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Die Unterwelt

In einem schnellen Wagen, den mein Mann steuert, brauchen wir für die Fahrt von Ravensbrück nach Torgau kaum drei Stunden. Catherine Dior, erneut in einen Viehwagen gepfercht, brauchte per Eisenbahn für diese Strecke drei Tage. Sie gehörte zu dem Kontingent von fünfhundert Frauen, die man in der zweiten Woche des September 1944 für die Fahrt nach Torgau ausgewählt hatte – einem von Dutzenden Außenlagern für Zwangsarbeiter, die zum Konzentrationslager Buchenwald gehörten.

Zwar habe ich Virginia d’Albert-Lakes Bericht über die Ankunft in Torgau, etwa 160 Kilometer südlich von Berlin, gelesen, doch auf der Karte kann ich den Standort des Außenlagers nicht finden. Bei Virginia heißt es, sie seien vom Bahnhof eine halbe Stunde dorthin marschiert und unterwegs an »Hunderten französischer Kriegsgefangener vorbeigekommen« (die sicher im Stalag IV–D von Torgau gefangengehalten wurden). Auf der Suche nach Informationen fahren wir zuerst zum Schloss Hartenfels, einer abweisenden mittelalterlichen Burg über der Stadt mit Blick auf die Brücke über die Elbe, wo sich sowjetische und amerikanische Truppen am 25. April 1945 begegneten. Die Burg ist heute ein Museum mit Archiv über ihre Geschichte als Gefängnis während des Zweiten Weltkriegs und zur Sowjetzeit. Eine große Ausstellung informiert über dieses düstere Erbe, aber auch dort wird das Außenlager nicht erwähnt. Zum Glück bietet mir ein hilfsbereiter Museumsführer an, mich mit dem Archivar des Museums bekanntzumachen, der den genauen Standort kennt. Ich starte also von Neuem zu dieser merkwürdigen Suche, begleitet von meinem geduldigen Ehemann.

Von dem Lager ist außer den vielen Menschen, die hier gestorben sind, keine Erinnerung geblieben. Es ist ödes Niemandsland, wo zwischen Gebüsch und Unkraut ein paar heruntergekommene Industriebauten stehen. Der Winterwind wirbelt den groben Staub der Straße auf, wo mein Mann geparkt hat und im Wagen wartet, während ich aussteige, um nach Spuren zu suchen. An die Kriegszeit scheint hier nichts mehr zu erinnern. Doch dann entdecke ich das stillgelegte Gleis einer Schmalspurbahn ähnlich jenem zur Siemensfabrik von Ravensbrück. Dem folge ich, über trockene Grasbüschel stolpernd, bis ich ganz allein in dieser Einöde stehe. Ich schaue in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Der Wagen ist außer Sicht, und der unendliche Novemberhimmel wird dunkler. Dann ist das Gleis zu Ende. Doch nach Antworten suche ich noch immer.

Virginia d’Albert-Lake beschreibt in ihrem Tagebuch den Augenblick, da die Frauen an den Aufsehern vorbei das Lager zum ersten Mal betraten und ihnen klar wurde, dass man sie zur Arbeit in eine Munitionsfabrik schickte. »Wir gingen über ein Abstellgleis, auf dem mehrere geschlossene Güterwagen standen. Als wir daran vorüberkamen, lasen wir die Aufschrift: »Munition« … Eine unangenehme Hitzewelle stieg in mir auf … Es sah aus, als werde man uns mitten in dieser Fabrik unterbringen …«

Zu der nach Torgau abgestellten Gruppe gehörte auch Jeannie Rousseau, eine 24‑jährige Widerstandskämpferin, die eine Woche vor Catherine Dior in Ravensbrück eingetroffen war. Sie sprach fließend Deutsch und hatte in Paris als Dolmetscherin für Wehrmachtoffiziere und französische Industrielle gearbeitet. So konnte sie dem britischen Geheimdienst wertvolle Informationen über die Entwicklung von Hitlers V‑2‑Rakete liefern, das Langstreckengeschoss, das gegen Ziele der Alliierten, darunter London, eingesetzt werden sollte. Gleich nach der Ankunft in Torgau rief sie die Frauen zusammen und erklärte ihnen, sie sollten auf ihr Recht nach der Genfer Konvention pochen, die es verbot, Kriegsgefangene zur Herstellung von Waffen zu zwingen.

Virginia schreibt weiter: »Wir sahen uns als Kriegsteilnehmer, und niemand, nicht einmal die Nazis, hatte das Recht, uns in einer Munitionsfabrik arbeiten zu lassen. Vielleicht sollte man die Frauen, die dieses Dokument initiiert und dafür gestimmt hatten, für ihren Mut bewundern, aber als die Häftlinge am Sonntagmorgen dem alkoholisierten Adjutanten, unter dessen Befehl sie jetzt standen, ihren Entschluss mitteilten, war ihnen nicht bewusst, dass sie gerade ein brennendes Streichholz an eine Sprengladung hielten … ›Das lässt sich machen‹, sagte er. ›Wer sich weigert, in der Fabrik zu arbeiten, wird einfach nach Ravensbrück zurückgeschickt.‹«

