschaffenheit von Granville bestens auskannte. Madeleine Dior soll die Kinder streng erzogen haben, doch von Catherine ist die kurze, verblüffende Bemerkung überliefert, ihre Mutter habe »ein Auge zugedrückt« und den Kindern die Freiheit gelassen, zwei Beete nach ihrem Geschmack anzulegen, das eine in der Form eines Tigers und das andere in der eines Schmetterlings.
Auch Christians hinterlassene Aufzeichnungen vermitteln einen Eindruck von der emotionalen Wirkung und dem starken Einfluss der Landschaft. »Das Haus«, so heißt es in seiner Autobiographie, »stand inmitten eines Parks, der … damals mit jungen Bäumen bepflanzt war, die gleich mir, gegen Wind und Fluten kämpfend, heranwuchsen. Das ist der richtige Ausdruck, denn das Haus lag direkt am Meer, das man durch ein Gitter sehen konnte, und war allen Unbilden der Witterung ausgesetzt; es war Abbild meines eigenen Lebens, das keineswegs ruhig verlaufen ist … Die Mauern, die diesen Garten umgaben, reichten ebenso wenig aus, uns vor den Stürmen Schutz zu bieten, wie die Fürsorge, die meine Kindheit umgab, mich vor den Stürmen des Lebens schützen konnte.«
Denn dieses Haus stand am äußersten Rand von Frankreich, wo sich Land und Meer begegnen. Der schmiedeeiserne Gitterzaun und die Steinmauern von damals umgeben nach wie vor den Garten, sind allerdings nicht hoch genug, um den angrenzenden Friedhof zu verdecken. Bei aller bürgerlichen Solidität des Hauses, bei all der Mühe, die für die Planung und Pflege des Gartens aufgewandt wurde, wirken See und Himmel so gewaltig, dass jegliche Bemühungen der Menschen, hier Stabilität zu schaffen, geradezu vermessen erscheinen. Und doch lebte und prosperierte Familie Dior über viele Generationen in Granville. Ihr Reichtum beruhte auf der Firma von Christians Urgroßvater, der Guano aus Südamerika in die Normandie importierte und die dortige Düngemittelindustrie mit Rohstoff versorgte. »L’ engrais Dior, c’ est d’or!« [»Dünger von Dior ist Gold!«], lautete ein gereimter Werbespruch. Doch Christian zeigte sich bei seinen wenigen Besuchen in der übelriechenden Fabrik entsetzt: Davon »habe ich … eine abschreckende Erinnerung bewahrt. Daher rühren meine Abscheu vor Maschinen und mein fester Entschluss, niemals … (dort) zu arbeiten.«
Wie seine Schwester Catherine zog er es vor, der Mutter – fern von den stinkenden Fabrikhallen – im Garten zu helfen. Christian ging so weit, die Namen und Beschreibungen der Blumen in den illustrierten Samenkatalogen, die in Les Rhumbs eintrafen, auswendig zu lernen. Madeleine Diors Liebe zu den Rosen hingegen erbte ihre jüngste Tochter Catherine, die sich das Pflanzen und Pflegen dieser Blumen zur Lebensaufgabe erkor. Zwar sahen die Dior-Kinder ihre Eltern als distanzierte, autoritäre Personen, wie Christians Biografin Marie-France Pochna andeutet. Nach ihren Worten wuchsen die Kinder in einer Zeit auf, »da man von offen gezeigter Zuneigung eine Schwächung des Charakters befürchtete und Strenge die Norm war«. Und doch ist es durchaus möglich, dass der Weg der Kinder zum Herzen ihrer Mutter durch ihren heißgeliebten Garten führte.
»Aber der Ort, den ich allen anderen vorzog«, so Christian in seiner Autobiographie, »war die Wäschekammer. Die Zimmermädchen, die Tagelohnnäherinnen erzählten dort Geschichten vom Teufel … Dämmerung breitete sich aus, die Nacht brach herein, ich blieb sitzen und betrachtete die Frauen, die im Schein der Petroleumlampe an ihren Näharbeiten saßen … Ich habe die Sehnsucht nach den Sturmnächten, nach dem Klang des Nebelhorns, dem des Totengeläuts auf den Friedhöfen und nach dem feuchten normannischen Wetter meiner Kindheit behalten.«
Die Schatten von Teufel und Toten konnte man sich im goldenen Zeitalter der Belle Epoque vom Leibe halten, als Les Rhumbs noch nicht von Krieg und finanziellem Ruin bedroht war. Aber wie erging es Catherine, die zur Welt kam, als die Schlachten des Ersten Weltkriegs tobten? In der Geburtsurkunde ist ihr Name als Ginette Marie Catherine Dior angegeben. Aus der Familie ist überliefert, dass es ihr Bruder Bernard war, der sie als Baby zuerst Catherine, und nicht Ginette nannte. Ein Foto aus Les Rhumbs zeigt ein ernst dreinblickendes kleines Mädchen in gestärkter weißer Baumwolle und Spitze. Die Eltern wirken streng und etwas unnahbar, Christian, hinter ihnen stehend, schaut ein wenig freundlicher drein.
