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Der Eispalast

Mit der Rückkehr in die Wohnung ihres Bruders an der Rue Royale fand sich Catherine Dior im Herzen des Pariser Modebezirks wieder, einer ganz eigenen Welt, die während der Besatzungszeit und nach der Befreiung ununterbrochen funktioniert hatte. So wie die Rue Royale für ihre zentrale Lage auf einer Karte der Luxussymbole vom Maxim bis Molyneux berühmt war, gehörten die Modehäuser zu dieser verwunschenen, unangreifbaren Landschaft von Paris, und das ist bis heute so geblieben. Erbe und Ruf jedes einzelnen dieser maisons werden gegen Konkurrenten gnadenlos verteidigt, und doch scheinen sie gemeinsam einen riesigen, unsichtbaren Eispalast zu bewohnen, dessen Spiegelsäle sich weit über den Place Vendôme hinaus erstrecken und die großen Boulevards vom Faubourg Saint-Honoré bis zur Avenue Montaigne säumen. Dieser Palast mit all seinen Schätzen und Geheimnissen wird scharf bewacht, und sein Türhüter ist der Unternehmerverband Chambre Syndicale de la Haute Couture, der 1868 gegründet wurde.

Es mag überraschen, dass der Gründervater der hohen Modekunst Charles Frederick Worth ein Engländer war. Geboren 1825 in der Grafschaft Lincolnshire und in Armut aufgewachsen, begann er als Lehrling in einem Londoner Kaufhaus und arbeitete danach in einer Textilfabrik, bis er im Alter von 21 Jahren nach Paris ging. Dort heiratete er, etablierte sich als Modedesigner mit seiner schönen Frau als Model und baute in der Rue de la Paix Nr. 7 ein florierendes Unternehmen auf. 1860 erwählte Kaiserin Eugénie, die Gemahlin von Napoleon III., Worth zu ihrem Hofschneider. Dank ihrer Gunst und der entsprechenden Werbung zog das Haus Worth reiche amerikanische Kunden und die europäischen Adelshäuser magisch an. Als Worth 1895 an einer Lungenentzündung starb, schrieb die Times in ihrem Nachruf: »Es ist schon außergewöhnlich, dass es Worth gelang …, in dieser als sehr französisch geltenden Kunst die Führungsposition einzunehmen.« Doch Paris war für Worths Ruhm genauso wichtig wie Talent und Ehrgeiz, die er im Übermaß besaß. Denn nicht London, sondern Paris mit seinen Palästen und Pavillons, Theatern und Opernhäusern, welche Georges-Eugène Haussmann durch seine Baukunst im Auftrag Napoleons III. zu einem harmonischen Ganzen gefügt hatte, galt als die Welthauptstadt von Luxus und Stil.

Wie alle Dynastien kennen auch Modehäuser Aufstieg und Fall. Worth wurde überstrahlt von Paul Poiret, der mit seinem theatralischen Orientalismus die Pariser Mode in den frühen 1920er Jahren beherrschte. Poiret versank in Armut, weil die legendäre Coco Chanel ihn verdrängte, all die Rüschen und den künstlichen Zierrat der Belle Epoque hinwegfegte und durch die verführerische Vision einer stromlinienförmigen Moderne ersetzte. Lucien Lelong gehörte derselben Generation an wie Chanel, erreichte aber nicht deren weltweiten Ruhm. Denn als beste Werbung verkörperte sie selbst den weiblichen Chic auf eine Weise, die alle ihre männlichen Zeitgenossen in den Schatten stellte. Lelong war trotzdem hoch angesehen, zumal ihm eine russische Fürstin als Ehefrau zur Verfügung stand, die glamouröse Natalie Paley, die seine Kleider perfekt vorführte, zumindest bis zu ihrer Scheidung im Jahre 1937. Außerdem war er berühmt für die unfehlbare Gabe, stets die talentiertesten Designer wie Pierre Balmain und Christian Dior für sich arbeiten zu lassen. Doch vor allem ist es seinem Einfluss als Präsident der Chambre Syndicale de la Haute Couture zu danken, dass es gelang, die Pariser Modebranche während des Zweiten Weltkriegs davor zu bewahren, von den deutschen Behörden geschlossen oder nach Berlin zwangsverlegt zu werden.

»Die Pariser Haute Couture ist nicht zu verpflanzen, weder en bloc noch Stück für Stück«, schrieb Lelong im Herbst 1940 als Reaktion auf den Plan, die Ateliers mit ihren hochqualifizierten Fachkräften nach Deutschland zu verbringen. »Sie existiert entweder in Paris oder gar nicht.« Allerdings brachte ihn seine standhafte Verteidigung der Branche in dauerhaften engen Kontakt mit Nazi-Beamten. Angesichts eines drohenden Verbots des Exports aus Paris beschloss Lelong zum Beispiel, im März 1942 eine Modenschau von etwa zwanzig Häusern in Lyon durchzuführen, das damals in der unbesetzten Zone des Vichy-Regimes lag. Er hoffte damit Käufer aus neutralen Staaten wie Spanien und der Schweiz anzulocken, was ihm auch gelang. Doch um die notwendige Genehmigung und die Dokumente für das Überschreiten der Demarkationslinie zu erhalten, nahm Lelong an Essen am Runden Tisch im Hôtel Ritz teil, wo sich französische Geschäftsleute regelmäßig mit hochrangigen deutschen Vertretern trafen. Nach der Befreiung warf man Lelong wegen der Teilnahme an diesen sogenannten »Hochverrats-Essen« Kollaboration vor, aber er wurde in allen Punkten freigesprochen.