Die Aussicht, in die Hölle von Ravensbrück zurückkehren zu müssen, löste in der Gruppe verständlicherweise Unsicherheit aus. »Viele der Frauen änderten angesichts dieser Drohung ihre Meinung, und jene, die das Risiko auf sich nehmen wollten, waren wütend über die Feigheit ihrer Kameradinnen«, schrieb Virginia. Listen derer, die bleiben und die gehen wollten, wurden aufgestellt, aber der Streit ging weiter. Einige meinten, der Krieg sei fast vorüber, und die Munition, die sie produzierten, käme vielleicht gar nicht mehr zum Einsatz. Andere erklärten, in Ravensbrück erwarte sie ein »langsamer Tod«, und sie sollten »auf keinen Fall« zurückkehren. In ihrem Tagebuch gibt Virginia die Gründe einer Frau wieder, die sich dafür einsetzte, in Torgau zu bleiben: »Wir haben in Frankreich Eltern, Ehemänner und Kinder, die uns brauchen. Für die Zukunft Frankreichs werden wir gebraucht. Unsere Aufgabe ist noch nicht erfüllt. Wir tragen große Verantwortung für die Zukunft.« Virginia selbst war wie viele andere hin und her gerissen. »Ich wollte nicht feige sein«, schrieb sie. »Halbherzig entschied ich mich für Ravensbrück, aber eine Stunde später überzeugte mich jemand, das sei Wahnsinn, und ich ließ mich wieder von der Liste streichen … An diesem Tag haben wir alle gelitten … Wir schwankten zwischen Mut und Angst, zwischen Idealismus und Realismus, zwischen Stolz und Scham. Dabei lachten uns die Deutschen aus, verhöhnten uns, quälten uns, und taten am Ende doch, was sie wollten.«

Jeannie Rousseau wurde zur Strafe drei Wochen lang in eine Zelle gesperrt, wo man sie jeden Morgen mit kaltem Wasser übergoss und schlug. Die Mehrheit der Frauen, darunter Catherine Dior, musste in der Fabrik Kästen mit Kupferhülsen in ein Säurebad tauchen. Die Zwölfstundenschichten waren zermürbend, die Schwefeldämpfe fraßen an Lungen und Haut. Aber selbst dort waren die Frauen noch zu verdecktem Widerstand fähig. Sie machten die Maschinen unbrauchbar, so dass diese häufig stillstanden.

Virginia d’Albert-Lake hatte das Glück, der Küche zugeteilt zu werden, wo sie Gemüse putzen und später auf dem Feld Kartoffeln ernten musste. »Es war bereits Anfang Oktober, und man erwartete strengen Frost«, schrieb sie. Die Kartoffelparzellen waren über das ganze Gelände verstreut. Als Virginia von einer zur anderen ging, gewann sie eine Vorstellung davon, wie groß das Industrieobjekt war. In riesigen unterirdischen Kellern wurde Munition gelagert. Nur kleine von Gras und jungen Tannen überwachsene Lüftungsschächte verrieten sie. Bahngleise führten in mehrere Richtungen, aber Virginia sah keine Anzeichen von Häusern oder Zivilpersonen. »Ein düsteres Geheimnis schien über dem ganzen Ort zu liegen.«

Die Gruppe in Torgau galt als »französisch«, ihr gehörten aber auch fünf Agentinnen des britischen SOE an: Lilian Rolfe, Violette Szabo, Denise Bloch, Eileen Nearne und Yvonne Rudellat. Die Special Operations Executive SOE, unter der Hand »Churchills Geheimarmee« genannt, war im Juli 1940 in London gegründet worden, um im besetzten Europa Spionage, Sabotage und Aufklärung zu betreiben, aber auch lokale Widerstandsgruppen zu unterstützen. »Sektion F« operierte in Frankreich. Sie bestand aus 41 Agentinnen, von denen nur 25 den Krieg überlebten. Jene in Torgau gebrauchten weiterhin ihre Decknamen, doch für ihre Freundinnen in der Gruppe waren sie »die englischen Mädchen« oder »die kleinen Fallschirmspringerinnen«. Yvonne Rudellat, die Älteste der Gruppe, war 1897 in Frankreich geboren. Sie hatte über zwanzig Jahre in London gelebt, bis man sie dort anwarb. Sie war die erste Agentin, die am 30. Juli 1942 in Frankreich eintraf und wurde bald ein hocheffizientes Mitglied des größten Widerstandsnetzes der SOE, des Prosper Circuit. Doch im Juni 1943 wurde sie ergriffen und bei der Festnahme mit einem Kopfschuss verletzt.

Yvonne ging es bei der Ankunft in Ravensbrück im August 1944 nicht gut. Sie hatte bereits ein Jahr im Gefängnis von Fresnes gesessen und sich von der Kopfverletzung nicht wirklich erholt. Mit nur 47 Jahren war ihr Haar schlohweiß geworden; sie schwebte in größerer Gefahr als die jüngeren Frauen. Jede, die man für zu alt hielt, um Zwangsarbeit zu leisten, stand auf der Abschussliste. Solche Menschen zu töten, war laut Himmler ein »praktisches Erfordernis«, um eine maximale Effizienz der Lager zu sichern. Als unübersehbar wurde, dass sie zu krank war, um in Torgau zu arbeiten, schickte man sie nach Ravensbrück zurück und im März 1945 nach Bergen-Belsen. Halb verhungert, von Typhus und Ruhr geplagt, war Yvonne kaum noch am Leben, als die britische Armee am 15. April 1945 das Lager erreichte. Sie starb eine Woche später. Von Januar 1945 bis zur Befreiung wurden in Bergen-Belsen geschätzte 35 000 Häftlinge Opfer von Hunger und Krankheiten. Daher stießen die Befreier auf Berge unbestatteter Leichen. Weitere 14 000 starben in den folgenden zwei Monaten.

