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Dunkelheit bricht herein

Von Catherines Haft in Paris nach den Verhören in der Rue de la Pompe ist nichts geblieben als eine schmale Akte im Militärarchiv von Caen: ein paar vergilbte Blätter mit den handschriftlichen Daten ihrer Verlegung von einem Gefängnis zum anderen. So untilgbar die Tinte, so unpersönlich die Angaben: Zunächst wird sie noch mit Namen und Geburtsdatum geführt, doch bald ist sie nur noch eine Nummer. Catherine selbst bleibt stumm. Erst wenn man die Worte einiger anderer Frauen zusammenfügt, die über die gemeinsamen Erlebnisse Tagebuch geführt haben, verschwindet sie nicht ganz. Diese Art Auslöschung war genau das, was die Nazis für politische Gefangene anstrebten. Im Dezember 1941 war ein »Nacht- und Nebelerlass« Hitlers ergangen, der anwies, dass Gegner des Dritten Reiches spurlos verschwinden und nicht einmal ihre Familien je wieder etwas von ihnen hören sollten. Die Ungewissheit über ihr Schicksal war Teil der Strafe und ein weiteres Mittel, um die Bevölkerung der besetzten Länder in Angst und Schrecken zu halten.

Als Catherine Dior im Juli 1944 in das Gefängnis von Fresnes südlich von Paris verlegt wurde, war dieses bereits voll von Anhängern der französischen Résistance und Agenten der British Special Operations Executive (SOE)1, die dort unter haarsträubenden Bedingungen ausharren mussten. Fresnes, damals Frankreichs größtes Gefängnis, war von 1895 bis 1898 erbaut worden. Die düsteren Zellen, eiskalt im Winter und stickig im Sommer, galten seit jeher als Brutstätten von Flöhen und anderem Ungeziefer. Viele Gefangene hatte man gefoltert, bevor man sie in Fresnes wegsperrte; andere wurden auch dort weiter verhört.

Agnès Humbert, eine Kunsthistorikerin, die als eine der ersten eine Widerstandsgruppe in Paris gründete, saß 1942 zwei Monate lang in einer Einzelzelle von Fresnes, bevor sie nach Deutschland deportiert wurde. Ihr Tagebuch legt Zeugnis ab von den Schrecken, die dort herrschten. Am 20. Januar 1942 schrieb sie: »Gestern habe ich einen Mann unter der Folter schreien hören. Als seine Schreie verstummten, folgte ein tiefes, kollerndes Lachen. Ich weiß nicht, was schlimmer war. Das Lachen, denke ich … Viele nehmen sich das Leben.« Doch die Häftlinge von Fresnes fanden Wege, selbst in Einzelhaft miteinander zu kommunizieren. Dadurch stärkten sie das Gefühl von Solidarität und Kameradschaft. Sie ließen sich viele Tricks einfallen, um Nachrichten von Zelle zu Zelle zu senden – Klopfsignale an den Mauern, Töne, die sie durch Rohrleitungen und Lüftungsschächte schickten. Zu verabredeten Zeiten sangen sie gemeinsam die Marseillaise, um ihrem Mut und ihrem Widerstand Ausdruck zu geben.

Virginia d’Albert-Lake, eine junge Amerikanerin, die zusammen mit ihrem französischen Ehemann zur Résistance stieß, wurde kurz vor Catherine Dior verhaftet. Wie Agnès hat auch Virginia anschauliche Erinnerungen an die Zeit in Fresnes im heißen Juli 1944 hinterlassen. »Es war absolut verboten, das fest verriegelte Fenster zu öffnen … Zweimal in der Woche gestattete man uns einen ›Spaziergang‹. Im Gänsemarsch wurden wir ins Parterre und durch einen langen Gang geführt, der zu einer Reihe kleiner, rechteckiger Höfe führte … Man gewährte uns die ›Freiheit‹, zwanzig Minuten lang auf dem Hof zu verweilen, die ›Freiheit‹, in den Himmel zu schauen … Manchmal zwängte ich mein Gesicht zwischen die Gitterstäbe, und der Anblick von Gras und Bäumen draußen brachte mir eine merkwürdige Illusion von Freisein. Aber die währte nicht lang. Bald konnte ich vor Tränen nichts mehr sehen.«