Es mag paradox erscheinen, dass Lelong selbst in seiner Rolle als Präsident der Chambre Syndicale forderte, eine Kommission der épuration [Säuberung] solle die Klärung der Rolle der Modeindustrie während der Besatzungszeit übernehmen. Die ermittelte schließlich in 55 Fällen von Kollaboration. Doch sie betrafen keines der großen Modehäuser, und für schuldig befunden wurden nur kleinere Angestellte, gegen die milde Strafen wie zeitweilige Entlassung verhängt wurden. Jacques Fath, der Mitglied des Cercle Européen, des berüchtigten Klubs der Kollaborateure, gewesen war, blieb straffrei. Ebenso seine Frau Geneviève, von der Gerüchte wissen wollen, dass sie profitable Geschäftsbeziehungen und gesellschaftliche Kontakte zu den Deutschen unterhielt. Marcel Rochas, ein weiteres Mitglied des Cercle Européen, blieb unbehelligt, obwohl er in dem Ruf der Kollaboration aus opportunistischen Gründen stand. Weniger Glück hatte eine seiner hochgestellten Kundinnen: Corinne Luchaire, die junge Schauspielerin, die auf den glänzendsten französisch-deutschen Empfängen Rochas-Kleider getragen hatte, ging für mehrere Monate ins Gefängnis. Ihr Vater, Jean Luchaire, der Chef der Presse der Kollaborateure, wurde zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet.

Der französische Modehistoriker Dominique Veillon erläutert, dass die Modebranche die Säuberungen aus einem einfachen Grund unbeschadet überstand: In einer Zeit wirtschaftlicher Unsicherheit, da das Land in Trümmern lag, galt es, »den Markt zurückzuerobern und ausländische Devisen zu verdienen … Wie sollte man unter diesen Bedingungen jene als ›schwarze Schafe‹ hinstellen, die sich zwar durch Kollaboration mit dem Feind ›kompromittiert‹ hatten, deren Geschäftstüchtigkeit aber nicht zu bestreiten war?«

So fiel es erneut Lelong zu, die Modebranche in den Monaten nach der Befreiung voranzubringen. Doch es folgte der bitterkalte Winter 1944, in dem die knappen Lebensmittel, Brennstoff und Waren des täglichen Bedarfs rationiert blieben. Die vorrückenden Truppen der Alliierten und die zurückflutenden Armeen der Deutschen zerstörten Häfen, Brücken und Eisenbahnen. In Ostfrankreich tobten heftige Kämpfe, und eine Reihe wichtiger Häfen waren nach wie vor in deutscher Hand. Es fehlte an allem, einschließlich Stoffen für Kleidung und Leder für Schuhe.

Bei seinen Bemühungen wurde Lelong von Carmel Snow, der gefürchteten frankophilen Chefredakteurin von Harper’s Bazaar in New York unterstützt, die unbedingt in ihr geliebtes Paris zurückkehren wollte. Seit ihrem letzten Besuch im September 1939 waren fünf Jahre vergangen. In ihren Memoiren schreibt sie: »Als Frankreich während des Krieges besetzt war, gab es viel Gerede darum, dass Paris als Zentrum der Mode ›am Ende‹ sei. Ich wollte mich mit dem dauerhaften Fall von Paris ebenso wenig abfinden wie General de Gaulle …«

Sie suchte um ein Visum für Paris nach, das ihr im Dezember 1944 schließlich gewährt wurde. Sie reiste mit einem Flugzeug, das große Umwege nehmen musste, weil auf dem Atlantik noch der Seekrieg tobte. »Statt nach Osten musste ich zunächst in südlicher Richtung nach Miami fliegen, dann über Trinidad und Südamerika nach Westafrika, und von Dakar nach Lissabon.« In Madrid traf sie sich zum Abendessen mit dem allseits verehrten spanischen Modeschöpfer Christóbal Balenciaga und nahm dann den Zug nach Paris. Bei der Ankunft musste sie feststellen, dass es keine Taxis gab, da es an Treibstoff fehlte. Man konnte sich nur noch zu Fuß oder mit der Metro durch die Stadt bewegen. Carmel Snow war hocherfreut, ihre Freunde Marie-Louise Bousquet, Christian Bérard und Janet Flanner (die ebenfalls für Harper’s Bazaar schrieb) zu treffen, doch die Bedingungen in Paris fand sie geradezu erschütternd: »Die alten Menschen wirkten verschrumpelt, frierend und unbeschreiblich traurig, sie trugen geflickte Sachen und jeden alten Pullover, den sie kriegen konnten.«

Als Carmel Snow die Juweliere und Modehäuser in Paris aufsuchte, war sie betroffen, wie sehr es selbst in diesen Luxustempeln an Licht und Wärme fehlte. Bei Cartier bewunderte sie die schönen Kreationen und sprach mit der Designerin Jeanne Toussaint. »Eine bemerkenswerte Frau voller Energie. Um den Hals trug sie drei Reihen exzellenter Perlen, doch an den Füßen bestickte russische Stiefel aus vorrevolutionärer Zeit … Im Geschäft war es bitterkalt, und man kann sich gar nicht vorstellen, wie absurd es war, den extravagantesten Schmuck der Welt in einem eisigen Raum anzuschauen … Es war so frostig, dass man Handschuhe tragen musste. Jeanne Toussaint ließ nebenbei fallen: ›Das ist schlimm für uns, aber stellen Sie sich die Näherinnen im sechsten Stock vor, die mit diesen kalten Händen die feinsten Arbeiten verrichten müssen.‹« Als Carmel Snow ins Modehaus Balenciaga zu einer lang erwarteten Anprobe ging, musste sich eine Schneiderin dafür entschuldigen, dass ihr die Stecknadeln dauernd aus der Hand fielen, weil ihre Finger bei diesen arktischen Temperaturen so steif waren. »Kohle gab es fast gar nicht mehr, und der Strom wurde bereits um 8.30 Uhr morgens abgeschaltet. Wenn um fünf Uhr nachmittags alle Büros und Läden schlossen, weil es auch dafür keinen Strom gab, konnte man diese Uhrzeit daran erkennen, dass plötzlich Hunderte Holzschuhe durch die Straßen klapperten.«