Auch Lilian Rolfe wirkte in Torgau recht schwach. Auf dem Marsch vom Bahnhof zum Lager stützte sie Jacqueline Bernard, eine französische Journalistin und Widerstandskämpferin, die kurz nach Catherine Dior in der Rue de la Pompe gefoltert worden war. Wie bei allen Frauen von Sektion F der SOE war Lilians wichtigste Qualifikation ihr fließendes Französisch. Sie hatte ihre ersten sechzehn Lebensjahre in Paris verbracht. Als sie Mitglied bei der Women’s Auxiliary Air Force (WAAF), den britischen Luftwaffenhelferinnen, war, wurde SOE Ende 1943 auf sie aufmerksam. Am 5. April 1944 sprang sie mit dem Fallschirm über Frankreich ab und arbeitete bis zu ihrer Verhaftung Ende Juli als Funkerin. Lilian wurde im Gefängnis von Fresnes mehrfach verhört und gefoltert und danach gemeinsam mit Denise Bloch und Violette Szabo am 8. August in Ketten per Eisenbahn nach Deutschland gebracht. Als sie in Ravensbrück zur Arbeit eingesetzt wurde, war Lilian so schwach, dass sie beim Sandschippen kaum die Schaufel halten konnte. Virginia d’Albert-Lake notierte in ihrem Tagebuch, in Torgau sei Lilian »sehr ruhig und verletzlich gewesen … Sie war von Anfang an dem Tod geweiht.«

Die übrigen drei SOE-Agentinnen wirkten stärker. Denise Bloch, 1916 in einer jüdischen Familie in Paris geboren, hatte man in London als Funkerin ausgebildet. Sie wurde im März 1944 mit dem Fallschirm über Frankreich abgesetzt. Virginia beschrieb sie als »ein hochgewachsenes, gutaussehendes Mädchen, das heftig in einen bekannten französischen Autorennfahrer verliebt war«. Dabei handelte es sich um ihren Agentenkollegen Robert Benoist, einen kühnen Grand-Prix-Sieger und Piloten des Ersten Weltkriegs, den man im Rang eines Hauptmanns in die britische Armee aufgenommen hatte. Er und Denise wurden gemeinsam verhaftet und im selben Zug nach Deutschland deportiert. Benoist kam nach Buchenwald, wo er Anfang September erschossen wurde.

Die beiden jüngsten SOE-Agentinnen in Torgau waren Eileen Nearne und Violette Szabo, beide erst 23 Jahre alt. Violette, Tochter eines englischen Taxifahrers und einer französischen Schneiderin, war in London zweisprachig aufgewachsen. Nach einer stürmischen Romanze im Sommer 1940 heiratete sie Etienne Szabo, einen Offizier der französischen Fremdenlegion, der bei Kämpfen in Nordafrika 1942 fiel. Ihre neugeborene Tochter hat er nie kennengelernt. Statt als junge Witwe mit Baby zu trauern, ließ sich Violette im Jahr darauf von der SOE anwerben und sprang Anfang April 1944 zu ihrer ersten Aufklärungsmission über Frankreich ab. Als sie ihren Auftrag erfolgreich erfüllt hatte, ging sie in Paris auf Einkaufstour und erstand im Modesalon Molyneux an der Rue Royale drei Kleider für sich selbst und eines für ihre Tochter, bevor sie sicher nach England zurückkehrte.

Zu ihrem zweiten Auftrag ließ sich Violette in den frühen Morgenstunden des 8. Juni 1944 über Frankreich absetzen, um mit der Résistance Verbindung aufzunehmen und diese nach dem D‑Day bei der Zerstörung von Verkehrsverbindungen der Deutschen zu unterstützen. Bereits zwei Tage später wurde sie an einer Straßensperre festgenommen, von der Gestapo in der Avenue Foch verhört, ins Gefängnis von Fresnes gebracht und schließlich zusammen mit Denise Bloch und Lilian Rolfe nach Ravensbrück deportiert.

Virginia d’Albert-Lake erinnert sich an Violette Szabo in Torgau als eine »junge, charmante und attraktive Frau. Wenn sie in meiner Nähe auf der Pritsche lag, streckte sie ihre Glieder wie eine Katze. Ich sah darin einen Ausdruck ihrer Lebenslust und des Wunsches, wieder in die Welt des Tanzes und der Gefahr zurückzukehren. Violette hegte ständig Fluchtpläne, die Nacht für Nacht riskanter wurden. Aber sie funktionierten nicht. Obwohl sie oft stundenlang auf ihre Chance lauerte, ist sie nie gekommen.«

Eileen Nearne hielt sich zurück, wollte aber auch unbedingt aus Torgau fliehen. Sie hatte einen englischen Vater und eine französische Mutter und wurde im März 1921 in London geboren. Eileen, von Freunden und Verwandten nur Didi genannt, hatte den größten Teil ihrer Kindheit in Frankreich verbracht. Sie und ihre ältere Schwester Jacqueline wurden von SOE angeworben, ebenfalls ihr Bruder Francis. Zur Funkerin ausgebildet, kam Eileen im März 1944 nach Frankreich und war bis zu ihrer Verhaftung am 21. Juli in Paris tätig. Nach dem brutalen, immer gleichen Verfahren von Verhör und Folter durch die Gestapo und Gefängnisaufenthalt in Fresnes deportierte man sie im selben Zug wie Catherine Dior im August nach Ravensbrück.

Eileen Mary 'Didi' Nearne MBE, Croix de Guerre (1921 - 2010). member of the UK's Special Operations Executive (SOE) during World War II. She served in occupied France as a radio operator under the codename 'Rose'. (Photo by: Universal History Archive/Universal Images Group via Getty Images)

Die SOE-Agentinnen, die zusammen mit Catherine Dior von Ravensbrück zur Zwangsarbeit nach Torgau geschickt wurden. Rechts oben beginnend, im Uhrzeigersinn: Lilian Rolfe, Denise Bloch, Violette Szabo Eileen Nearne, Yvonne Rudellat.