Ende Juli brachte man Catherine Dior mit einer größeren Gruppe Angehöriger der Résistance, darunter Virginia d’Albert-Lake von Fresnes nach Romainville. Die Festung am östlichen Stadtrand von Paris galt als Zwischenstation für Häftlinge, die nach Deutschland deportiert werden sollten. Dort waren die Bedingungen ein wenig besser, doch täglich wuchs die Angst: Bei einem Appell, der jeden Tag um 16.00 Uhr stattfand, wurden die Namen derer verlesen, die für den nächsten Transport bestimmt waren. Der startete eine Stunde später. »Ich habe die Frauen bewundert, die aufgerufen wurden«, schrieb Virginia in ihr Tagebuch. »Kaum eine zeigte, was sie wirklich fühlte. Sie hielten sich gerade, die Köpfe hoch erhoben. Manchmal lächelte eine oder wandte sich um und winkte einen Abschiedsgruß. Andere riefen: ›Au revoir, à bientôt! Vive la France!‹ Das ging mir durch und durch.«

Besuche oder Briefe waren in Romainville verboten. Doch die Frauen fanden auch hier Wege, um Freunden und Angehörigen Nachrichten zukommen zu lassen. Sie steckten jenen, die auf Transport gingen, hastig dicht beschriebene Zettel zu. Die ließen sie heimlich aus den Busfenstern fallen in der Hoffnung, Passanten könnten sie aufheben und den Adressaten zustellen. Die zurückbleibenden Frauen hörten die sich nähernden Salven der Artillerie und beteten um baldige Rettung durch die vorrückenden Truppen der Alliierten. Die kamen in den ersten Wochen nach D‑Day nur langsam voran. Die Verluste, mit denen sie sich vorwärtskämpften, waren schwerer als jene während der Schlacht an der Somme im Ersten Weltkrieg. Doch Ende Juli gelang es amerikanischen Einheiten endlich, die Stadt Avranches in der Normandie zu erobern und den Weg nach Paris freizumachen. Nach zehn Tagen in Romainville deutete der Gefängnischef gegenüber Virginia d’Albert-Lake an, sie werde wohl eher von ihren Landsleuten befreit als nach Deutschland deportiert werden. Unter den Frauen breitete sich Optimismus aus.

Inzwischen hatte Christian Dior herausbekommen, dass Catherine in Romainville einsaß. Verzweifelt tat er alles, um ihre Deportation zu verhindern. Er bat Suzanne Luling, eine Freundin aus Kindheitstagen in Granville, beim schwedischen Generalkonsul in Paris, Raoul Nordling, den sie gut kannte, um Hilfe nachzusuchen. In ihren Erinnerungen schildert Luling das fiebrige Klima, das zu jener Zeit in der Stadt herrschte. Christian habe »Todesangst« um seine Schwester ausgestanden, schreibt sie. Tatsächlich gelang es ihr, Kontakt zu Nordling aufzunehmen, der bereits alle Hebel in Bewegung setzte, um die politischen Gefangenen in und um Paris zu retten. Darunter war auch der Ehemann seiner eigenen Nichte, dem man vorwarf, Piloten der Alliierten Unterschlupf gewährt zu haben. Selbst wenn man die Gefangenen nicht mehr deportierte, bevor die Alliierten die Stadt befreiten, befürchtete Nordling, sie könnten von der SS umgebracht werden, wie es bereits in Caen geschehen war. Dort hatte man auf Anordnung der Gestapo am Tag der Landung der Alliierten neunzig französische Häftlinge erschossen.

