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Durch den Spiegel

Catherine Dior 1922 lesend in der Pariser Wohnung der Familie.

Ich sitze an meinem Schreibtisch, umgeben von aufgestapelten Kopien aus einem Dutzend verschiedener Archive, und mir ist, als seien es Glasscherben, die Bruchstücke des zerbrochenen Spiegels von Granville, aus denen ein Bild von Catherine Dior als junge Frau in den 1930er Jahren zusammenzusetzen mir fast unmöglich erscheint. Die Vorstellung von den Brüchen im Leben Catherines und ihrer Familie wird verstärkt durch das Chaos jener Zeit, vor allem die katastrophale Wirkung des Börsenkrachs an der Wall Street, die zum Ruin von Maurice Dior führte. Es folgte die Weltwirtschaftskrise, deren langer Schatten über Familie Dior fiel. Er fegte die Sicherheiten und Konventionen hinweg, die das Heranwachsen der Kinder in der blühenden Belle Epoque bestimmt hatten.

Als Madeleine Dior 1931 starb, schien die gewohnte Lebensweise der Familie mit ihr unterzugehen. Dahin waren die Rituale der vornehmen Gesellschaft, wenn man für Bälle und Wohltätigkeitsveranstaltungen von Granville nach Paris umzog, verschwunden wie der Reichtum, der es ermöglichte, das herrschaftliche Anwesen Les Rhumbs mit Personal für Haus und Garten zu unterhalten. Als die Mutter starb, war Catherine dreizehn Jahre alt, und um sie herum brach alles zusammen. Ihre drei Brüder litten sehr: Raymond hatte die traumatischen Erlebnisse an den Fronten des Ersten Weltkriegs noch nicht verarbeitet, und Bernard zeigte keinerlei Anzeichen einer Genesung von seinen psychischen Leiden. Nach dem Bericht eines Cousins, der ihn 1934 in der Psychiatrie besuchte, erkannte Bernard nicht einmal mehr seine engsten Angehörigen. Auch Christian hatte nach der Insolvenz seines Geschäfts in Paris mit einer Depression zu kämpfen. Zum Teil mit einer Investition seines Vaters hatte er 1928 zusammen mit seinem Freund Jacques Bonjean eine Galerie der Avantgarde eröffnet, in der er die Arbeiten aufstrebender Künstler wie Max Jacob und Christian Bérard neben jenen bereits etablierter Meister der Moderne wie Picasso, Matisse und Dufy zeigte. Als er im Gefolge von Maurice Diors Bankrott aufgeben musste, schloss sich Christian Pierre Colle einem befreundeten Galeristen an. Gemeinsam organisierten sie die erste Schau der Werke Alberto Giacomettis in Paris und förderten auch Salvador Dalí mit einer Reihe bedeutender Ausstellungen. Doch ihr feines künstlerisches Gespür brachte Colle und Dior wenig geschäftlichen Erfolg. So verkauften sie Dalís Meisterwerk Die Beständigkeit der Erinnerung mit den schmelzenden Uhren und schwärmenden Insekten für ganze 250 US‑Dollar. Wie Dior in seiner Autobiographie schreibt, war der Verkauf von Kunstwerken nach dem Börsenkrach an der Wall Street »… in dieser Zeit der Panik schwieriger als je zuvor. Einzelne Gemälde, die heute Millionen wert sind, verhökerte ich mühsam für einige Zehntausend Francs … So ging es zwischen Verlust und Pfändungen weiter. Trotzdem veranstalteten wir weiterhin surrealistische und abstrakte Ausstellungen, die noch die letzten privaten Kunden in die Flucht schlugen.«

Catherine blieb keine Wahl, als ihren Vater bei seinem Abstieg zu begleiten. Er hatte fast alles verloren: sein bedeutendes Vermögen, die geliebte Frau, den guten Ruf und die gesellschaftliche Stellung, die große Wohnung in Paris und schließlich auch das prächtige Anwesen in Granville. Als er dafür keinen privaten Käufer fand, fiel es an die Gemeinde. Nur die treue Marthe Lefebvre blieb als Catherines Gouvernante bei der geschrumpften Familie. Aus unbekanntem Grund war es Marthe, die empfahl, ein kleines Bauernhaus tief in der Provence könnte ein passender Zufluchtsort fern von Maurice Diors heimatlicher Normandie, respektlosen Pariser Bekannten oder wütenden Gläubigern sein. Als man im Jahre 1935 dorthin zog, hatte das Anwesen namens Les Naÿssès keinen Stromanschluss und höchst primitive sanitäre Anlagen – ein scharfer Kontrast zur bürgerlichen Behaglichkeit von Les Rhumbs.