Aber Carmel Snow war nicht nur nach Frankreich gekommen, um der Modebranche Mut zuzusprechen. Gemeinsam mit dem großen Fotografen Henri Cartier-Bresson unternahm sie Fahrten außerhalb von Paris, um vom Vormarsch der alliierten Truppen in Frankreich zu berichten. »Wir kamen durch Dörfer, aus denen alles Leben gewichen war. Häuser, Ställe, Kirchen – alles lag in Trümmern … Doch vor allem die Verwundeten in den Lazaretten brachen einem das Herz.« Tief bewegt hörte sie vom Schicksal mehrerer ihrer französischen Kollegen, die für die Pariser Ausgabe der Vogue gearbeitet hatten. Die musste während des Krieges ihr Erscheinen einstellen. Der Chefredakteur Michel de Brunhoff hatte seinen einzigen Sohn verloren, einen Teenager, den die Gestapo unter dem Verdacht, für die Résistance zu arbeiten, erschossen hatte. Ebenso erging es der Moderedakteurin Solange d’Ayen, deren Sohn im Oktober 1944 mit neunzehn Jahren starb, als er sich der französischen Armee anschließen wollte. Solange hatte mehrere Monate in Einzelhaft in Fresnes verbracht. Ihren im Widerstand engagierten Ehemann, den Duc d’Ayen, hatte man deportiert und durch mehrere deutsche Konzentrationslager geschleppt. Er war am 14. April 1945, einen Tag vor der Befreiung, in Bergen-Belsen gestorben.

Bettina Ballard, die Pariser Korrespondentin der amerikanischen Ausgabe von Vogue, hatte Frankreich nach dem Ausbruch des Krieges verlassen und sich dem Roten Kreuz angeschlossen. Als sie einige Zeit nach Carmel Snow nach Paris zurückkehrte, hörte sie von früheren Kollegen die gleichen Leidensgeschichten. In ihrer Autobiographie schrieb sie, Michel de Brunhoff sei um zwanzig Jahre gealtert, seit sie sich zum letzten Mal sahen, und konnte den Verlust seines Sohnes nicht begreifen. »Er schien immer noch total verstört über die Sinnlosigkeit dieses Todes … Ich erinnere mich, dass er diesen Krieg von Anfang an hasste. Nun hatten seine Schrecken ihn persönlich getroffen, was er nie verwinden sollte …« Als Bettina Solange D’Ayen wiedersah, glaubte sie, es sei ihr Geist. Ihr war sofort klar, dass sie nicht versuchen konnte, über den Tod ihres Sohnes zu sprechen. »Die Tragödie war noch zu frisch für sie, um sich ihr zu stellen.« Stattdessen sprach Solange über das beigefarbene Jersey-Kleid von Balenciaga, das sie bei ihrer Verhaftung trug. Im Gefängnis hatte sie es jeden Morgen gewaschen. »Jetzt war es in der Reinigung, und es sieht immer noch sehr gut aus.«

»Anfangs«, so schrieb Bettina, »wollte ich mich nicht auf Angelegenheiten von Vogue in Paris einlassen, weil die Mode mir so fern von der Realität des Krieges erschien.« Doch die Anwesenheit von Carmel Snow, die verkündete, dass sie an die französische Mode glaube, war für Bettina Anreiz genug, um an ihre Beziehungen zu den Modehäusern aus der Vorkriegszeit anzuknüpfen, zumindest zu jenen, die noch im Geschäft waren. (Zwischen Harper’s Bazaar und Vogue hatte es immer eine Rivalität gegeben, die sich noch verschärfte, als Carmel Snow Vogue 1933 verließ und Chefredakteurin des Bazaar wurde.) Den ersten Termin hatte Bettina im Modehaus Balenciaga. »Seine Salons sahen aus wie früher, nur die weiße Farbe an den Wänden war vergilbt und die weißen Satinvorhänge wirkten verschmutzt. Die berühmten spanischen Stühle aus dem 17. Jahrhundert standen immer noch elegant im Raum wie eine Runde spanischer Granden. Das einzig Merkwürdige war eine Gruppe lärmender, dicker Frauen mit verrückten Hüten und vulgären, rauen Stimmen … Eine von ihnen zählte aus ihrer Geldbörse die Tausend-Franc-Noten hin. Sie zahlte bar für ein Kleid, das sie in einem weißblauen Balenciaga-Karton gleich selbst mitnahm … Die Kundinnen stammten vom Schwarzmarkt, ließ Balenciaga später entschuldigend fallen … Sie kauften alles … und zu jedem Preis, denn sie hätten prall gefüllte Taschen …« Abgesehen von der Missbilligung für diese Kundinnen, die er für unkultiviert hielt, »schien Balenciaga persönlich vom Krieg und selbst von der Befreiung wenig berührt zu sein … Er führte wie gewohnt sein abgeschottetes Leben, allein mit der Sache beschäftigt, von der er wirklich etwas verstand – mit Kleidern.«