Als Diplomat und Geschäftsmann war Nordling im Umgang mit Gegnern geübt. Er saß im Vorstand eines schwedischen Kugellager-Herstellers, der sowohl die Deutschen als auch die Briten belieferte. Am 10. August traf er mit zwei Männern zusammen, von denen er sich Hilfe erhoffte – einem Agenten der deutschen Abwehr namens Emil »Bobby« Bender mit engen Kontakten zu Militär- und Diplomatenkreisen in Paris, und dem österreichischen Offizier Erich Posch-Pastor von Camperfeld. Beide arbeiteten bereits für den britischen Geheimdienst und waren bereit, hinter den Kulissen alles zu unternehmen, um zu erreichen, dass die politischen Gefangenen in die Obhut des Roten Kreuzes übergeben wurden. Nordling beabsichtigte auch, den französischen Politiker Pierre Laval zu bewegen, sich für die Gefangenen einzusetzen, hatte aber noch keinen Termin für eine Audienz erhalten. Außerdem rief der schwedische Diplomat den deutschen Botschafter Otto Abetz an und sprach mit ihm über den Fall von Georges Bruhat, dem Physikprofessor, den man festgenommen und in der Rue de la Pompe gefoltert hatte, weil er sich weigerte, den Namen eines Studenten mit Kontakt zur Résistance preiszugeben. Abetz entgegnete ärgerlich, Bruhat lehre an einer »Mörderschule«, und die Gestapo gehe »zu sanft mit solchen Leuten um«. Als Nordling Abetz fragte, ob er die Ermordung politischer Gefangener in Caen billige, meinte der Botschafter nur, die Erschießung sei die einzig mögliche Lösung gewesen.

Am 14. August, dem Vorabend von Mariä Himmelfahrt, schmückte Yvonne Baratte, eine der Widerstandskämpferinnen, die man in der Rue de la Pompe so grausam gefoltert hatte, in Romainville einen winzigen Behelfsaltar in Gestalt eines selbstgefertigten Kruzifixes mit Blümchen, die sie auf einem der Höfe gesammelt hatte. Sie und weitere Gefangene erwarteten am nächsten Morgen den Besuch eines Priesters, um mit ihm die Messe zu Ehren der Jungfrau Maria zu feiern. Doch in der Nacht teilte ein deutscher Wärter namens Kratz Yvonne und ihren Kameradinnen mit: »Keine Messe, keine Messe … Ihr geht alle auf Transport nach Deutschland, alle in den Tod …, alle in den Tod.« Diese schaurige Szene beschreibt Maisie Renault, eine andere streng katholische Gefangene, in ihren Erinnerungen. Sie hatte der Bruderschaft Notre Dame, einer von ihrem Bruder Gilbert gegründeten Widerstandsgruppe, angehört, welche die Freien Franzosen in London mit wichtigen Informationen versorgte.

Yvonne blieb so standhaft wie einen Monat zuvor in der Rue de la Pompe. Dort war es ihr irgendwie gelungen, ihre Mutter anzurufen. »Maman, courage«, hatte sie ihr nur sagen können. Jetzt, in Romainville, schrieb sie in ihrem letzten Brief an die Familie: »Ich bin voller Hoffnung. Sie werden nicht mehr dazu kommen, uns von hier fortzubringen … Ich liebe euch alle und bin sicher, dass wir uns bald wiedersehen.«

Am 15. August 1944, kurz vor dem Morgengrauen, setzten die Alliierten Operation Dragoon, die Invasion in Südfrankreich, in Gang. Nach heftigen Bombenangriffen aus der Luft und Beschuss der deutschen Befestigungsanlagen durch Schiffsartillerie landeten sie an den Stränden der Mittelmeerküste. Da die Alliierten nun in Frankreich an zwei Fronten kämpften, erschien die militärische Lage hoffnungsvoll. Doch der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen, General Dwight D. Eisenhower, dessen Stab sich zu dieser Zeit bei Granville in der Normandie befand, hatte bereits den strategischen Entschluss gefasst, die Befreiung von Paris aufzuschieben, die Stadt zunächst zu umgehen und einzukreisen. Dabei ließ er sich von dem Gedanken leiten, die Einnahme der Hauptstadt könnte schwere, langanhaltende Straßenkämpfe erfordern und damit wertvolle Ressourcen, vor allem an Treibstoff und Nahrungsmitteln, vom übergeordneten Ziel abziehen, das lautete, vor Wintereinbruch den Westwall zu überwinden, über den Rhein zu setzen und in Deutschland einzumarschieren.