Am Ende der ersten Oktoberwoche wurden die Frauen von Torgau in zwei Gruppen aufgeteilt: Der einen Hälfte, darunter Catherine Dior und Eileen Nearne erklärte man, sie sollten in einer anderen Munitionsfabrik arbeiten. Die andere Hälfte, darunter Virginia, Violette, Denise und Lilian, wurde nach Ravensbrück zurückgeschickt. »Diese Teilung unserer Gruppe bereitete uns große Schmerzen«, schrieb Virginia in ihr Tagebuch. »Wir waren gemeinsam aus Paris abgefahren und seitdem stets zusammengeblieben. Die gleichen Ideen, das gleiche Leid und die gleichen Hoffnungen hatten uns zusammengeschweißt … Wir wollten zusammenbleiben. An jenem Morgen gab es viele tränenfeuchte Gesichter und manches gezwungene Lächeln …« Virginia und ihre Kameradinnen blieben nicht lange in Ravensbrück. Am 16. Oktober wurden sie als Zwangsarbeiterinnen in ein anderes Außenlager bei Königsberg geschickt. Dort wurde Lilian immer schwächer, und Denise litt an einer vereiterten Fußverletzung. Nur Violette blieb bemerkenswert hoffnungsvoll und sprach häufig davon, dass sie ihre kleine Tochter wiedersehen und mit ihr zu Weihnachten »God Save the King« singen werde. Mitte Januar hieß es für diese drei SOE-Agentinnen, sie sollten nach Ravensbrück zurückgebracht werden. Violette war sicher, dass man sie dort befreien werde. Einer französischen Freundin erklärte sie: »König George braucht uns. Wenn ich zurück bin, gehe ich zu ihm und verlange ein Flugzeug. Ich werde selbst hierher zurückkommen und euch retten.«

In Wahrheit erwartete sie in Ravensbrück ein grausamer Tod. Sie wurden zuerst in den Zellenblock gesperrt, wo sie mehrere Tage bleiben mussten. Dann wurden sie beim Krematorium erschossen. Lilian Rolfe und Denise Bloch waren inzwischen unheilbar krank. Da sie nicht mehr gehen konnten, wurden sie zu ihrer Hinrichtung geschleppt. Lagerkommandant Fritz Suhren sah zu, wie alle drei Frauen durch Genickschuss getötet wurden.

Am 9. Oktober 1944 gehörte Catherine Dior zu der Gruppe von 250 Französinnen, die von Torgau per Bahn, erneut in Viehwagen, in westlicher Richtung zu einem anderen Außenlager von Buchenwald namens Abteroda gebracht wurden. Das lag über 300 Kilometer weiter westlich in Thüringen. Als ich mich auf den Weg mache, um den Standort zu finden, scheint der noch abgeschiedener zu liegen als jener in Torgau. Während des Kalten Krieges war er noch stärker isoliert, denn es handelte sich um ein Gebiet Ostdeutschlands nahe der Grenze zum Westen mit sehr eingeschränktem Zugang. Als wir in die Straße einbiegen, die zu dem ehemaligen Lager führt, wird die schwache Nachmittagssonne bereits blasser. Ringsum kein Hinweisschild und kein Gedenkort. Ich stehe zwischen Äckern in einer ländlichen Gegend und kann die Kühe in den nahegelegenen Ställen brüllen hören. Der Archivar in Torgau hat eine detaillierte Karte für mich gezeichnet, aber hier sehe ich nur von Brennnesseln bewachsenes verlassenes Feld. Dann aber entdecke ich die Spur, nach der ich suche: Es ist der kleine, aus Backstein gemauerte Zugang zu einer versteckten Schachtanlage. Ein paar Stufen führen in pechschwarze Dunkelheit hinab, ein enges, gruseliges Loch im Boden.

Heute ist dort fast alles beseitigt, doch als Catherine eintraf, stellte BMW in einer ehemaligen Kaligrube Flugzeugtriebwerke her. Die stillgelegten unterirdischen Stollen hatte die Wehrmacht vor dem Krieg übernommen und zunächst als Munitionslager genutzt. Im Sommer 1944 wurde die Produktionslinie für Flugzeugmotoren im Eisenacher BMW-Werk, etwa 30 Kilometer von diesem Ort entfernt, durch Bomben der Alliierten zerstört. Man entschied, die Produktion in die versteckt liegenden Bergwerksstollen von Abteroda zu verlegen. Anfangs setzte BMW hier männliche Zwangsarbeiter aus dem Hauptlager von Buchenwald ein, aber dann kamen die 250 Französinnen aus Torgau hinzu. Die Ausbeutung von Zwangsarbeitern durch die Münchner BMW-Werke hatte im März 1942 begonnen. Damals wurden Häftlinge aus Dachau in der unweit errichteten neuen Fabrik eingesetzt. (Aus Anlass seines hundertjährigen Bestehens erklärte das Unternehmen 2016 »tiefstes Bedauern« über seine Rolle bei der Unterstützung des Naziregimes.)