Bettina besuchte auch Lucien Lelong und war ehrlich beeindruckt von seinen Bemühungen als »Vermittler zu den Deutschen, die er überzeugt hatte, die Talente in den Modehäusern zu ermutigen und ihnen genügend Stoffe für ihre Arbeit zu beschaffen, weil das für die Stimmung in Paris insgesamt gut sei«. Sie pflichtete auch der unwahrscheinlich klingenden Theorie bei, die zu dieser Zeit die Runde machte, französische Modehäuser hätten deutschen Kunden während der Besatzungszeit lächerlich überteuerte Kleidung aufgeschwatzt. »Die Deutschen«, so erklärte Lucien Lelong, »hatten solche Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der französischen Mode, dass man ihnen fast alles überhelfen konnte. Je extravaganter sie daherkam, desto besser fanden sie die Deutschen.« Allerdings blieb der Anteil der »Modebezugscheine« für deutsche Kunden in Paris sehr gering. Von den im April 1944 ausgegebenen 13 625 waren das nur etwa 200. Die reichen Kunden, die solche extravaganten Kreationen erwarben, mussten also offenbar viel mehr Franzosen als Deutsche gewesen sein.

Bald schon hatte man Bettina in die für die Vorkriegszeit typischen Gespräche verwickelt – »über Hüte, Kleider und den üblichen Tratsch der Modewelt«. Als sie Schiaparellis Modehaus am Place Vendôme einen Besuch abstattete, stellte sie fest, dass »dringend Farbe und Wärme gebraucht werden«, schwärmte aber auch davon, dass sie dort einen gestreiften Turban erwarb, »der zu meinem schwarzen Kostüm passt«. Auf ihren Streifzügen durch Paris bewunderte sie die riesigen, komplizierten Hüte, die gerade in Mode waren. Besonders toll fand sie einen, den eine elegante Dame in der Metro trug – ein Turm aus rosa Filz, auf dem Vögelchen nisteten, und darüber ein herrlicher Tüllschleier …«

Außerdem fiel Bettina auf, dass die Pariser Gesellschaft »verrückt nach Antiquitäten, Kunst und eleganter Innenausstattung war. Teure Wertgegenstände zu sammeln galt in der Kriegszeit als kluge Geldanlage. Kunst- und Antiquitätenhändler waren die Neureichen von Paris.« In ihren Memoiren ist keine Rede davon, dass viele dieser Schätze möglicherweise aus Plünderungen der Häuser jüdischer Familien während der Besatzungszeit stammten. Allerdings stellte sie fest: »Paris war voller Kontraste: einerseits die Menschen, die nahezu Unerträgliches erlitten und alles, selbst die Hoffnung, verloren hatten, und andererseits die Unzähligen, die unversehrt durch den Krieg gekommen waren.«

Nach diesem relativ kurzen Besuch in Paris kehrte Bettina für mehrere Monate nach Amerika zurück. Im Sommer 1945 trat sie die Stelle beim Pariser Büro von Vogue wieder an. Sie zog in ihr früheres Appartement, das während der Okkupation ein deutscher Offizier mit seiner französischen Geliebten bewohnt hatte, und nahm ihr komfortables Vorkriegsleben wieder auf. »Marcelle, wie damals meine Haushälterin, brachte mir das Frühstück. Ihr Haar, das man ihr nach der Befreiung geschoren hatte, war nachgewachsen und zu der gewohnten Lockenfrisur gekräuselt.« Die Concierge, die Bettinas Bettwäsche wusch, lief von früh bis spät in silbernen hochhackigen Sandaletten herum. »Die konnte sie sich leisten, weil ihr alter Vater, ein Taxifahrer, am Schmuggel von Eiern und Butter aus der Normandie für den Pariser Schwarzmarkt so gut verdiente.«

Empört zeigte sich Bettina über die »Lethargie« ihrer Kollegen bei Vogue. »Dort war kein bisschen Schwung zu spüren, das Büro kam mir vor wie ein Haus voller stehengebliebener Uhren.« Dafür genoss sie die aufgekratzte Stimmung bei den allwöchentlichen Salons von Marie-Louise Bousquet in deren Haus am Place du Palais Bourbon, die auch nach der Befreiung ohne Unterbrechung stattfanden. Die deutschen Gäste bei den geselligen Empfängen am Donnerstagabend waren verschwunden und wurden mit keinem Wort erwähnt. Ihren Platz nahmen jetzt die Kriegsberichterstatter der Alliierten ein, welche die Schlagfertigkeit der Gastgeberin amüsierte.

Doch von Madame Bousquets Salon einmal abgesehen, fiel Bettina auf, dass »der harte Kern, das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens« von Paris sich in die britische Botschaft verlagert hatte. Das war dem Charme des neuen Botschafters Duff Cooper und seiner eleganten Gattin Lady Diana Cooper zu verdanken, die im September 1944 eingetroffen waren. »Hier traf sich der ›enge Kreis‹, dessen Exklusivität man in Paris so liebte, wo die Konversation in ganz eigenem Jargon geführt wurde, den Außenstehende kaum verstanden.« Wichtige Mitglieder dieses erlesenen Kreises, so berichtete sie, waren Marie-Louise Bousquet, Christian Bérard, Georges Geffroy und Louise de Vilmorin, eine femme fatale aus der Welt der Literatur, mit der Duff Cooper eine Affäre begann.