Am 15. August um 8.00 Uhr morgens wurde den Frauen in Romainville befohlen, ihre Sachen zu packen, da sie in der Tat deportiert werden sollten. Doch dann gab es Fliegeralarm, und sie wurden in Kellern eingeschlossen, die man in die Festungswälle gegraben hatte. Dort blieben sie fast den ganzen Tag. Mit jeder Stunde stieg die Hoffnung, die Alliierten könnten Paris noch rechtzeitig erreichen und sie retten. Oder die Bahnstrecken könnten von Bomben zerstört werden. Doch gegen 16.00 Uhr hörten sie das bekannte Brummen der beschlagnahmten Autobusse der Stadt, die ins Lager rollten. Was dann geschah, hat Virginia d’Albert-Lake beschrieben: »Sie hielten vor den vergitterten Eingängen unserer Keller, und Männer der Waffen‑SS stiegen aus – die Sorte mit den grausamen Gesichtern und den brutalen, zackigen Bewegungen. Sie befahlen uns, in die Busse zu steigen, die bald so voll waren, dass wir in der Hitze kaum noch Luft bekamen.« Ihr gelang es, den französischen Busfahrer zu bestechen, damit er den Familien der Frauen die Nachricht von der unmittelbar bevorstehenden Deportation zuspielte. Er flüsterte ihr zu, er fahre bereits den ganzen Tag Häftlinge zum Bahnhof Pantin, und es heiße, die Alliierten stünden bereits bei Rambouillet, knapp fünfzig Kilometer vor Paris.

Da die Häftlinge in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen wurden, kam Catherine Dior mit Virginia in einen Bus. Wie alle anderen war dieser so überfüllt, dass er den steilen Anstieg außerhalb der Festung nicht bewältigte. Die Frauen beteten, es möge eine weitere Verzögerung geben. Doch sie erhielten den Befehl auszusteigen und zu Fuß zu gehen. Als der leere Bus oben ankam, mussten sie wieder einsteigen. Dann fuhren sie durch Paris, wo sie sehen konnten, dass viele Deutsche bereits für den Abzug packten.

Ernst Jünger war am Tag zuvor abgereist, nachdem er sich von Florence Gould und weiteren engen Freunden verabschiedet hatte. Am 8. August notierte er in seinem Tagebuch: »Noch einmal auf der Plattform von Sacré Cœur, um einen Abschiedsblick auf die große Stadt zu tun. Ich sah die Steine in der heißen Sonne zittern, wie in der Erwartung neuer historischer Umarmungen. Die Städte sind weiblich und nur dem Sieger hold.«

Hitler hingegen wollte nicht begreifen, dass Deutschland bereits besiegt war. In seinem psychotischen Glauben an sich selbst fühlte er sich durch das gescheiterte Attentat des Obersten Claus von Stauffenberg und anderer vom Monat zuvor bestärkt. Sein Überleben sah er als eine göttliche Fügung an.

Virginia d’Albert-Lake schildert in ihrem Tagebuch die Busfahrt durch die Pariser Straßen voller Menschen, welche die Frauen in den Bussen anstarrten. In manchen Gesichtern war Mitleid zu lesen. Die Nachricht von der Landung der Alliierten an Frankreichs Südküste hatte sich inzwischen herumgesprochen, und Virginia fürchtete, sie könnte den Tag der Befreiung verpassen, »den Tag, den ich seit fast fünf Jahren herbeisehnte«. Bereits zehn Tage später, am 25. August, sollte die deutsche Garnison in Paris kapitulieren.

Schließlich erreichten die Busse den Gare de Pantin, wo sie ihre menschliche Fracht am »quai aux bestiaux«, der Verladerampe für Vieh, ausspien. »Die meisten Pariser Bahnhöfe hatten die Alliierten bereits zerbombt, doch der kleinere in einer Vorstadt war bislang intakt geblieben«, schrieb Virginia. »Auf allen Gleisen drängten sich die Waggons, denn dies war einer der wenigen Orte in der Hauptstadt, von denen sich die Deutschen mit allem, was sie mitschleppten, noch absetzen konnten. Unsere Busse hielten an einem Gleis, auf dem eine schier endlos erscheinende Reihe von Viehwagen wartete. Soweit ich erkennen konnte, lugten überall aus den schmalen Luftschlitzen und Spalten in den nicht ganz geschlossenen Türen ängstliche Gesichter. Auf diese Weise wollte man uns also transportieren! Ich war so fassungslos, dass ich automatisch zögerte, aus dem Bus zu steigen. Da erhielt ich von einer SS‑Wärterin einen so brutalen Stoß in den Rücken, dass ich, ohne es zu wollen, durch die gähnend offene Tür des nächsten leeren Wagens stolperte …«