Kein Wunder, dass sich Catherine in der erzwungenen Isolation von Les Naÿssès einsam und unglücklich fühlte. Sie war gerade achtzehn geworden. Wenn ihr die Landschaft der Provence auch nach und nach ans Herz wuchs, hatte sie dort weder gleichaltrige Freundinnen noch jegliche Aussicht auf ein gesellschaftliches Leben oder andere Chancen außerhalb des Hauses. Als ihr daher Christian einen Ausweg bot, zog sie im Jahr darauf unverzüglich zu ihm nach Paris.

Seit dem Zerfall der Familie führte Christian ein sehr wechselhaftes Leben, schlief auf den Sofas von Freunden, reiste auf die Insel Ibiza, um sich von einer schweren Tuberkulose-Erkrankung zu erholen und kam auch zu Besuch nach Les Naÿssès. Ein Bild zeigt ihn auf der Terrasse des Hauses, den Stift in der Hand und mit ernster Miene in eine Zeichnung vertieft.

Porträt von Christian Dior als junger Mann, gezeichnet von seinem Freund Paul Strecker, 1928.

Zu dieser Zeit hatte er den Traum von einer Karriere als erfolgreicher Kunsthändler aufgeben müssen und brachte sich selbst die Technik des Modezeichnens bei. Nach monatelangem fleißigem Üben begann er seine Zeichnungen an Zeitschriften zu verkaufen, um Vater und Schwester zu unterstützen, die inzwischen bettelarm waren.

Als Catherine und Christian 1936 nach Paris zurückkehrten, wohnten sie zusammen im Hôtel de Bourgogne in der Nähe des Place du Palais Bourbon. Wenn man zu jener Zeit im Hotel lebte, brauchte man keine Steuern zu zahlen. Das mag erklären, weshalb so viele Künstler und Schriftsteller, darunter der Philosoph Jean-Paul Sartre und seine Geliebte Simone de Beauvoir sich dafür entschieden. Ein Zimmernachbar im Hôtel de Bourgogne war Georges Geffroy, ein Dekorateur, der es inzwischen zum Designer gebracht hatte. Die Geschwister freundeten sich mit ihm an, und er stellte Christian Robert Piguet vor, damals ein aufgehender Star am Pariser Modehimmel, der ihm ein paar Zeichnungen abkaufte. Das war der Start von Christians Karriere als freier Modegestalter, der für verschiedene Hutmacher und Modeschöpfer arbeitete, darunter Edward Molyneux, den er sehr bewunderte.

Ungeachtet des Altersunterschieds von zwölf Jahren hielten Christian und Catherine von den Dior-Geschwistern am engsten zusammen. Gemeinsam war ihnen die Liebe zu Blumen und zur Gartenarbeit, die sie von der Mutter geerbt hatten, aber auch die Leidenschaft für Kunst und Musik. Beide hatten unter den dramatischen Ereignissen, die die Familie auseinanderrissen, sehr gelitten, und doch wussten sie sich zu helfen, als die Mutter tot und der Vater verarmt war. Da Catherine aus der traditionellen Rolle der schwachen Tochter heraustreten musste, die bis zu ihrer Heirat vom Vermögen ihres Vaters lebt, entdeckte sie das Gefühl der Selbständigkeit eines Menschen, der sein eigenes Geld verdient. Von Christian unterstützt, der ihr die Anstellung in einem Modegeschäft verschaffte, begann sie Hüte und Handschuhe zu verkaufen. Eines der Fotos von Catherine, das sich mir am stärksten eingeprägt hat, stammt aus dieser glücklichen Zeit, als sie in Paris bei ihrem Bruder lebte. Sie zeigt ein warmes Lächeln, aus ihrem Gesicht strahlt die Energie der Jugend, das Haar ist aufgesteckt, und an der maßgeschneiderten Jacke trägt sie eine Brosche.

Foto von Catherine Dior vor dem Zweiten Weltkrieg.

Aus dieser sorgenfreien Periode in Catherines Jugend fällt mir vor allem eine Geschichte ein, die sie Christians Biographin Marie-France Pochna 1993 erzählte: »Mein Bruder entwarf gern Kostüme«, sagte sie. »Einmal hat er sich für mich ein Neptun-Kostüm ausgedacht mit einem Rock aus Bast, über und über mit Muscheln bedeckt, und noch einem Rock, den er mit einem schottischen Motiv bemalte …«

Fotografien der zwanzigjährigen Catherine aus der Zeit, als sie bei Christian in Paris lebte.