Malcolm Muggeridge, der nach der Befreiung als Geheimdienstler des MI6 in Paris geblieben war, geriet in eine schwierige Lage, denn die Liste der in die Botschaft eingeladenen Gäste löste bei seinen Kollegen »einiges Kopfschütteln und hochgezogene Augenbrauen« aus. In seinen Memoiren schrieb Muggeridge: Die Coopers »nahmen das Banner der Vorkriegseleganz wieder auf, und viele sammelten sich darum, darunter auch solche, die seit der Befreiung aus unterschiedlichen Gründen sehr still geworden waren. Jede gesellschaftliche Situation bringt ihre eigene Ausdrucksweise hervor. Die vagen oder auch realen Ängste von Millionären, Schauspielern, Schriftstellern, Modeschöpfern, Baroninnen und anderen, zur Zielscheibe des Pariser Klatschs über ihr Verhalten während der Okkupationszeit zu werden, galten als Ärgernis. Duff Coopers Salon war ein hervorragender Ort, um solche Ärgernisse loszuwerden, und entsprechend gern wurde er frequentiert.«Eine von Duff Coopers früheren Geliebten und regelmäßiger Gast in der Botschaft war Daisy Fellowes, bekannt für ihre spitze Zunge, ihre Eleganz und ihren Schmuck von unschätzbarem Wert. Nach Carmel Snows Worten war sie »der personifizierte Chic der harten 1930er Jahre, der aufkam, als Schiaparelli Mode wurde«. Lange blieb sie die oberste Richterin über Geschmack in der Modewelt. Als Pariser Korrespondentin von Harper’s Bazaar in den frühen 1930er Jahren hatte es für Daisy nie die Notwendigkeit zu arbeiten oder auch nur ein entsprechendes Interesse gegeben. Sie wurde 1890 als einzige Tochter eines französischen Herzogs und der reichen amerikanischen Erbin, Isabelle-Blanche Singer mit dem sprichwörtlichen silbernen Löffelchen im Mund geboren. Ihr erster Ehemann war der Prince de Broglie, mit dem sie drei Töchter hatte. Zwei wurden der Kollaboration während des Krieges beschuldigt und in den Tagen der épuration sauvage, der wilden Säuberungen, bestraft. Emmeline, die Älteste, saß fünf Monate im Gefängnis von Fresnes, Jacqueline, der Jüngsten, die einen Agenten der Abwehr geheiratet hatte, wurde der Kopf kahlgeschoren.

Daisys zweiter Ehemann war Reginald Fellowes, ein Cousin von Winston Churchill. Während des Krieges lebte das Paar in England. Bei ihrer Rückkehr nach Paris nahmen Daisy und die Töchter ihren früheren Platz in der High Society wieder ein. Dabei halfen Duff und Diana Cooper, die beide vom Vorwurf der Kollaboration gegen Daisys Töchter wussten. Als Duff einen Vormittag lang die Geheimdienstakte gegen Jacqueline und deren Ehemann gelesen hatte, notierte er in seinem Tagebuch, das sei eine »spannende Geschichte«. Doch er hielt es nicht für nötig, Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, die er als »Klatsch« abtat, insbesondere, wenn seine Geliebten wie Louise de Vilmorin betroffen waren. Sie wurde wegen ihres Verhaltens in der Kriegszeit allgemein mit Misstrauen behandelt. Laut Philippe de Rothschild war »dieses keinesfalls einwandfrei gewesen, hatte sie doch mit ihrem ungarischen Ehemann während des Krieges im Zusammenhang mit Deutschland Karriere gemacht«. Selbst Duff Cooper bekannte in seinem Tagebuch, er habe mit Louise Streit gehabt, »da sie so antiamerikanisch und antijüdisch eingestellt ist«.

Was Botschaftergattin Diana Cooper betrifft, so zeigte sie sich wesentlich weniger tolerant gegenüber Menschen, die sie langweilten, als solchen, die mit den Deutschen kollaboriert hatten. In den Worten ihres Biografen Philip Ziegler »war für sie Freundschaft wichtiger als die Gebote der Diskretion. Als Daisy Fellowes Tochter aus dem Pariser Gefängnis entlassen wurde, wo sie wegen ihres Verhältnisses zu einem deutschen Offizier gesessen hatte, erhielt sie prompt eine Einladung in die Botschaft. Diana fand faszinierend, wie Emmeline mit vier Prostituierten zurechtgekommen war, deren Zelle sie fünf Monate lang geteilt hatte und die zuvor in ihrem Gewerbe mit blanken Brüsten am Fenster gestanden und Passanten angelockt hätten. ›Ich (Diana) fragte sie, ob sie eine von denen sympathisch gefunden hätte (was mir sicher passiert wäre). Das wies sie empört zurück. Sie ist keine liebenswerte Frau, und ich hoffe, ich muss nie mit ihr eine Gefängniszelle teilen.‹«

Daisys zweite Tochter Jacqueline hingegen suchte Malcolm Muggeridge auf und bat ihn um Hilfe im Fall von P. G. Wodehouse. Der Romancier und seine Frau waren bei einem Aufenthalt im Hotel Bristol in Paris wegen Hochverrats verhaftet worden. Die Grundlage waren mehrere unbedachte Rundfunkbeiträge von Wodehouse im Jahre 1941, in denen er aus Berlin über seine Erlebnisse in deutscher Haft berichtet hatte. Muggeridge hatte den Fall im Auftrage von MI6 bereits geprüft und war zu dem Schluss gekommen, Wodehouse sei unschuldig. »Die Beiträge … sind weder anti- noch prodeutsch«, schrieb er, »sondern einfach Wodehouses Stil.« Muggeridge erreichte, dass Wodehouse, dessen Frau und ihr Pekinesen-Hündchen freikamen, brachte sie in einem verschwiegenen Hotel bei Fontainebleau unter und nutzte dann die Gelegenheit, Coco Chanel aufzusuchen, im Paris von damals eine ähnlich umstrittene Figur.