Die Frauen, die man in der Rue de la Pompe verhört hatte, mussten schockiert feststellen, dass zwei ihrer Peiniger – Rachid Zulgadar und Théodore Leclercq – ihre Verladung in die Eisenbahnwagen überwachten, als wollten sie sichergehen, dass ihr Vieh tatsächlich zum Schlachthaus abtransportiert wurde. Auch der Doppelagent Emil Bender war zur Stelle und versuchte, die Abfahrt des Zuges durch Beeinflussung des diensthabenden SS‑Offiziers zu verzögern.

Raoul Nordling bemühte sich nach wie vor, die Häftlinge zu retten. Dem schwedischen Diplomaten war es endlich gelungen, an diesem Tag um 21.30 Uhr von Otto Abetz und Pierre Laval in Lavals Pariser Residenz, dem Hôtel Matignon an der Rue de Varenne, empfangen zu werden. Die Lage in Paris änderte sich stündlich. An diesem Tag war die Pariser Polizei in den Streik getreten, und in der Stadt gab es keinen Strom. In Lavals Büro brannte eine Petroleumlampe, und Abetz hatte eine Taschenlampe bei sich. Nordling flehte die beiden an, gegenüber den Häftlingen, die in überfüllten Viehwagen in Pantin eingepfercht waren, Gnade walten zu lassen. Beide lehnten mit der Erklärung ab, sie hätten Wichtigeres zu tun.

Damit verließ kurz vor Mitternacht der letzte Zug von Deportierten, mit 2100 Männern und 400 Frauen beladen, Paris. Unter ihnen waren 168 Angehörige der Luftstreitkräfte der Alliierten, die man in Frankreich festgenommen hatte und nicht als Kriegsgefangene, sondern als »Terroristen« behandelte, weil sie von feindlichem Gebiet aus zu fliehen versucht hatten. Virginia d’Albert-Lake erkannte einen amerikanischen Piloten, den sie und ihr Ehemann eine Zeitlang beherbergten, als sie für die Comet Escape Line tätig waren, eine Organisation, die über dem besetzten Gebiet abgeschossenen Soldaten der Alliierten Unterstützung gewährte. In dem Zug befanden sich auch zwei SOE-Agentinnen: Eileen Nearne, eine 23‑jährige Funkerin, welche die Gestapo bereits im Juli gefasst und gefoltert hatte, und Alix d’Unienville, die am D‑Day in Paris verhaftet wurde. Fünf Männer, darunter Oberst André Rondenay, General de Gaulles militärischer Repräsentant in Paris, wurden von der SS aus dem Zug geholt und von einem Gestapo-Kommando in einem Wald nördlich von Paris erschossen. Die Leichen von sechs Frauen, die die Hitze in den Güterwagen nicht überlebt hatten, wurden ausgeladen und bei Pantin in den Graben am Bahndamm geworfen. Die Wagen boten keinen Raum, um zu sitzen oder sich gar hinzulegen. Viele Insassen waren bereits bedrohlich dehydriert. Trotzdem stimmten jene, die dazu noch imstande waren, die Marseillaise an, als der Zug aus dem Bahnhof rollte.