Die Bedingungen in Abteroda waren schlimm: Die Frauen mussten in dem Fabrikhallenbau auf kaltem Zementboden schlafen. Latrinen gab es keine. Als Verpflegung erhielten sie Wassersuppe mit einem trockenen Stück Brot. Die Schichten dauerten mindestens zwölf Stunden, und wenn sie zu langsam arbeiteten, wurden sie von den SS‑Aufsehern geschlagen. Wer die Arbeit verweigerte, musste damit rechnen, sofort erschossen zu werden. Und doch waren die Französinnen entschlossen, sich den Deutschen zu widersetzen und, wenn sie die Chance hatten, die winzigen Einzelteile der BMW-Motoren zu manipulieren. Sie wollten erreichen, dass man die Fehler bei der Qualitätskontrolle nicht bemerkte, der spätere Ausfall der Teile jedoch zum Versagen der Triebwerke führte.

Jacqueline Marié, die schon als Teenager der Résistance beigetreten war, kam zusammen mit ihrer Mutter Marceline im selben Transport wie Catherine Dior nach Ravensbrück. Auch sie wurden nach Torgau und später nach Abteroda geschickt, wo sie Temperaturen unter null Grad auszuhalten hatten. In ihren Erinnerungen berichtet sie von einer Nacht, in der sie gezwungen wurden, fast zwei Kilometer durch Schnee und Eis bis zum nächsten Kriegsgefangenenlager zu marschieren, wo sie duschen sollten. Nach der Dusche mussten sie mehrere Stunden lang nackt und frierend darauf warten, dass man ihnen die schmutzige Kleidung zurückgab.

Trotz dieser miserablen Umstände brachten sie es fertig, am Heiligen Abend Weihnachten zu feiern. Jacqueline beschreibt, wie ihre französischen Kameradinnen, darunter eine junge Hutmacherin, »es fertigbrachten, aus Stofffetzen, Stroh, Papier und Pappe, was sie aus der Fabrik hatten mitgehen lassen (wofür schwere Strafen drohten), eine Weihnachtskrippe zu basteln. Die Finger unserer Freundinnen formten die rührendste aller Szenen von Christi Geburt … Eng umschlungen sprachen Gläubige und Nichtgläubige gemeinsam die Worte der Weihnachtsgeschichte …« Am Neujahrsmorgen 1945, so fuhr sie fort, »wollte das Kraftwerk der Fabrik nicht in Gang kommen, und wir standen im Dunkeln da. Wir froren erbärmlich. Draußen waren zwanzig Grad minus und ringsum lag tiefer Schnee.« Jacqueline, die im Monat zuvor 21 geworden war, sah mit wachsender Furcht, wie ihre Mutter immer mehr abmagerte. Wenn es auch nirgendwo Spiegel gab, konnten die Frauen ihren eigenen körperlichen Verfall an den ausgemergelten Gesichtern und bis auf die Knochen eingefallenen Leibern ihrer Freundinnen ablesen.

Als die Kämpfe zunahmen und die Alliierten die Bombenangriffe gegen Deutschland verstärkten, wurden die Französinnen in zwei Schüben zu einem weiteren Außenlager in Markkleeberg bei Leipzig verlegt. Wieder hatten sie eine mehrtägige Bahnfahrt im Schneckentempo ohne jegliche Verpflegung oder Wasser zu überstehen. Aus den Akten geht hervor, dass Catherine Dior mit der zweiten Gruppe in der letzten Februarwoche 1945 an dem neuen Bestimmungsort eintraf.

Ich bin kurz davor, mit meinem Mann über die Mängel seines Navigationssystems zu streiten, als wir uns verzweifelt bemühen, den Standort des Lagers in dem Städtchen Markkleeberg zu finden, da kommen drei junge Mädchen auf Fahrrädern in Sicht. Sie lächeln uns zu, und mein Mann, der Deutsch spricht, fragt sie, ob sie wissen, wo sich das Außenlager befunden hat. Zwei schütteln den Kopf, doch eine namens Anastasia, weiß es aus dem Geschichtsunterricht. Sie führt uns durch eine stille Straße mit Wohnhäusern bis zu einem neuen Gewerbegebiet nahe der Eisenbahn. Dort weist Anastasia auf eine unscheinbare Gedenktafel an einer Backsteinmauer, unter der jemand einen Rosenstrauch gepflanzt hat.

Mein Mann übersetzt mir die deutsche Inschrift: »Vom 31. August 1944 bis zum 13. April 1945 befand sich hier in Wolfswinkel ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald, in dem über 1000 ungarische Jüdinnen und 250 gefangen genommene Frauen der französischen Résistance festgehalten wurden. Sie mussten unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Von hier gingen sie auf ihren Todesmarsch. Wir ehren das Andenken dieser Frauen, die Opfer des Nazismus wurden.« Am Boden vor der Tafel hat jemand zwei gelbe Rosen über Kreuz niedergelegt. Die Blütenblätter sind gefroren, und mich durchläuft ein Schauer, als ich mich im winterlichen Nieselregen niederbeuge, um sie zu berühren.