Konventioneller gekleidet ist Catherine auf fünf Fotografien, die Ende der 1930er Jahre in Paris entstanden sind. Alle in Schwarz-Weiß, so dass man die Farbe des Schmucks, den sie trägt, nicht erkennen kann. Aber sie ist sehr gut gekleidet, frisiert und hat die Augenbrauen nachgezogen. Mitarbeiter des Dior-Archivs sind der Meinung, dass die Fotos 1937 im Hôtel de Bourgogne aufgenommen wurden. Da war Catherine zwanzig Jahre alt und diente Christian als Modell für seine ersten Entwürfe. Auf zwei der Aufnahmen sitzt sie in einem Sessel, trägt ein elegantes schwarzes Kleid mit langem Arm und eine dekorative Halskette. Auf einer blickt sie zur Seite und zeigt ihr markantes Profil. Auf einer anderen sind ihre dunklen Augen direkt auf die Kamera gerichtet, und unsere Blicke kreuzen sich. So schaut sie auch von den anderen Bildern. Auf einem steht sie mit erhobenen Armen vor einem zugezogenen Vorhang als provisorischem Hintergrund. Auf dem anderen sitzt sie an einem Schreibtisch, einen Hut auf dem Hinterkopf, eine dreireihige Perlenkette mit einer Mondsichel um den Hals.

Diese Fotos sind die einzigen erhalten gebliebenen visuellen Spuren von Catherines Leben bei Christian in Paris. Ich bin sicher, dass sie inzwischen von der Homosexualität ihres Bruders wusste. Immerhin teilten sie die Wohnung und einen Freundeskreis von Bohemiens. Paris war für seine schwul-lesbische Subkultur bereits bekannt. Homosexualität hatte die Französische Revolution schon 1791 straffrei gestellt, und Catherine und Christian waren beide in der Modebranche tätig, wo begabte Schwule gefeiert wurden. Christian war mit vielen gut bekannt, so mit Edward Molyneux und Georges Geffroy. Letzterer hatte seine Karriere im Modehaus von Jean Patou begonnen, bevor er sich der Raumgestaltung zuwandte. Im Unterschied zu seinen offen schwulen Freunden Jean Cocteau und Christian Bérard neigte Christian Dior dazu, sein Privatleben diskret zu behandeln, was möglicherweise an seiner katholischen Erziehung lag. Aber seine Schwester gehörte dazu. Als er sich 1938 in einen kultivierten jungen Mann namens Jacques Homberg verliebte, hielt er das vor Catherine nicht geheim. Jacques war 1915 geboren und damit eher in Catherines Alter. Die beiden blieben noch lange befreundet, auch als Christian zu ihm nur noch ein platonisches Verhältnis hatte.

Gemeinsam erkundeten die Geschwister die Genüsse und Freiheiten von Paris. Als Christian 1938 im Modehaus von Robert Piguet eine Festanstellung angeboten wurde, mietete er eine Wohnung in der Rue Royale, in der Catherine ein eigenes Zimmer bekam. Zu dieser Zeit entwickelte Christian in seiner Arbeit die Vision einer idealisierten, jugendlichen Fraulichkeit. Wenn man die Aufnahmen von Catherine bei der Vorführung der Entwürfe ihres Bruders als eine frühe Version von Miss Dior als einer modernen Pariserin auffasst, dann scheint Christians erster bedeutender Erfolg bei Piguet, ein Kleid namens »Café Anglais«, in Hahnentrittmuster und mit Spitze paspeliert, eine weitere Variante darzustellen. Wie Christian selbst berichtet, ließ er sich dabei von einem populären Kinderbuch mit dem Titel Les petites filles modèles von Comtesse de Ségur inspirieren, das 1858 erschien war. Die Hauptfiguren sind Camille und Madeleine de Fleurville, zwei hübsche kleine Schwestern, deren Erlebnisse zeigen, dass Tugend ihr eigener Lohn ist. Manchmal frage ich mich, ob die Kreation des Kleides »Café Anglais« nicht zur DNA von Christians imaginärer Miss Dior gehört – dem nostalgischen Rückgriff auf das Bild des bezaubernden jungen Mädchens in der idyllischen Landschaft eines blühenden Gartens.

Für »Café Anglais« erhielt Christian so viel Beifall, dass man ihn als begabten Modedesigner der Pariser Korrespondentin von Harper’s Bazaar, Marie-Louise Bousquet, vorstellte. Die arrangierte ihrerseits ein Treffen mit der allmächtigen Chefredakteurin des Magazins Carmel Snow.

