Die Abzweigung zu Colle Noire von der kurvenreichen Straße, die durch die Berge des Pays de Fayence nach Montauroux führt, ist leicht zu übersehen. Doch als Christian Dior das Anwesen 1950 kaufte, kannte er die Gegend. Nur wenige Kilometer entfernt liegt Les Naÿssès, das einsame Bauerngehöft, wohin sein verwitweter Vater Maurice sich nach seinem katastrophalen Bankrott und dem Trauerfall Anfang der dreißiger Jahre zurückgezogen hatte. Auch für Christian und Catherine war es bis in die ersten Kriegsjahre ein Zufluchtsort gewesen. Nachdem Catherine Les Naÿssès 1946 geerbt hatte, pflegte sie dort den Sommer zu verbringen, und Christian besuchte sie, sooft er konnte. In dem kleinen Bauernhaus hatte er nach wie vor ein eigenes Zimmer.
Das Château de la Colle Noire, so der volle Name, war mit Les Naÿssès nicht zu vergleichen – ein solides Herrenhaus, das Mitte des 19. Jahrhunderts für einen angesehenen Anwalt der Gegend erbaut wurde. Der ließ auf seinem Grundstück sogar eine Kapelle errichten. Als Christian zu Ohren kam, dass das Objekt zum Verkauf stand, war es bereits ziemlich baufällig. Doch der Standort, von dem man die ganze Umgebung überblickt, und neunzig Hektar Land faszinierten ihn. Als er La Colle Noire erworben hatte, warb er André Svetchine, einen russischstämmigen Architekten in Nizza, an, der bereits an Projekten wie einer Villa für Marc Chagall und der Renovierung einer alten Mühle für Raymonde Zehnacker, die Direktorin von Diors Designstudio, gearbeitet hatte. Doch große Teile der Innenausstattung des Hauses entwarf Christian selbst und beaufsichtigte auch die umfangreiche Neuanpflanzung der Weinberge, Obstwiesen und Gärten.
Die Restauration von La Colle Noire nahm mehrere Jahre in Anspruch und war sehr kostspielig, doch das Ergebnis war ein starker Eindruck von Dauerhaftigkeit und Schönheit. Statt pompöser Größe strahlt die Steinfassade ruhige Vornehmheit aus. Hohe Zypressen säumen wie Wächter die von Kies bedeckte Auffahrt zum Eingang. Im Hausflur ist Christians Handschrift sofort am Mosaik der Windrose zu erkennen, die Erinnerungen an Les Rhumbs, das Haus seiner Kindheit in Granville, weckt. Auf einem Tischchen in der Diele liegt das aufgeschlagene Gästebuch. Beim Durchblättern bewundere ich eine Zeichnung mit Widmung von Marc Chagall: »Für Christian Dior, einen großen Künstler«. Besonders bewegend finde ich jedoch den Eintrag auf der ersten Seite, der von seiner jüngsten Schwester stammt: »Ich wünsche, dass dir auch weiterhin ein Glücksstern leuchten und dieses schöne Haus ›La Colle‹ erhellen möge. Mit großer Zärtlichkeit von deiner Catherine.«
In Christians Privaträumen am Ende des Korridors erscheint der symbolische Glücksstern in dem Gipsstuck über seinem Alkoven. Alles macht den Eindruck, als sei er gerade für einen Moment hinausgegangen. Sein abgenutzter Strohhut liegt auf dem Louis-Vuitton-Koffer mit Christians Monogramm, auf dem Schreibtisch steht eine Vase mit Mairosen aus dem Garten, deren Duft sich mit dem leichten Aroma von Christians bevorzugtem Eau fraiche mischt. Neben dem Schlafraum liegt sein Arbeitszimmer mit einem Mahagoni-Schreibtisch, an dem er das Schlusskapitel seiner Autobiographie verfasste. Hier hat er seine Hoffnungen für die Zukunft formuliert, und seine Stimme scheint noch so viele Jahre später nachzuhallen. »La Colle Noire«, schrieb er, »ist einfach, massiv und edel; seine Heiterkeit passt zu dem Lebensabschnitt, den ich in einigen Jahren ansteuern werde. Ich wünschte mir, dass dieses Haus mein wahres Haus sein möge, das Haus, in das ich mich zurückziehen werde, wenn Gott mir ein langes Leben schenkt … Das Haus, in dem ich Christian Dior werde vergessen können, um nur Christian zu sein.«
Ich sitze an Christians Schreibtisch, lese noch einmal dieses Kapitel und schaue dann zum offenen Fenster hinaus, wo das Dorf Callian auf einer Bergkuppe vor mir liegt. Catherines Rosenfelder und ihr Haus sind irgendwo zwischen den Wäldern und den Falten der Landschaft versteckt. Kurz zuvor habe ich beim Mittagessen im Garten Laurent des Charbonneries getroffen, den Enkel von Catherines Lebensgefährten Hervé, der beide in Les Naÿssès regelmäßig zu besuchen pflegte. Laurent erzählte, Catherine sei für ihn ebenso eine Großmutter gewesen wie Hervés Ehefrau Lucie. Er beschrieb Catherine als reserviert und zurückhaltend, aber voller Kraft und großer Würde. Weder sprach sie je vom Krieg noch von persönlichen Dingen. Wie Laurent beobachtete, war es nicht Catherines Art, viele Worte zu machen. Aber sie war immer bereit, über Politik und aktuelle Ereignisse zu diskutieren. Wie Hervé war sie Gaullistin. Beide sahen sich als Patrioten, die »eine gewisse Vorstellung von Frankreich« teilten, wie General de Gaulle sie beschrieben hat.