Coco Chanel war nach der Befreiung wegen ihres Verhältnisses mit Hans Günther von Dincklage, einem deutschen Geheimdienstoffizier, während des Krieges bereits einmal zum Verhör geladen worden. Doch sie kam rasch wieder frei, möglicherweise wegen ihrer langjährigen Freundschaft zu Winston Churchill aus der Zeit der 1920er Jahre, als sie die Geliebte des Herzogs von Westminster, eines von Churchills Freunden, gewesen war. Doch im Unterschied zu einigen ihrer französischen Bekannten, darunter Jean Cocteau und Christian Bérard, die während der Okkupation ganz offen zusammen mit deutschen Gästen an Empfängen teilgenommen hatten, hielt sich Chanel in dieser Zeit zurück. Ihr Modehaus öffnete sie erst Anfang der 1950er Jahre wieder und verkaufte bis dahin nur ihre gefragten Parfüms, darunter Chanel Nr. 5.

Muggeridge erinnert sich, dass er zu einem Abendessen bei Chanel »von F., einem ihrer alten Freunde, mitgenommen wurde, der als Mitglied einer der zahlreichen hier residierenden Verbindungsmissionen in goldgeschmückter Uniform in Paris auftauchte. Ich ging also gemeinsam mit F. zu Madame Chanels noblem Mode- und Parfümpalast in dem Gefühl, dies sowohl dienstlich als auch zu meinem eigenen Vergnügen zu tun … Sollte Mme Chanel meine Anwesenheit irgendwie unangenehm gewesen sein, dann ließ sie sich das nicht anmerken … In der Tat hatte sie auch keinen Grund zu ernsthafter Sorge, nachdem sie die erste Säuberungswelle zur Zeit der Befreiung erfolgreich überstanden hatte, weil sie auf einen der majestätisch simplen Schachzüge zurückgriff, die Napoleon zu einem so erfolgreichen General werden ließen: Sie stellte einfach ein großes Schild in eines ihrer Schaufenster, dass ihre Parfüms für amerikanische GIs gratis zu haben seien. Sofort bildeten sich lange Schlangen nach Flakons von Chanel Nr. 5, und ein Aufschrei der Amerikaner wäre die Folge gewesen, hätte die französische Polizei ihr auch nur ein Haar gekrümmt. Da sie sich auf diese Weise erst einmal Luft verschafft hatte, schaute sie sich in allen Richtungen nach Unterstützung um. Dabei vermied sie es tunlichst, in der Gesellschaft solcher Prominenter wie Maurice Chevalier, Jean Cocteau oder Sacha Guitry zu erscheinen, die im Verdacht der Kollaboration standen.«

Später versuchte Muggeridge, einen Bericht über diesen Abend bei Chanel für seinen Dienst anzufertigen, doch in seiner Autobiographie bekannte er: »Eigentlich gab es nichts zu sagen, allerdings war ich sicher, dass die Mühlen der Säuberung, wie fein sie auch mahlten, ihr nichts anhaben konnten. So kam es dann auch.«

Vor diesem moralisch zweifelhaften Hintergrund kann es nicht überraschen, dass manche Beobachter der Meinung waren, die Modewelt sei in den Monaten nach der Befreiung auf Abwege geraten. In seiner Autobiographie schrieb Christian Dior, dass mit Catherines Rückkehr nach Paris »… ein leidvolles Kapitel abgeschlossen war. Für die neue, noch unbeschriebene Seite erhoffte ich nur harmonische, freundliche Schriftzeichen.« Doch die Folgen des Krieges waren nicht zu übersehen. »Die Verwüstungen, die Lebensmittelknappheit, der Schwarzmarkt … und was zwar oberflächlich, aber beruflich bedingt für mich eben doch wichtig war, eine abscheuliche Mode: die zu ausladenden Hüte, zu kurzen Röcke, zu langen Jacken, die zu dicken Sohlen … Was für eine seltsame Zeit, in der, weil Stoffe fehlten, Federn und Schleier – zu Fahnen geworden – das Banner der Revolte über Paris wehen ließen. Als Mode jedoch fand ich es abstoßend.« Nicht weniger vernichtend urteilte die New York Times im Januar 1945, als Lucien Lelong in einem Interview behauptete, Paris sei nach wie vor die Inspiration für die Modewelt. Der Kommentar der Zeitung war respektlos: »Sich in diesen Zeiten von Paris inspirieren zu lassen … bedeutete, auf die exaltierten Psychosen einer Stadt einzugehen, welche die Demütigung der Niederlage mit der gekränkten Empfindlichkeit eines Genesenden zu überwinden sucht, dem es ohne Wärme und Licht miserabel geht und der Momente von Komfort und Genuss nur auf dem Schwarzmarkt finden kann.«