Die Bemühungen um die Rettung der Häftlinge gingen an mehreren Fronten weiter. Raoul Nordling war mit seinen Verhandlungen noch nicht am Ende. Er kämpfte sich sogar zu dem frisch ernannten Militärbefehlshaber von Paris, General von Choltitz, durch und versuchte diesen zu überzeugen, die Häftlinge freizulassen, bevor der Zug Frankreich verließ. Auch die Résistance hatte ein Signal erhalten, die Eisenbahnstrecke durch einen Sabotageakt zu unterbrechen, damit der Zug mit den Deportierten Deutschland nicht erreichte. In den frühen Morgenstunden des 16. August wurde die Fahrt gestoppt. Eine Widerstandsgruppe hatte hinter dem Tunnel von Nanteuil-Saâcy, knapp achtzig Kilometer von Paris entfernt, etwa sechzig Meter Gleis zerstört. Die SS‑Wachen befahlen, den Zug in den Tunnel voller Rauch zurückzufahren. Die Gefangenen in den Wagen rangen nach Luft. In ihren Erinnerungen schreibt Virginia d’Albert-Lake: »Ließ man uns nun, verurteilt zu einem langsamen Tod in diesem schwarzen Gewölbe stehen? Hitze und Durst waren inzwischen nahezu unerträglich …« Doch nach dreieinhalb Stunden schob die Lok den Zug aus dem Tunnel heraus, die Wagentüren wurden geöffnet und die Insassen gezwungen, sechs Kilometer weit zu Fuß bis zu einem anderen Zug zu gehen. Dabei versuchten drei Frauen zu fliehen. Nicole de Witasse lief auf einen Bauernhof und vergrub sich in einem Haufen Stroh hinter einem Heuwagen, wurde aber von den SS‑Wachen gefunden, herausgezerrt und geschlagen. Auch die beiden SOE-Agentinnen unternahmen einen Fluchtversuch. Alix d’Unienville tauchte in einer Toreinfahrt unter und wurde dort von Anwohnern versteckt, bis die Alliierten zwei Wochen später eintrafen. Weniger Glück hatte Eileen Nearne. Nachdem man sie wieder eingefangen hatte, wurde die Warnung ausgegeben: Sollte es zu einem weiteren Fluchtversuch kommen, werde man alle Insassen des betreffenden Wagens erschießen.

In Paris schmiedeten am selben Tag Friedrich Berger und seine Bande Pläne, wie sie die Stadt verlassen könnten. Doch auch jetzt führten sie gemeinsam mit den deutschen SS‑Offizieren Wenzel, Kleindienst und Kley noch Schläge gegen die Résistance. Bis zum Abend erschossen sie bei einem wilden Gemetzel 42 junge Widerstandskämpfer: 34 im Bois de Boulogne nahe der Avenue Foch, sieben in der Rue de Leroux und einen der Anführer. Den 28 Jahre alten Arzt namens Henri Blanchet, erschoss Berger selbst in der Avenue Victor Hugo. Die Toten wurden in einem abgelegenen Teil des Bois de Boulogne abgeworfen. Am nächsten Morgen fand man die verstümmelten Leichen in der Nähe eines Wasserfalls. Man hatte sie mit Maschinengewehren und Handgranaten ermordet. Die meisten waren keine fünfundzwanzig Jahre alt, der Jüngste, Jacques Delporte, erst siebzehn.

Wie so oft bei Bergers Aktionen war an einem der Tatorte Dr. Fernand Rousseau zur Stelle. Er und seine Frau wohnten der Erschießung von Dr. Blanchet bei. Danach steckte Berger Madame Rousseau ein Bündel Fünftausend-Franc-Noten zu. Beim Verhör durch die Justizermittler behauptete sie später, sie habe nicht gewusst, wie viel es gewesen sei. Denn an jenem Abend hatte die Rousseaus bereits die Angst gepackt. Wie einigen anderen Kollaborateuren waren ihnen per Post zwei kleine Särge zugegangen – eine Drohung jener, die über ihre Rolle während der Okkupation Bescheid wussten. Das Paar schloss sich Berger und einem bunt zusammengewürfelten Haufen seiner Männer samt Ehefrauen und Geliebten sowie ausgewählten Gestapo-Offizieren an, die am 17. August in einem Auto-Konvoi aus Paris flohen. Darin saßen ungefähr fünfzig Personen, die große Mengen Bargeld bei sich hatten.