»Langsam breitete sich in mir das Gefühl aus, ›angekommen‹ zu sein«, schrieb Christian Dior in seiner Autobiographie.

Doch »unerbittlich nahte das verhängnisvolle Jahr 1939. Es begann mit Tollheiten, wie sie Katastrophen vorauszugehen pflegen. Paris war selten strahlender. Man flatterte von Ball zu Ball … Die unvermeidliche Sintflut fürchtend, bewahrte man die verzweifelte Hoffnung, sie doch irgendwie vermeiden zu können; auf alle Fälle wollte man, wenn nötig, in Schönheit sterben.«

Am 15. März 1939 marschierten Hitlers Truppen in der Tschechoslowakei ein und besetzten das Land. Doch die Pariser feine Gesellschaft trieb es in den Wochen darauf noch bunter als zuvor. Die gefeierte Moderedakteurin von Harper’s Bazaar, Diana Vreeland, berichtete im Juli 1939, dass es in den von Käufern wimmelnden Pariser Modehäusern »hektisch, unterhaltsam, erschöpfend und glamourös« zuging. Und Janet Flanner schrieb im New Yorker: »Dort lagen Geld und Musik in der Luft, die Leute genossen die erste gute Zeit seit der schlechten, die letzten Sommer in München begonnen hatte.«

Während die Partys der High Society immer stürmischer und extravaganter wurden und schließlich in einem Ball in Versailles zum Thema Zirkus kulminierten, wo Akrobaten, Clowns und drei Elefanten auftraten, arbeitete Salvador Dalí an seinen surrealistischen Bühnenbildern für das Bacchanal. Das war eine neue Produktion des Ballet Russe aus Monte Carlo über die Wahnvorstellungen des bayrischen Königs Ludwig II., in der das Corps de Ballet zur Musik von Wagner mit Krücken tanzte und ein riesiger weißer Schwan mit einem gähnenden Loch in der Brust den Hintergrund bildete.

Doch Taumel und Ektase kamen abrupt zum Stehen, als Großbritannien und Frankreich am 3. September 1939 Deutschland den Krieg erklärten. Christian wurde wie alle Franzosen von achtzehn bis fünfunddreißig Jahren zum Militärdienst einberufen. An die Front musste er vorerst nicht, sondern hatte in einer Pioniereinheit in Mehun-sur-Yèvre im ländlichen Zentralfrankreich in der Landwirtschaft zu arbeiten. Auch Catherine sah sich gezwungen, Paris zu verlassen und nach Les Naÿssès zurückzugehen. Wie viele Angestellte der Modebranche hatte sie ihre Arbeit verloren. Die beiden führenden Pariser Modehäuser Madeleine Vionnet und Coco Chanel schlossen ihre Geschäfte. »Jede in meiner Stellung hatte jemanden in Uniform – einen Ehemann, einen Bruder, einen Vater«, erklärte Chanel.

Von den bemerkenswerten Veränderungen in der französischen Hauptstadt berichtete Carmel Snow Anfang September in einem Artikel für Harper’s Bazaar. »Letzte Woche ist sie fast über Nacht menschenleer geworden. Von den Straßen sind die Taxis verschwunden. Alle Telefone wurden abgeschaltet … Als ich durch die Stadt ging, um mich in den Modehäusern zu verabschieden, war überall die Evakuierung bereits im Gange …« Während die Männer, die dort gearbeitet hatten, gerade eingezogen wurden, stellte sie bei den Frauen eine bemerkenswerte Gelassenheit fest. »Das ist kein Augenblick von massenhafter Tapferkeit, sondern von individuellem Heroismus … Sie nehmen das Unvermeidliche mit einer Ruhe hin, über die man nur staunen kann.«

Die merkwürdige Gelassenheit hielt während der acht Monate an, die als der »Sitzkrieg« bekannt geworden sind, so genannt, weil an der Westfront so gut wie nichts geschah. Jean-Paul Sartre, der für die französische Armee meteorologische Dienste leisten sollte, wurde in einer kleinen Stadt nördlich von Strasbourg nahe der deutschen Grenze stationiert.