Bevor ich nach Markkleeberg kam, hatte ich von einer damaligen Gefangenen etwas über die Geschichte des Außenlagers gehört. Zahava Szász Stessel hatte hier als vierzehnjähriges Mädchen zusammen mit ihrer dreizehnjährigen Schwester Erzsike Zwangsarbeit geleistet. Die beiden Mädchen waren die einzigen Überlebenden einer jüdischen Familie aus Ungarn; Eltern und Großeltern hatte man im Mai 1944 in Auschwitz vergast. Die Schwestern waren von dem berüchtigten Dr. Mengele aus der für die Gaskammern bestimmten Gruppe geholt worden, weil er glaubte, sie seien Zwillinge und daher für seine medizinischen Experimente geeignet. Es grenzt an ein Wunder, dass sie zuerst Auschwitz, danach Bergen-Belsen überlebten und schließlich im Dezember 1944 nach Markkleeberg verlegt wurden, um in einer Fabrik für Flugzeugtriebwerke der Firma Junkers zu arbeiten. Zahava heiratete nach dem Krieg einen anderen Holocaust-Überlebenden, wanderte mit ihrem Ehemann nach Amerika aus, gründete eine Familie, wurde zur Bibliothekarin ausgebildet und erwarb schließlich den Doktortitel. Seit sie nach jahrelanger Arbeit in der New York Public Library in den Ruhestand ging, erforscht sie die bisher unbekannte Geschichte des Außenlagers Markkleeberg und hat darüber ein eindrucksvolles Buch mit dem Titel Schneeblumen veröffentlicht. Ich hatte es gelesen und zu ihr Kontakt aufgenommen. Wir führten ein langes Telefongespräch. Im September 2018 habe ich sie in ihrem Haus in New York besucht.

Seit dem Tod ihres Ehemannes im Jahre 2015 lebt Zahava allein. Fotos von beiden, ihren Kindern und Enkeln schmücken das Haus neben einer Fülle von Grünpflanzen und Vasen voller Blumen. Wir sitzen in der Küche beisammen, und sie drängt mich immer wieder, von dem großen Teller Gebäck zu kosten, den sie mir vorgesetzt hat. Jetzt bereits in den Achtzigern, ist sie nach wie vor eine elegante Erscheinung: In dem maßgeschneiderten Kleid, mit lackierten Nägeln und dem sanft gewellten silbergrauen Haar wirkt sie sehr gepflegt. Sie spricht mit sanfter Stimme, behält mich fest im Blick und hat lebendige Erinnerungen. Sie erzählt mir, wie überrascht sie waren, als sie die Französinnen im Lager erblickten. Besonders verblüffte sie, dass die sich die kostbare Ration Margarine ins Gesicht rieben, statt sie zu essen. »Sie wollten hübsch sein, das war ihnen wichtig, deswegen cremten sie ihre Gesichter mit Margarine. Da konnten wir nur staunen …« Es kann durchaus sein, dass dies ein Akt des Selbstschutzes war, denn Frauen, die gesund wirkten, wurden kaum als Todeskandidatinnen ausgesondert. Zahava erinnert sich auch daran, dass es den Französinnen irgendwie gelang, selbst in der Häftlingskleidung schick auszusehen: »Damit man die kahlgeschorenen Köpfe nicht sah, trennten sie Teile des Matratzenstoffes auf und strickten sich aus den Fäden einen Turban.« Nachts hörten Zahava und ihre Schwester, wie sie die Marseillaise sangen, und bei Tag »grüßten sie uns mit dem V‑Zeichen für victory«. Ihr war durchaus klar, welche Risiken die französischen Häftlinge eingingen, wenn sie immer wieder versuchten, Triebwerksteile an denen sie arbeiteten, zu manipulieren. Als wir auf Catherine Dior zu sprechen kommen, sagt Zahava: »Sie wollte kein Mitleid. Sie war Herrin über ihre Seele …«

Während die Französinnen auf Zahava den Eindruck von Stärke und Stil machten, geht aus deren eigenen Berichten hervor, dass sich unter ihnen zunehmend Verzweiflung ausbreitete. Sie hatten nicht nur in der Fabrik endlos lange Stunden zu arbeiten, sondern wurden auch im Freien eingesetzt. Jacqueline Marié erinnert sich an die grauenhaften Schichten in einem Steinbruch, wo sie Steine aus der hart gefrorenen Erde hacken mussten. Oder man spannte sie vor eine riesige Walze, mit der sie Straßen zu planieren hatten. Auch Kohlewaggons auszuladen wurde ihnen abverlangt. »Im Lager warteten weitere Pflichten auf uns. Die schlimmste war es, die Fäkaliengruben mit Eimern auszuschöpfen. Wir waren nur noch Schatten von Frauen, und so hässlich. Nach dem Abendappell fielen wir auf unsere Pritschen, ohne uns auszuziehen. Und am nächsten Morgen fing alles von Neuem an …«

Wie in Ravensbrück waren Unterernährung und Krankheiten ihre ständigen Begleiter. Viele erkrankten an Typhus, Ruhr und Tuberkulose, auch Diphterie, Lungenentzündung und Meningitis kamen vor. In Eileen Nearnes Erinnerungen an Markkleeberg, die von ihrer Biographin Susan Ottaway aufgezeichnet wurden, heißt es, sie seien »umhergewandelt wie im Drogenrausch«. Obwohl Eileen zu dieser Zeit an Ruhr erkrankt war und an einer schweren Brustentzündung litt, bewahrte sie sich Gottvertrauen und Lebenswillen. »Das Wichtigste war die Entschlossenheit weiterzumachen …«

Catherine Dior war von einem einzigen heißen Wunsch erfüllt: zum Haus der Familie in der Provence zurückzukehren, Sonnenauf- und Sonnenuntergang in ihrem geliebten Land wiederzusehen. Wie sie später bei einer der seltenen Gelegenheiten, da sie die Lagerhaft erwähnte, einer Freundin gestand, war es das, was sie während der grauenvollen Tage im Lager aufrechterhielt. Und wenn der Himmel über Leipzig sich während der Bombenangriffe der Alliierten mit Rauch und Feuer füllte, stärkte das Catherine und ihre Kameradinnen in dem Glauben, dass der Krieg bald zu Ende sein werde.