Das war der Tag, an dem die Masse der deutschen Truppen aus Paris abzog. Wie es der Journalist Jean Galtier-Boissière, ein Freund von Catherines Bruder Raymond, nannte, war dies »die große Flucht der Fritzen«. In sein Tagebuch schrieb er am 17. August: »Auf allen Hauptverkehrsstraßen drängten sich Hunderte von LKWs, voll beladenen Personenwagen, motorisierte Artillerie, Krankenwagen voller Verwundeter auf Tragen. Sie schoben sich in endlosen Reihen vorwärts oder überholten und blockierten einander … In der Rue Lafayette sausten Generale mit Monokel wie blitzende Torpedos vorüber, begleitet von elegant gekleideten blonden Damen, die eher zu einem mondänen Strand unterwegs zu sein schienen …«

An diesem Morgen verließ auch Alois Brunner, der SS‑Kommandant des Internierungslagers Drancy nordöstlich von Paris, die Hauptstadt. Sein Drang nach der Deportation von Juden, den er während des Krieges als Adolf Eichmanns »bester Mann« bewiesen hatte, war nicht geringer geworden. Noch am 31. Juli hatte er in Drancy einen Zug mit 1300 Juden, darunter 327 Kinder und auch ein zwei Wochen alter neugeborener Junge, in Richtung der Gaskammern von Auschwitz auf die Reise geschickt. Die Deportationen von dort liefen seit März 1942, als das Lager noch von französischer Polizei bewacht wurde. Brunner war im Juni 1943 Kommandant des Lagers Drancy geworden. Bis August 1944 hatte er von dort fast 70 000 Juden per Bahn in die Vernichtungslager befördert. Brunners letzter Akt als Kommandant bestand darin, 51 Häftlinge in dem Zug mitzunehmen, mit dem er selbst nach Deutschland fuhr. Sie wurden in einen Güterwagen gepfercht, der mit Kreide die Aufschrift »Juden-Terroristen« trug. Der Jüngste war ein zwölfjähriger Junge, der in Buchenwald sterben sollte.

Nach Schätzungen verließen zehn- bis zwanzigtausend französische Kollaborateure gemeinsam mit den Deutschen Paris, darunter Pierre Laval und Frau. Marschall Pétain in Vichy erklärte sich selbst zum Kriegsgefangenen und ließ sich unter Bewachung abtransportieren. Sein Ziel wie das von Laval und den anderen verbliebenen Granden des Vichy-Regimes war das Hohenzollernschloss Sigmaringen hoch über der Donau in Süddeutschland. Dort stießen sie auf den Anführer der Milice, Joseph Darnand, und Louis-Ferdinand Céline, der später über diese Episode einen Roman mit dem Titel D’un château l’autre [Von einem Schloss zum anderen] veröffentlichte.

Als die Deutschen aus Paris flüchteten, hatten die Familien derer, die mit dem langsam vorwärtskriechenden Zug durch Ostfrankreich rollten, die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Marie-Hélène Lefaucheux, einem Mitglied der Résistance, war es gelungen, dem Zug per Fahrrad von Pantin bis Nanteuil-Saâcy zu folgen. Hier stieß sie auf ihren Ehemann Pierre, der in der langen Kolonne der Häftlinge längs der Bahnstrecke von einem Zug zum anderen marschieren musste. Marie-Hélène fand einen Wagen, mit dem sie dem Transport bis Bar‑le-Duc folgte. Was sie nicht wusste: Dieser Ort spielte für Christian Dior eine wichtige Rolle. Suzanne Luling hatte ihm mitgeteilt, Raoul Nordling habe eine Vereinbarung ausgehandelt, wonach für den Fall, dass der Zug am 16. August um 14.45 Uhr Bar‑le-Duc noch nicht passiert habe, Catherine an Schweden übergeben werden sollte. »Aber es war zu spät«, schrieb Luling in ihren Erinnerungen. Der Zug fuhr früher durch Bar‑le-Duc, womit die letzte Gelegenheit, Catherine zu retten, verschwunden war.

Am 17. August erreichte Marie-Hélène Lefaucheux bei ihrer Verfolgung der quälenden Fahrt ihres Mannes zur deutschen Grenze nach weiteren achtzig Kilometern die Stadt Nancy. Inzwischen hatte man bereits einen Häftling zur Vergeltung für die erfolgreichen Fluchtversuche erschossen. Mehrere andere waren wegen des Mangels an Luft und Wasser dem Tode nahe. Marie-Hélène stand am Ende eines Bahnsteigs und betete für ein Wunder. Aber das trat nicht ein. Als die lange Reihe der Wagen den Bahnhof verließ, hörte sie Angstschreie, die sich mit einem schwachen Gesang der Marseillaise mischten. Schließlich verstummte auch der.