»Meine Arbeit hier besteht darin, Ballons aufsteigen zu lassen und dann mit dem Fernglas zu beobachten«, berichtete er in einem Brief an Simone de Beauvoir. Bei diesem lockeren Dienst fand Sartre Zeit, an einem neuen Buch zu arbeiten. Er meinte: »Das wird ein moderner Krieg ohne Gemetzel, so wie moderne Malerei keinen Gegenstand, moderne Musik keine Melodie und moderne Physik keine Feststoffe mehr braucht.«

Ein ähnliches Gefühl von Leere beschrieb de Beauvoir in einem Tagebucheintrag vom Oktober 1939: »Was bedeutet dieses Wort genau: Krieg? Vor einem Monat, als es mit riesigen Lettern in den Zeitungen stand, war es ein gestaltloses Grauen, eine Anspannung der ganzen Person, ohne dass man wusste, worauf; es war verschwommen, aber voll. Jetzt ist es ein unbestimmtes Gewimmel von Widerwärtigkeiten, von kleinen Ängsten, es ist nirgends mehr, nichts mehr.«

Die Pariser Korrespondentin des amerikanischen Modemagazins Vogue, Bettina Ballard, lieferte weiterhin regelmäßig Berichte über die Modehäuser. Doch in ihren Memoiren bekannte sie später, dass das Leben fast gänzlich zum Stillstand gekommen war und Zynismus vorherrschte. »Das Wort ›ärgerlich‹ tauchte in jedem Gespräch auf, ob nun beim Fleischer, der kein Rindfleisch von der Qualität vorrätig hatte, wie man sie verlangte, oder beim Abendessen, wenn der Partner nicht zu dem anregenden Gespräch imstande war, das man erwartete. Alle litten unter Langeweile, und die ungewohnte Spannung, auf etwas zu warten, von dem man keine rechte Vorstellung hatte, wirkte geradezu betäubend.«

Ähnlich ging es auch an der Front zu. Major-General Edward Spears, der im Ersten Weltkrieg als Verbindungsoffizier zwischen den französischen und britischen Truppen gedient hatte, wurde von Winston Churchill ausgeschickt, um die Vorbereitungen Frankreichs auf die zu erwartenden Kämpfe in Augenschein zu nehmen. Er meldete, er habe eine »unfassbare, grenzenlose Langeweile« vorgefunden, die »schrecklich deprimierend« sei.

Ungeachtet der Besorgnis des britischen Generals über diese gefährliche Apathie, wie er es empfand, waren seine französischen Partner nach wie vor überzeugt, dass die massiven Befestigungen der Maginot-Linie, die in den 1930er Jahren mit großem Aufwand als angeblich unzerstörbare Verteidigungslinie längs der Grenze zu Deutschland errichtet worden waren, ausreichend Schutz bieten sollten. Doch als die Deutschen am 10. Mai 1940 die Offensive gegen die alliierten Streitkräfte eröffneten, überrollten ihre Panzerdivisionen und Luftwaffeneinheiten Luxemburg, Belgien, die Niederlande und Frankreich mit einer beängstigenden Übermacht in kaum sechs Wochen. Während die Briten noch ihre an den Stränden von Dünkirchen eingeschlossenen Truppen evakuierten, stießen die Deutschen in Richtung Paris vor. Hunderttausende flüchteten vor ihnen und versuchten verzweifelt, den Süden des Landes zu erreichen.

In einem Klima wachsender Panik und Verwirrung setzte sich eine gewaltige Zahl verängstigter Menschen in Bewegung, ohne ein klares Ziel zu haben. Diese Flucht sollte bald der Exodus genannt werden. Historiker schätzen, dass in dieser Zeit in Frankreich acht Millionen Menschen unterwegs waren, sechs Millionen Franzosen aus einer Gesamtbevölkerung von vierzig Millionen, dazu zwei Millionen Flüchtlinge aus den Niederlanden. Die Hauptstraßen waren bald von Fahrzeugen verstopft, die entweder den Dienst aufgegeben hatten oder ohne Treibstoff dastanden. Es bildeten sich endlose Staus, was die Menschen nicht davon abhielt, die Flucht zu Fuß oder per Fahrrad fortzusetzen. Ihre Habseligkeiten führten sie in Kinderwagen, Handwagen oder Schubkarren mit. Riesige Menschenmengen belagerten die Bahnhöfe, und jene, die sich Plätze in einem Zug erkämpft hatten, mussten große Verspätungen oder den plötzlichen Ausfall von Fahrten hinnehmen. Da die Verbindungen der Regierung zu den Lokalverwaltungen zusammenbrachen und es kaum noch offizielle Informationen gab, breiteten sich Gerüchte aus, die das Chaos noch verstärkten. Essen und Trinken wurden knapp, was zu Plünderungen führte. Schwangere Frauen, Alte und Kranke brachen an Straßenrändern zusammen, Kinder wurden von ihren Eltern getrennt. Krankenhäuser, Schulen und Gefängnisse wurden verlegt, und die Geschichten von entlaufenen Verbrechern steigerten die allgemeine Angst. Ebenso die furchterregende Gefahr, von deutschen Flugzeugen beschossen zu werden, welche über die träge dahinkriechenden Flüchtlingskolonnen hinwegrasten.