Auch Carmel Snow war verwirrt von dem Zustand der Mode, den sie bei der Rückkehr nach Paris zur Kenntnis nehmen musste. Stets eine scharfsinnige Deuterin der Art und Weise, wie die Mode die jeweilige Stimmung in der Gesellschaft zum Ausdruck brachte, stellte sie fest, dass diese »die Verwirrung widerspiegelt, von der Frankreich seit der Besatzungszeit erfasst ist. Käufer sind … die Neureichen vom Schwarzmarkt – eine so vulgäre Sorte, dass man es kaum glauben kann. Sie haben mit den Deutschen Handel getrieben und machen jetzt ein Vermögen mit dem Handel untereinander. Das erklärt vieles, was man gegenwärtig in Paris zu sehen bekommt: die scheußlichen Hüte, die Frauen in teuren Kleidern, in denen man sich nicht begraben lassen möchte …« Allerdings bewunderte sie Diors Arbeiten bei Lelong und schätzte auch nach wie vor Balenciaga. Vor allem aber vertraute sie der zeitlosen Kunst der Pariser Mode in »dem wahren Frankreich, dem ewigen Frankreich«, das General de Gaulle in seiner Rede zur Befreiung beschworen hatte.

Neben all der nachdrücklichen Unterstützung Carmel Snows für die französische Modebranche auf den Seiten von Harper’s Bazaar erhielt diese einen unerwartet starken Schub seitens der Philanthropie. Ende 1944 äußerte Raoul Dautry, den General de Gaulle zum Minister für Wiederaufbau und Stadtentwicklung ernannt hatte und der zugleich der Präsident von L’Entraide Française (der Dachorganisation der französischen Wohltätigkeitsvereine in der Kriegszeit) war, gegenüber dem Unternehmerverband Chambre Syndicale de la Couture die Bitte, eine Ausstellung zum Zwecke der Spendensammlung zu veranstalten. Lelong stimmte zu und man plante eine Modenschau auf Puppen in der historischen Tradition französischer Modeschöpfer, die ihre Waren auf diese Weise an den europäischen Königshöfen präsentiert hatten. Robert Ricci, der mit seiner Mutter Nina Ricci 1932 ein Modehaus gegründet hatte, erhielt den Auftrag, das Projekt zu organisieren. Er bat eine junge Künstlerin namens Eliane Bonabel, die Puppen zu entwerfen. Sie war schon als Teenager mit ihren Illustrationen zu Louis-Ferdinand Célines modernem Roman Reise ans Ende der Nacht berühmt geworden. Ihre frühere Verbindung zu dem Faschisten Céline, der sich zu dieser Zeit mit den Resten des Vichy-Regimes noch im Exil auf Schloss Sigmaringen in Deutschland aufhielt, schien weder Ricci noch andere in die Ausstellung involvierte Personen zu interessieren.

Bonabel entwarf etwa siebzig Zentimeter hohe Drahtfigurinen mit weißen Gipsköpfen, und Robert Ricci hatte den Einfall, diese auf kleinen eigens dafür hergestellten Theaterbühnen zu postieren und der Ausstellung den Namen Théâtre de la Mode zu geben. Zum Art Director wurde Christian Bérard ernannt. Er sicherte sich die Unterstützung von Freunden, darunter Jean Cocteau und Georges Geffroy. Nun gingen sämtliche Modehäuser daran, einzelne kleine Outfits für die Größe der Puppen mit passenden Gürteln, Handschuhen, Hüten, Schmuck und Federn herzustellen, die mit der gleichen Liebe zum Detail von Hand gearbeitet wurden wie ihre Kleider für reale Menschen. Stoff war immer noch rationiert, aber man bot die kostbarsten Gewebe auf, um sicherzustellen, dass das Können aller 37 führenden Modesalons und ihrer Näherinnen auf 220 Puppen demonstriert werden konnte. Nur Chanel glänzte durch Abwesenheit, da ihr Modehaus noch geschlossen war. Das Ergebnis war bezaubernd, und die Ausstellung, die am 27. März 1945 im Pavillon de Marsan von Paris eröffnet wurde, fand riesige Zustimmung.

Miniature mannequins during a Fashion Theater in Paris, France, circa 1944 (Photo by Ralph Morse/The LIFE Picture Collection via Getty Images)

Die Ausstellung Théâtre de la Mode, Paris 1945. Foto: Ralph Morse.

Wenn man sich die Fotos von den hervorragend gekleideten Figurinen im Ambiente eines Theaters anschaut, dann scheinen sie von einer unheimlichen Kraft getrieben zu werden, und ihnen haftet noch heute etwas Schauriges an wie Automaten oder mechanisch bewegten Puppen. Siegmund Freuds Aufsatz »Das Unheimliche« kommt mir in den Sinn, der 1919 entstand. Vier Jahre später inspirierte er Cocteau, ein fantasievolles Porträt des Psychoanalytikers zu schreiben. Freud schildert die verstörende Wirkung einer schönen Puppe, die in E. T. A. ​Hoffmanns Erzählung Der Sandmann auftaucht, und definiert das Unheimliche als eine Mischung von Unsicherem und Altbekanntem. Dieser Zusammenhang liegt in dem deutschen Wort »unheimlich« selbst, das von »Heim« im Sinne von Zuhause abgeleitet ist. So erscheint das Übernatürliche nur allzu nah dem Vertrauten, woraus es seine ganz eigene Wirkung bezieht.