Am 11. April 1945 zog die US‑Armee in Buchenwald ein, und Truppen der Alliierten näherten sich Leipzig. Aber erst am Vormittag des 13. April, einem Freitag, erhielten die SS‑Offiziere in Markkleeberg Befehl, die Häftlinge zu evakuieren. In den Worten von Zahava Szász Stessel »war ›Evakuierung‹ nur ein Euphemismus für ›Todesmarsch‹«.

Von nun an zwang die SS Hunderttausende KZ‑Häftlinge, durch die Reste des von den Faschisten kontrollierten Gebiets zu ziehen, um sie nach wie vor für ihre letzten verzweifelten Anstrengungen bei der Waffenproduktion oder der Beseitigung von Schutt in den bombardierten Städten auszubeuten. Einige dieser Märsche erstreckten sich über mehrere hundert Kilometer. Die Todesrate war immens, denn die SS befolgte den Befehl Heinrich Himmlers, kein Häftling dürfe lebend in Feindeshand fallen. Die Begründung für diese chaotischen Evakuierungen war so pervers wie Himmlers frühere Versuche, das System der Konzentrationslager zu rechtfertigen. Dazu schreibt Professor Mary Fulbrook in Reckonings, ihrem offiziellen Bericht über den Holocaust: »Die Todesmärsche, auf denen etwa ein Drittel der Häftlinge – 200 000 bis 250 000 – starben, legen Zeugnis ab von dem absurden Versuch, auch die letzten Häftlinge am Leben zu erhalten, die noch wirtschaftlichen Nutzen brachten, und jene zu töten, die zu fliehen versuchten oder vor Erschöpfung liegenblieben. Dem Wesen nach stellten diese Märsche nur eine andere Form der Liquidierung dar.« Der einzige Unterschied: Sie liefen überall in Deutschland vor aller Augen am Straßenrand, in Dörfern und Städten ab und nicht in den abgelegenen Todeslagern des Ostens.

Die Frauen und Mädchen, die Markkleeberg verließen, mussten in Fünferreihen marschieren, wofür bewaffnete SS‑Leute und knurrende Hunde sorgten. Jene, die vor Schwäche nicht mehr laufen konnten, wurde von Freunden mitgeschleppt oder auf kleinen Wagen gefahren; einige band man auch an den Fuhrwerken fest, auf denen die Besitztümer der Lagerkommandanten und SS‑Aufseher befördert wurden. Erschöpfung, Hunger und Durst der Frauen waren so groß, dass manche auf dem Marsch zu halluzinieren begannen. Dieses Gefühl eines alptraumhaften Deliriums, als sie wie in Trance durch die Nacht taumelten, nur darauf bedacht, nicht bewusstlos zusammenzubrechen, hat Jacqueline Marié beschrieben: »Wir waren wie Zombies, bedroht von Maschinenpistolen, bewacht von grausamen SS‑Männern, die bereit waren, jeden Moment zu schießen und das auch taten …« Wegen der Bombenangriffe der Alliierten marschierten die Häftlinge im Grunde genommen im Kreis. Jacqueline erinnert sich, dass sie »vor und zurück zogen und dabei die Elbe mehrfach überquerten«.

Vom Marschieren in schlecht passenden Holzpantinen hatten sie bald blutige Füße, doch wenn eine zurückblieb, waren Schläge und Schüsse die Antwort. Mehrmals gerieten sie mitten in einen Luftangriff der Alliierten. Zahava berichtet davon, dass dabei Dutzende Kameradinnen verwundet und einige getötet wurden. »Die Bomber der Alliierten, die nicht gekommen waren, um die Eisenbahnstrecke nach Auschwitz zu unterbrechen, erreichten uns jetzt auf dem Todesmarsch«, sagte sie mir. »Tiefflieger belegten die Fluchtwege permanent mit Maschinengewehrfeuer.«

Zahava und ihre Schwester fürchteten sich zu fliehen, weil die Aufseher sie dabei erschießen konnten. Schließlich wurden sie zurückgelassen, als sie bei einem Luftangriff in den Straßengraben gesprungen waren. »Wir waren so schrecklich erschöpft und geschwächt, dass wir auf der Stelle einschliefen. Als wir erwachten und aus dem Graben krochen, war der Zug der Häftlinge verschwunden. Vielleicht dachten sie, wir wären tot …« Sie versteckten sich in einer kleinen Hütte im Wald und blieben dort, bis sie feststellten, dass der Krieg vorüber war. Die Schwestern gehören zu den sehr wenigen jüdischen Überlebenden, die zu ihrer Heimatstadt in Ungarn zurückkehrten. Viele Wochen lang warteten sie am Bahnhof in der Hoffnung, ihre Eltern oder Großeltern könnten ebenfalls zurückkommen. Widerstrebend gaben sie schließlich auf und gingen auf die nächste beschwerliche Reise, diesmal nach Palästina, wo sie schließlich Zuflucht fanden.

Catherine Dior, Eileen Nearne, Jacqueline Marié und deren Mutter gelang es, von dem Todesmarsch zu fliehen. Eileen war die Erste, die es versuchte. So schwach und verwirrt wie sie war, schlüpfte sie bei Markkleeberg in dichten Wald. Dort stieß sie auf zwei weitere junge Französinnen, die sie aus dem Lager kannte. Gemeinsam suchten sie in einem zerbombten Haus Zuflucht. Irgendwie schleppte sich das Trio bis zu einem Dorf am Stadtrand von Leipzig, wo ein katholischer Priester sie aufnahm und bei sich versteckte, bis alliierte Truppen in der Gegend auftauchten. Damit war Eileens Martyrium aber noch nicht zu Ende. Der Offizier der amerikanischen Aufklärung, der sie in Leipzig verhörte, fand ihren Bericht so konfus, dass er sie als eine potenzielle Agentin des Feindes einstufte. Erst als SOE durch eine Mitteilung des Hauptquartiers der US‑Army von ihrer Festnahme Kenntnis erhielt, wurde sie schließlich freigelassen und konnte am 23. Mai nach England fliegen.