Das Chaos stellte auch die Alliierten vor unüberwindliche Probleme, da ihre Einheiten auf den überfüllten Straßen immer wieder stundenlang aufgehalten wurden. General Alan Brooke, ein Korpskommandeur der britischen Truppen in Frankreich, schrieb angesichts der Massen erschöpfter, hungriger Flüchtlinge, die den Verkehr zum Stillstand brachten, in sein Tagebuch: »Den völlig übermüdeten Kopf quälen unablässig die deprimierenden Probleme einer nahezu hoffnungslosen Lage, und dazu werden die Augen ständig von dem herzzerreißenden Anblick total verängstigter, elender Menschenmassen geplagt, welche die Verkehrswege verstopfen, die einzige Hoffnung auf mögliche Sicherheit.«

Als Italien am 10. Juni 1940 Frankreich den Krieg erklärte, verließ die Regierung Paris, das sie zuvor zur Offenen Stadt erklärt hatte. Damit erlaubte sie den Deutschen, die verlassene Hauptstadt am 14. Juni einzunehmen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Bald wehte über wichtigen Gebäuden wie dem Arc de Triomphe und dem Eiffelturm die Hakenkreuzfahne. So wurde die gewünschte Kulisse für Hitler geschaffen, als er am 23. Juni in die Stadt kam und eine kurze Rundfahrt zu ihren Wahrzeichen unternahm. Der Fotograf Jacques Henri Lartigue hat seinen Eindruck von der Atmosphäre in der eroberten Hauptstadt so formuliert: »Paris liegt im Sterben. Man hört es kaum noch atmen. Es ist in seinem Partykleid zusammengebrochen … Ohne Autos wirken die Avenuen, Boulevards und Straßen so riesig, dass man glaubt, man befände sich auf einem Flugplatz … Die Deutschen sprechen von Paris als sei es ein Spielzeug, das man ihnen gerade geschenkt hat. Ein riesiges Spielzeug voller Überraschungen, von denen sie nichts ahnen.«

Weder Christian Dior noch Catherine wurden Zeugen der schockierenden Unterwerfung von Paris. Nachdem die geschlagenen Franzosen am 22. Juni 1940 den Waffenstillstand mit Deutschland unterzeichnet hatten, eine Demütigung, die Christian in seiner Autobiographie »das Debakel« nennt, hatte er das Glück, in die sogenannte Freie Zone zu gelangen, die noch nicht von den Nazis besetzt war. Seinem älteren Bruder Raymond erging es weniger gut. Bereits 1939 zur Armee eingezogen, diente er als Gefreiter und wurde nach dem Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940 in der Vendée gefangengenommen. Man brachte ihn nach Stalag X‑B, einem Lager in Norddeutschland für Tausende Kriegsgefangene der Alliierten. Während der deutschen Invasion wurden fast zwei Millionen französische Soldaten gefangengenommen und eineinhalb Millionen davon nach Deutschland deportiert. Nach einer Vereinbarung zwischen deutschen und französischen Behörden über die Entlassung von Veteranen des Ersten Weltkriegs kam Raymond 1941 frei und kehrte nach Paris zurück.

Gegen Ende jenes chaotischen Sommers 1940 gelang es Christian, sich bis in die Provence durchzuschlagen und dort Schwester und Vater in Callian, etwa 35 Kilometer nordwestlich von Cannes, wiederzusehen. Die Gegend war damals noch nicht von den Deutschen besetzt. Unter der Führung des 48‑jährigen Marschalls Pétain stimmte die französische Regierung, die zunächst nach Tours im Loire-Tal und dann nach Bordeaux geflohen war, einer stark befestigten und schwer bewachten Demarkationslinie zu, die bei den Waffenstillstandsverhandlungen festgelegt wurde. Sie teilte das Land in zwei Zonen. Paris geriet zusammen mit dem Norden und Westen, darunter der gesamten Atlantikküste, unter Naziherrschaft. Das unbesetzte Gebiet im Süden blieb unter französischer Kontrolle, solange es den Deutschen gefiel.