Cocteaus verstörendes Bühnenbild für das Théâtre de la Mode trug den Titel Ma femme est une sorcière [Meine Frau ist eine Hexe], der von Rene Clairs Hollywood-Film aus dem Jahre 1942 I Married a Witch [Ich habe eine Hexe geheiratet] entlehnt war. Es zeigt einen wie von Feuer oder Explosion zerstörten Raum, dessen Decke sich zum Nachthimmel öffnet. Darin stehen mehrere Puppen in bodenlangen Abendroben. Eines ist ein Brautkleid aus elfenbeinfarbenem Satin mit weißen Glacéhandschuhen von Marcel Rochas. Die Puppen schauen zu der zerstörten Decke hinauf, wo eine Figur auf einem Besenstiel schwebt – die Hexe. Sie trägt ein langes Kleid aus grauem Tüll von Pierre Balmain, das mit dunklen, irisierenden Perlen bestickt ist.

Anders als Balmain, der kurz zuvor sein eigenes Modehaus gegründet hatte, arbeitete Christian Dior zu dieser Zeit noch für Lucien Lelong. Drei der auffälligsten Outfits der Ausstellung soll Dior für das Haus Lelong geschaffen haben: Eines ist ein schulterfreies, bodenlanges Abendkleid aus elfenbeinfarbenem Tüll, dessen voluminöser Rock mit einem zartblauen Blumenmuster bestickt ist. Das zweite ist ein Tageskleid aus türkisfarbenem Chiffon mit weißem Tupfenmuster und das dritte ein kniebedeckendes »Tanzkleid« mit einem romantischen Oberteil aus rosafarbenem, mit passenden Stoffblumen verziertem Crêpe, dazu als Kontrast ein schwarzer weiter Rock. Das Abendkleid war vor einer von Christian Bérard gemalten Theaterkulisse aufgestellt, das die Romantik der großen französischen Theatertradition heraufbeschwor. Das Tageskleid stand zusammen mit eindrucksvollen Designs von Balenciaga und Schiaparelli im Ambiente des Palais-Royal. Noch ungewöhnlicher war die Kulisse für das Tanzkleid: Le Port du nulle part [Der Hafen von nirgendwo] mit den verschlissenen Segeln eines Geisterschiffs an einem namenlosen Kai, auf dem mehrere Puppen in einer Reihe postiert waren. Dieses Bild war die Arbeit eines russischen Emigranten namens Georges Wakhévitch, einem bejubelten Bühnenbildner für Oper und Film, der auch mit Cocteau zusammenarbeitete.

Während ich die vergilbten Fotos von der Ausstellung betrachte, geht mir durch den Kopf, dass Christian Dior im März 1945 an diesen zarten Kleidern arbeitete, da er angstvoll auf Nachrichten von seiner Schwester wartete, die in der Finsternis des Dritten Reiches verschwunden war. Der Krieg gegen Deutschland war noch im Gange, am 18. März tobte eine Luftschlacht über Berlin, und am 23. März starteten die Westalliierten ihre Operation zum Überschreiten des Rheins. Am selben Tag starb Elisabeth de Rothschild, vormals die Grande Dame der Pariser Modewelt, in Ravensbrück.

In Paris ging die Show weiter. Dem Théâtre de la Mode wurde so große Bedeutung beigemessen, dass die Republikanische Garde zur Eröffnung eine Ehrenformation in Paradeuniform bereitstellte. Sie lief bis zum 10. Mai – zwei Tage nach Verkündung des Sieges in Europa. Wegen des riesigen Andrangs hatte man sie um mehrere Wochen verlängern müssen. Es kamen über einhunderttausend Besucher. Aus den Ticketerlösen konnte eine Million Francs für die Unterstützung von Kriegsopfern bereitgestellt werden. Zugleich wurde den Besuchern der unschätzbare Wert der Mode in Erinnerung gebracht.

Am 8. Mai wandte sich Raoul Dautry an den französischen Botschafter in London mit der Bitte, eine Präsentation des Théâtre de la Mode in England zu unterstützen. »Leider hat Frankreich wenig zu exportieren, aber es wird geschätzt für seine schönen Dinge und die Kunstfertigkeit seiner Modehäuser«, schrieb er. Das Théâtre de la Mode öffnete im September 1945 in London. Es war die erste ausländische Ausstellung seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Für die Königin wurde ein Privatbesuch arrangiert. In den sechs Wochen standen 120 000 Besucher Schlange, um zu sehen, was The Fantasy of Fashion genannt wurde. Anschließend reiste das Théâtre de la Mode nach Leeds, Kopenhagen, Stockholm und Wien. 1946 wurde eine aktualisierte Version in New York und San Francisco gezeigt, die viel dazu beitrug, den Ruf der französischen Mode in Amerika wiederherzustellen.

Lucien Lelong pries den großen Erfolg der Ausstellung mit den Worten: »Das ist Paris und nichts als Paris – dieses Theater der Mode! Sein Lächeln, seine Kraft, sein Geist und sein Charme …« Die schweigenden Puppen mit den weißen Gesichtern waren das absolute Gegenteil der vulgären Kundinnen, die ihre Schwarzmarkteinkünfte in die Modesalons getragen hatten. Die perfekten Puppengesichter kannten keine Schminke, ihre blanken Augen hatten nichts von den Schrecken und Demütigungen des Krieges gesehen, und ihren Gliedern aus Draht konnten Hunger und Verletzungen nichts anhaben. Wenn die Mode in dieser Ausstellung auf ihre geheiligte Geschichte zurückgriff, dann rüstete sie sich damit für die Zukunft – Kleidung zu liefern, nicht für das Töten, sondern für das Überleben.