Eileen Nearne hat sich von dem Trauma ihrer Haft nie ganz erholt. Als sie im Jahre 2010 allein in ihrer winzigen Wohnung in der Küstenstadt Torquay starb, wurde ihr Leichnam dort erst Tage später entdeckt. Ihre Vergangenheit während des Krieges und die Medaillen, die sie dafür erhalten hatte, waren für ihre Nachbarn eine absolute Überraschung. Die französische Regierung verlieh ihr das Croix de Guerre [Kriegskreuz], und die britische ernannte sie für »beständigen Mut und unermüdliche Pflichterfüllung« zum Mitglied des MBE [Orden des British Empire].

Besser erging es Jacqueline Marié und ihrer Mutter, vielleicht, weil sie ihre Leiden miteinander teilen konnten. Sie entkamen dem Todesmarsch zusammen mit zwei Freundinnen und versteckten sich in einem Verschlag am Boden eines Steinbruchs. Dort entdeckten sie französische Kriegsgefangene, die ihnen halfen, sich in Sicherheit zu bringen. Es ist bezeichnend, dass Jacqueline bei der Rückkehr nach Frankreich Anfang Juni 1945 das Gefühl bekam, die Schrecken des Lagers seien »für andere eine unverständliche Welt … Wie so viele Deportierte hatten wir den Eindruck, wir seien vergessen und einigen wäre es lieber gewesen, uns nie wiederzusehen.«

Auch Catherine Dior vermied es konsequent, mit Freunden und Verwandten über Einzelheiten der Zeit in den Lagern oder der letzten Tage in Deutschland zu sprechen. Die wussten nur, dass sowjetische Truppen sie befreit hatten. Wie aus Akten hervorgeht, entkam sie dem Todesmarsch am 21. April 1945 in Dresden.

Von der Sowjetarmee befreit zu werden, musste noch nicht das Ende der Tortur der Gefangenen bedeuten. Die Faktenlage ist eindeutig: Frauen oder Mädchen, die der Roten Armee über den Weg liefen, riskierten zu dieser Zeit, vergewaltigt zu werden. Ob sie gerade das KZ überlebt hatten, welches Alters oder welcher Nationalität sie waren, hatte keine Bedeutung. Historiker schätzen, dass dies in Deutschland etwa zwei Millionen Frauen betraf. Die Zahl ist bis heute umstritten. Dieses Thema offen zu diskutieren war ein solches Tabu, dass die wirkliche Zahl wohl nie bekannt werden wird. Jacqueline Marié berichtete von einem solchen Erlebnis an der tschechischen Grenze Anfang Mai, wo »mehrere unserer Kameradinnen vergewaltigt wurden«, ebenso Micheline Maurel, eine weitere französische Widerstandskämpferin, die Ravensbrück überlebt hatte. Sie wurde Zeugin der Vergewaltigung mehrerer ihrer Freundinnen. Sie schildert, dass dies bereits vor der Befreiung begann. Sie hatte mit drei Kameradinnen in einer Scheune genächtigt und musste beim Erwachen am Morgen feststellen, dass eine bereits von einem sowjetischen Soldat Gewalt erfahren hatte, »einem großen, bulligen Kerl …, der sofort das Weite suchte, als er unter Beschuss aus Maschinenpistolen geriet«. Auch mehrere polnische Überlebende mit Behinderungen nach den medizinischen Experimenten im Lager, die dort nur »Kaninchen« genannt wurden, fielen Sowjetsoldaten zum Opfer. Zahava Szász Stessel berichtet von ungarischen Jüdinnen, die solche Attacken nicht überlebten. In ihrem Buch schreibt sie: »Die meisten der Markkleeberger Überlebenden werden Geschichten vom Leiden und Tod ihrer Kameradinnen erzählen, die in die Hände von Russen fielen, aber sie wehren sich dagegen, über ihren eigenen sexuellen Missbrauch durch russische Soldaten zu sprechen.« So folgten auf die unvorstellbaren Schrecken der faschistischen Lager der Todeskampf des Reichs und eine ganz andere gnadenlose Dystopie.

Als Catherine nach Dresden floh, lag die einst so schöne Stadt in Schutt und Asche, durch Bomber der Alliierten vom Erdboden getilgt. Die schwersten Luftangriffe fanden Mitte Februar 1945 statt. Sie lösten eine gigantische Feuersbrunst aus, die geschätzte 25 000 Menschen hinwegraffte. Weitere kleinere Bombardements folgten im März und April. Für Zahava bot die Stadt einen Anblick wie aus der Hölle: »Es war unmöglich zu sehen, wo ein Haus gestanden hatte, wo eine Straße verlief. Es gab nur Berge von Steinen. … Es war unmöglich zu gehen, wir mussten klettern oder kriechen. … Wir sahen keine Toten, aber der Gestank von verwesendem Fleisch lag in der Luft.«

Dresden war zu einem Ruinenfeld mit Sterbenden und Toten geworden. Die Freiheit war gepaart mit der Angst vor Gewalt. Befreier konnten auch Schänder sein. Das war der tiefe Schatten, aus dem Catherine Dior auftauchte. Ein Schreckensort, der das Ende markierte, zugleich aber auch den Beginn eines neuen Lebens nach dem Krieg.