Am 1. Juli 1940 ließ sich die französische Regierung im vornehmen Badeort Vichy in der Auvergne nieder, der wegen der zahlreichen komfortablen Hotels ausgewählt worden sein soll. Dort ratifizierte sie rasch den Waffenstillstand, schaffte die Dritte Republik ab und setzte die parlamentarische Demokratie außer Kraft. Damit lag alle Macht in den Händen des Staatsoberhaupts Pétain, der Pierre Laval zu seinem Chefminister ernannte. Die Bereitschaft des Vichy-Regimes, die Ideologie der Nazis zu übernehmen, war so groß, dass es Anfang Oktober 1940 aus eigenem Antrieb und ohne jeglichen Druck der Deutschen antijüdische Vorschriften einführte.

Solche Details der Geschichte sind in Christian Diors Autobiographie nicht zu finden. Dort erzählt er von einem ruhigen Leben in ländlicher Abgeschiedenheit. Seine Schilderung dieser Idylle wirkt umso überraschender, wenn man den Hintergrund des Krieges bedenkt, der seine Schockwellen durch ganz Europa sandte und auch in Frankreich heftige politische Erdstöße auslöste.

Christian hingegen beschreibt die Ruhe der Dorfidylle: »Ich … fand mich plötzlich weit weg von Stoff und Pailletten wieder und musste mich auf ein ganz anderes Leben der Arbeit auf den Feldern in der Gesellschaft von Bauern einstellen … Erneut ohne einen Sou – denn es versteht sich von selbst, dass ich keine Ersparnisse gemacht hatte –, vergaß ich schnell die Couture. Zum ersten Mal mitten auf dem Lande lebend, entdeckte ich meine Liebe … zur langsamen und harten Feldarbeit, dem Zyklus der Jahreszeiten und dem sich immer wieder erneuernden Geheimnis des Keimens und Werdens.«

Da ich seine Worte lese, bin ich betroffen von Christians Pragmatismus und diesem stillen Enthusiasmus. Natürlich muss auch zu Krisenzeiten jemand säen und ernten. Doch so ungewöhnlich es für einen ehemaligen Studenten der Politikwissenschaft klingen mag, stellte er lediglich fest: »Da ich … den Landwirt in mir entdeckt hatte, kehrte ich nach Les Naÿssès zurück … und entschloss mich, zusammen mit meiner Schwester den schmalen Streifen Land rings um das Haus zu bepflanzen. Callian … liegt über einer herrlichen Ebene …, die sich zum Anbau von Gemüse eignet. Und das war in dieser Zeit der Knappheit auf den Märkten sehr gefragt.«

Zweimal in der Woche fuhren er und Catherine nun gemeinsam nach Cannes, um ihr Gemüse auf dem Markt zu verkaufen und Freunde zu treffen, von denen viele beim Anrücken der Deutschen ebenfalls aus Paris geflohen waren und im Süden Zuflucht gefunden hatten. Zu dieser Gruppe gehörten der Illustrator René Gruau (der Christian half, als Zeichner Aufträge für die Modeseiten des Figaro zu bekommen) und ein aufstrebender Innenarchitekt namens Victor Grandpierre. Gemeinsam belebten sie die Riviera bald mit Partys und Amateur-Aufführungen, bis ihre Zusammenkünfte von der Vichy-Regierung verboten wurden, weil diese sie für skandalös hielt. Denn in diesem Kreis von Malern, Musikern, Schriftstellern und Schauspielern gab es eine Anzahl schwuler Männer, darunter Christian, die das unkonventionelle Element des französischen Künstlerlebens repräsentierten, das dem Vichy-Regime Pétains ein Dorn im Auge war.

Der hochgeehrte Veteran des Ersten Weltkriegs Marschall Philippe Pétain war eine populäre Wahl als Führer der konservativen Elemente der französischen Bevölkerung – nicht nur der »Löwe von Verdun«, der in jener endlosen Schlacht vor einem knappen Vierteljahrhundert schließlich den Sieg errungen hatte. Seine treuen Anhänger begrüßten die »Nationale Revolution«, eine Kampagne zur Wiedererrichtung des »Guten Frankreichs«, das von katholischer Moral und den traditionellen Werten der Familie geprägt sein sollte. Der Wahlspruch der Französischen Republik »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« wurde durch die Devise »Arbeit, Familie, Vaterland« ersetzt.