Ich schließe die Augen und versuche mir Catherine vorzustellen, wie sie als kleines Kind im Garten Verstecken spielt. Such mich, flüstert sie mir zu, doch dann wird es still, und ich höre nur noch den Wind im Abzug des kalten Kamins neben mir raunen und seufzen.
Durchs Fenster entdecke ich zwei winzige Gestalten, einen Erwachsenen und ein Kind, die in der Ferne den Strand entlangwandern. Als der Regen stärker wird, sind sie nicht mehr zu sehen. Der von See hereinziehende Nebel wird immer dichter und scheint das Tageslicht aufzusaugen, draußen dunkelt es, und der Wind bläst immer stärker. Langsam beginne ich zu verstehen, weshalb Christian und Catherine Les Rhumbs so verbunden waren und sich doch nicht entschlossen, hier zu leben, auch wenn ihnen das als Erwachsene möglich gewesen wäre. Denn dies ist ein Ort, wo Wege beginnen, ein Ausgangspunkt, den man nie vergisst. Doch die rastlosen Wellen und die umherfliegenden Vögel erinnern permanent daran, dass es jenseits des Hauses auf der Landspitze noch anderes geben muss.
Etwas am Anblick der harten Granitklippen und ‑felsen könnte Catherine an die Strenge ihrer Mutter erinnert haben. In einem ihrer seltenen Interviews, das sie Marie-France Pochna 1993 gab, sah sie Madeleine Dior als Zuchtmeisterin: »Meine Mutter war streng zu den Jungen und noch strenger zu den Mädchen.« Doch die Strenge der Mutter allein kann weder Catherines Charakter, noch die einzigartige Atmosphäre dieses auf einem Felsen angelegten Gartens erklären. Ich entschließe mich, den Regen zu ignorieren und die Wärme des Häuschens für einen kurzen Rundgang zu verlassen. Die frische Meeresbrise ist kalt und rüttelt an den Rosenstöcken. Die abgerissenen zarten Blütenblätter sinken auf den feuchten Boden wie Konfetti nach einer Trauung.
Am Weg stoße ich auf einen Irrgarten aus Ligusterhecken, und mir geht durch den Sinn, dass einer der Mitarbeiter des Dior-Archivs mir erzählte, Catherine habe ihm dies in fortgeschrittenem Alter als ein wichtiges Merkmal des Gartens ihrer Kindheit geschildert. Ich bin groß genug, um über die Hecken zu schauen, aber wenn ein kleines Mädchen in diesem grünen Labyrinth herumlief, musste es sich schon gut auskennen, um wieder herauszufinden. Ich kenne meinen Weg, flüstert es in meinem Kopf, und ich bin nicht sicher, ob mir dies meine eigene Stimme sagt oder die meiner verstorbenen Schwester, mit der ich in den geheimen Gärten unserer Kindheit spielte.
Sollte Catherines Geist wirklich hier weilen, dann scheint sie nicht geneigt, an ihrem privaten Rückzugsort zu mir zu sprechen. Das Spielhäuschen ist gewöhnlich für Besucher geschlossen. Man hat es heute als besonderes Entgegenkommen für mich geöffnet. Doch warum sollte eine erwachsene Frau hier allein herumsitzen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Madeleine Dior das gebilligt oder mich gar dazu ermuntert hätte. Darüber hat Christian in seinen Erinnerungen treffend bemerkt: »Meine ersten Jahre waren die eines kleinen, sehr braven, wohlerzogenen, von einem Fräulein überwachten Jungen …, der vollkommen unfähig war, sich im Leben zu behaupten.«
Als ich diese Worte in meinem abgegriffenen Exemplar seiner Autobiographie lese, fällt mir zum ersten Mal auf, dass er ein »Fräulein«, eine deutsche Gouvernante, erwähnt. Ich frage mich, was während des Ersten Weltkriegs aus ihr geworden sein mag. Die Antwort finde ich ein paar Seiten weiter: »Die Mobilmachung erreichte uns in Granville … Unser Fräulein weigerte sich zuerst abzureisen, denn wie alle Welt hielt sie die Katastrophe für unmöglich. Als dann aber der Krieg ausgebrochen war, erklärte sie, die das Leben unserer Familie geteilt hatte, zu unserer schrecklichen Verblüffung, dass sie notfalls bereit sei, ›peng-peng‹ auf die französischen Soldaten zu machen.« Daraufhin stellte Familie Dior 1915 die 25jährige französische Erzieherin Marthe Levebvre ein, die bald den Kosenamen ›Ma‹ erhielt und ihr Leben lang bei der Familie bleiben sollte.