Als Galionsfigur des französischen Staates repräsentierte Pétain eine patriarchalische Autorität und behauptete rasch, die Entscheidung, mit Deutschland zu kollaborieren, sei ein patriotischer Akt. Das verkündete er nach seiner historischen Begegnung mit Hitler in Montoire-sur‑le-Loir am 24. Oktober 1940. In einer Rundfunkrede an das französische Volk vom 30. Oktober pries er den Wert der Vereinbarung, die er mit Hitler geschlossen hatte: »Ich betrete in Ehren den Weg der Kollaboration, um die Einheit Frankreichs zu erhalten – eine Einheit von zehn Jahrhunderten – und dies im Rahmen des Aufbaus einer neuen europäischen Ordnung. … Folgen Sie mir. Bewahren Sie Ihr Vertrauen in das ewige Frankreich.«

Was zumindest im Rückblick so außergewöhnlich erscheint: Die Menschen waren nicht nur bereit, sich Pétain zu beugen, als er die Demokratie abschaffte, sondern sie taten das auch in dem festen Glauben, er sei ihr Retter. Der über achtzigjährige Marschall wurde zu einer Ikone, die bald Broschen, Lesezeichen, Medaillen und Tücher schmückte und in Schaufenstern einen Ehrenplatz erhielt.

Janet Flanner sah dieses Phänomen mit der für sie charakteristischen Klarheit. Im New Yorker schrieb sie über »den verbreiteten Kult des Marschalls«, der in den ersten Jahren der Besatzung in großen Teilen des Landes herrschte, insbesondere in Vichy-Frankreich: »Für viele Millionen Franzosen … wurde der Mythos Pétain zu einer ganz eigenen esoterischen Staatsreligion. Die Niederlage, der Zusammenbruch und die Teilung Frankreichs hatten das französische Volk in einen schweren physischen Schockzustand versetzt, wie er bei nicht mehr jungen Menschen auftritt, die grausame Schläge, eine schwere Gehirnerschütterung oder die Agonie einer Amputation erlebt haben. In diesem Zustand war alles Französische in Frankreich nahezu abgestorben. Als die Menschen nach und nach wieder zu sich kamen, wurden sie von Reue geplagt und verfielen in einen benommenen Zustand, in dem der Marschall ihnen als der Heiler erschien, der ihr Leben gerettet hatte, und als Heiliger durch seine Fürsprache bei höheren Mächten auch ihre Seele. Pétain wurde eine Ikone an einer heiligen Quelle, Vichy eine Art politisches Lourdes …«

Diesem eifernden autokratischen Regime war es wichtig, Frankreich von dem Makel der Korruption und der Unvergänglichkeit zu reinigen. Gleichzeitig mit der Verkündung seiner grausamen antijüdischen Gesetze und als Ausdehnung des Programms der »Arisierung« auf das besetzte Gebiet führten die Vichy-Behörden die Zensur ein, errichteten Internierungslager, verboten Gewerkschaften und politische Parteien, kontrollierten Postsendungen, hörten Telefone ab und verurteilten alle Formen moderner Kultur, darunter den Jazz, als »unanständig« oder »sittenlos«. Bei dieser Kampagne erhielten sie die uneingeschränkte Unterstützung der faschistischen Presse Frankreichs. Der fanatische Kreuzzug des Vichy-Regimes gegen »Dekadenz« und »entartete Kunst« nahm solche Ausmaße an, dass Christian Dior mit seiner Liebe zur modernen Malerei und seiner Sexualität persönlich in Gefahr geriet, was Catherine sicher bewusst war.

Als die Wirtschaft weiter verfiel und Lebensmittel immer knapper wurden, zogen Catherine und Christian ihr Gemüse nur noch für den eigenen Bedarf. Doch das Leben wurde ständig schwerer, selbst in einem entlegenen Dorf wie Callian. Die Deutschen beschlagnahmten riesige Mengen französischer Erzeugnisse. Lebensmittel und Industriewaren, Benzin, Rohstoffe, Kunstwerke, Möbel und vieles andere wurde nach Deutschland verbracht. Frankreich wurde mit weit überzogenen Kosten der Besatzung belegt. Bereits im September 1940 hatte man die Lebensmittel rationiert. Da Milch, Butter, Eier, Olivenöl und Rindfleisch immer schwerer zu bekommen waren, stieg die Zahl der Fälle von Unterernährung rasant an.

Als die Herbsternte des Jahres 1941 eingebracht war, beschloss Christian widerwillig, nach Paris zurückzugehen, um dort nach Arbeit als Zeichner zu suchen, während Catherine beim Vater und Marthe Lefebvre in Callian blieb. Doch bald nach der Abreise des Bruders begegnete sie dem Mann, der ihr ganzes Leben verändern sollte – einem Helden der französischen Résistance namens Hervé des Charbonneries.