Auch als Christian die Freuden der Hauptstadt längst zu schätzen wusste, blieb er dem Familiensitz in Granville, dem Ort, an dem er als kleiner Junge so lange Zeit verbracht hatte, eng verbunden. 1925, als man ihn bei harter Arbeit als Student der Politischen Wissenschaften in Paris vermutete, nachdem die Eltern es ihm verwehrt hatten, Architektur zu studieren, fand Christian die Zeit, für den Garten von Les Rhumbs eine Erweiterung zu entwerfen – einen Teich mit kleinem Springbrunnen, umgeben von einem Wandelgang aus Spalieren, um die sich Kletterrosen rankten.
Das scheint eine tollkühne Idee gewesen zu sein, wenn man bedenkt, dass hinter dem Zaun der endlose Ozean beginnt. Aber es gibt tatsächlich Fotos von Christian in seinem Wassergarten. Sein Gesichtsausdruck ist nicht zu ergründen. Wie seine jüngere Schwester besaß er die Fähigkeit, sich der Welt als ein rätselhaftes Wesen zu präsentieren. Doch die Rosen, die dort, wo er damals stand, heute immer noch blühen, sind von einer unwiderstehlichen Schönheit, und jede Knospe öffnet sich zu ihrer eigenen jungfräulichen Perfektion. Dafür ist Catherine zu danken, die sich mit Rat und Tat um die Neuanpflanzung gekümmert hat. Mögen die salzigen Winde blasen, möge der Regen niederprasseln – diese Rosen scheinen dafür gezüchtet zu sein, unter schwierigsten Umständen zu überleben.
Die Flut steigt, und das Meeresrauschen wird stärker. Wenn ich etwas von diesem Besuch erwartet habe, dann ein wenig Ruhe und Frieden. Stattdessen fühle ich mich zunehmend unbehaglicher und unsicherer. Mag sein, dass man an einem so unheimlichen Ort, wo der Schleier zwischen Lebenden und Toten so durchsichtig ist, wo die Geister sich nicht in Glasvitrinen einschließen lassen, die ihre alten Kleider enthalten, wo die Wellen ihr Flüstern herantragen, vergeblich nach Ruhe sucht. Schließlich hat Familie Dior hier weder Sicherheit für immer gefunden, noch sind die Stützpfeiler ihres Reichtums intakt geblieben. Leid, Wahnsinn, Tod und Unglück konnten nicht auf Distanz gehalten werden, und der lange Schatten des Ersten Weltkriegs erreichte Granville wie das übrige Frankreich. Ungefähr ein Drittel der männlichen Bevölkerung des Landes im Alter von achtzehn bis siebenundzwanzig Jahren fielen diesem Krieg zum Opfer. Raymond Dior, der sich im Oktober 1917 sofort nach seinem achtzehnten Geburtstag freiwillig zur Armee gemeldet hatte, war der einzige Soldat seines Zuges, der nicht im Gefecht fiel. Und wie so viele Überlebende litt er noch lange nach dem Waffenstillstand an den psychischen Folgen. Was die Briten shell shock und die Deutschen Gefechtsneurose nannten, trug bei den Franzosen die wesentlich eindrucksvollere Bezeichnung crise de tristesse sombre – Anfälle düsterer Traurigkeit. Nach den Worten eines der hohen Befehlshaber der Armee, Marschall Philippe Pétain, kehrten junge Soldaten mit Gesichtern von der Front zurück, die »vom Erleben des Schreckens eingefroren schienen. Gang und Körperhaltung offenbarten tiefe Niedergeschlagenheit; sie trugen schwer an grauenhaften Erinnerungen …« Im Frühjahr 1918 berichtete sein britischer Partner, Field Marshal Sir Douglas Haig, Pétain selbst biete »einen furchtbaren Anblick. Er wirkte wie ein tief geängstigter Kommandeur, der die Nerven verloren hatte.«
Raymond Dior, der in einem Artillerieregiment an vorderster Front diente, hatte Monate intensiven Beschusses und den Einsatz von Senfgas erlebt. In den Jahren nach dem Krieg fiel es Raymond schwer, sich im zivilen Leben wieder zurechtzufinden. Er heiratete und trat, wie von ihm erwartet wurde, für eine gewisse Zeit in die Firma seines Vaters ein, wurde aber immer wieder von Gefühlen der Entfremdung gegenüber der Familie, einschließlich den Geschwistern, übermannt. Als aufstrebender Schriftsteller formulierte er seine Wut in zornigen Essays, in denen er die Übel des Kapitalismus anklagte, versank mehrmals in tiefe Verzweiflung und unternahm mindestens einen Selbstmordversuch.
Bei Bernard, dem Jüngsten der drei Dior-Brüder, traten 1927 erste Anzeichen einer psychischen Störung auf. Als er bei den Prüfungen in der Schule durchfiel, geriet er in einen Zustand stummer Depression. Christian schrieb in seiner Autobiographie dazu: »Mein Bruder wurde von einer unheilbaren Nervenkrankheit befallen, und meine Mutter starb aus Kummer darüber.« Auf mehreren Familienfotos, die Madeleine in den späten 1920er Jahren zeigen, wirkt sie tief verzweifelt, sie blickt zu Boden, hat die Lippen zusammengepresst und wendet den Blick von der Kamera ab. Raymonds Ehefrau, die ebenfalls Madeleine hieß, hatte ihre Schwiegermutter gegenüber Marie-France Pochna als »stolz, ehrgeizig und autoritär« beschrieben. In diesen Aufnahmen erscheint sie jedoch wesentlich zerbrechlicher.
Christian erwähnt die Mutter in seinen Erinnerungen nur dreimal: im Zusammenhang mit ihrer Leidenschaft für Blumen, mit ihrem Tod und ihrer schlanken Figur, die sie von allen anderen Familienmitgliedern unterschied. »Die gesamte Familie war normannischer Abstammung, ausgenommen die ›Sanftheit des Anjou‹ meiner Mutter, die inmitten dieser geschlossenen Gesellschaft von Bonvivants und starken Essern die einzige schmale Person mit geringem Appetit war.« La douceur angevine, die Süße von Angers, eine traditionelle Redensart der Gegend, enthält einen Hinweis auf Madeleines Herkunft. Ihr Vater, Rechtsanwalt in Angers, starb, als sie vierzehn Jahre alt war; ihre Mutter stammte aus der Normandie. Frédéric Bourdelier, der Direktor des Dior-Archivs, hat Madeleine Dior mir gegenüber einmal »die Madame Bovary von Granville« genannt. Damit wollte er nicht etwa andeuten, sie hätte heimliche Affären gehabt, sondern auf ihren Hang zu exaltiertem Auftreten und Eleganz, auf den Widerspruch zwischen ihrer romantisierten Weltsicht und der Realität ihres biederen, bürgerlichen Lebens hinweisen.
Im Frühjahr 1931 wurde Madeleine Dior in eine Klinik bei Paris für eine dringende Operation eingeliefert, von der sie sich nicht mehr erholte. Sie starb am 4. Mai im Alter von 51 Jahren an einer Sepsis und wurde in der Familiengruft auf dem Friedhof von Granville nahe dem Garten von Les Rhumbs beigesetzt. »Wenn ich heute über diesen Tod nachdenke, der mich fürs Leben gezeichnet hat«, schrieb Christian Dior in seiner Autobiographie, »will mir scheinen, als sei er die beste Lösung gewesen. Diese wunderbare Frau und Mutter verließ uns, ohne zu ahnen, dass die Zukunft mehr als schwierig für uns werden würde.«
Nur wenige Monate später verlor Maurice Dior sein gesamtes Vermögen. Er hatte sein Kapital in ein geplatztes Immobiliengeschäft investiert. Mitten in dieser Katastrophe verschlechterte sich nach dem Tod der Mutter Bernards Zustand. Er litt an Wahnvorstellungen, an Halluzinationen und wollte seinem Leben ein Ende setzen. 1932 diagnostizierte man bei ihm Schizophrenie. Nach fruchtlosen Behandlungen bei Ärzten in Paris und Brüssel, die einen »Ödipus-Komplex« vermuteten, ein Begriff, der auf den wachsenden Einfluss von Freuds Psychoanalyse hindeutet, wurde Bernard in eine Pflegeanstalt für psychisch Kranke in der Normandie eingewiesen. Von Januar 1933 bis zu seinem Tod im Alter von fünfzig Jahren im April 1960 blieb Bernard in den düsteren Mauern des Hospice de Pontorson eingesperrt.
Allen diesen Katastrophen, so glaubte Christian, ging ein ominöser Zwischenfall voraus, der 1930 in Les Rhumbs passierte: »Bei der Rückkehr aus den Ferien erschreckte mich ein Zeichen mehr als die Baisse an der Börse. Im leeren Haus hatte sich ein Spiegel von der Wand gelöst und war am Boden in tausend Scherben zersprungen.« Während ich Christians Worte in Les Rhumbs lese, scheint das Echo dieses bösen Vorzeichens nachzuhallen. Da dicker Nebel vom Meer hereinzieht und den Horizont verhüllt, stelle ich mir vor, dass der Kompass von Les Rhumbs sich wieder zu drehen beginnt und in eine unbekannte Richtung weist …