Laurent ist Militärarzt geworden. Er glaubt, dass Catherine das gefiel, direkt gesagt hat sie es ihm aber nicht. Sie war keine Frau, die ihre Zuneigung körperlich zeigte, doch er wusste, dass sie für Menschen, die ihr nahestanden, tiefe Gefühle hegte. Eine von Laurents dauerhaften Erinnerungen an Catherine ist der Geruch. Sie duftete stets nach Miss Dior, ob sie nun im Garten arbeitete oder ihre Rosen erntete. Auf ihrer Frisierkommode stand ein Flacon des Parfüms neben ein paar Lippenstiften von Dior. Sie war keine Modedame, aber immer elegant, erklärte Laurent, stets ausgeglichen und gut angezogen.
Christian Dior starb, bevor Laurent geboren wurde. Er erzählt, dass sein Vater Hubert ihn als liebenswürdigen, höflichen Menschen schilderte und ihn wegen seines engen Verhältnisses zu Catherine schätzte. Sie ist nach wie vor in La Colle Noire präsent, nicht zuletzt in den Fotografien, die auf dem Gang an einem Ende des Hauses hängen. Darauf ist Catherine als Kind in Granville, als junge Frau im Garten von Les Naÿssès und auf der Terrasse von La Colle Noire zu sehen, wo sie ein einfaches, aber schickes Baumwollkleid von Dior trägt, ein Glas in der Hand hält und lächelt.
Ein weiteres Zeichen der engen Verbindung von Christian und Catherine ist im Arbeitszimmer zu entdecken, wo Christians altes, schwarzes Bakelit-Telefon auf dem Schreibtisch steht, auf dem eine direkte Leitung zu seiner Schwester in Callian markiert ist. Ich probiere sie aus, aber natürlich ist der Anschluss tot … Wie kann das sein, überlege ich, da das Haus doch so lebendig wirkt? Elektrizität scheint im Raum zu pulsieren, während ich schreibe; mein Haar und mein Laptop sind statisch aufgeladen. Ich spüre winzige Stromstöße, wenn meine Finger die Tastatur berühren. Noch einmal nehme ich den Hörer auf und lausche konzentriert. Inmitten des Schweigens erscheint ein leises Summen wie das Rauschen des Meeres in einer Muschel oder ein Echo aus vergangener Zeit. Die Uhr auf dem Kaminsims tickt, ihr goldenes Pendel schwingt gleichmäßig hin und her. Das Barometer an der Wand zeigt einen Wetterumschlag an. Draußen hat es sanft zu regnen begonnen, eine Brise fährt durch die Bäume und raschelt in den Blättern. Aus dem Garten lässt ein Pfau seinen Ruf ertönen, ein Springbrunnen plätschert in dem länglichen Pool vor der Terrasse. Ich kehre zu Christians Worten zurück, die an diesem Schreibtisch geschrieben wurden: »In Montauroux schreibe ich diese letzten Zeilen. Wieder hat das Schicksal ohne mein Zutun entschieden, hat mich in die Ruhe der provenzalischen Landschaft geführt, um den Schlusspunkt unter dieses Werk zu setzen. Die Nacht ist hereingebrochen und mit ihr ein unendlicher Friede. Die Avenue Montaigne ist sehr weit weg … Ich habe den ganzen Tag zwischen den Reihen meiner Reben verbracht, um die zu erwartende Weinernte zu prüfen … Draußen kommen die ersten Sterne hervor und spiegeln sich … in dem Becken mit fließendem Wasser …«
Ich bleibe sitzen, warte auf die Dunkelheit und hoffe, dieselben Sterne zu sehen, die Christian sah. Endlich öffnet sich die Wolkendecke, der Nachthimmel schimmert im Mondlicht. Dann verdunkelt er sich wieder und wirkt wie schwarzer Samt. Gegenüber dem Schreibtisch sehe ich ein Spieltischchen, auf dem zwei Kartensätze liegen, als wollte jemand gleich Canasta spielen, das Christian so liebte. Noch mehr Spielkarten liegen in einem Schrank. Ein Satz sieht aus, als stamme er aus Christians Kindheit, denn darauf sind Figuren in Gewändern aus dem 19. Jahrhundert abgebildet. Dann stoße ich auf Wahrsager-Karten mit handschriftlichen Notizen darauf. Könnte Christians bevorzugte Hellseherin Madame Delahaye sie ihm gegeben haben? Wenn sie doch nur hier erschiene, um mir eine Spur zu ihm zu weisen. Ich mische die Karten, werfe sie in die Luft, um ein Zeichen zu erhalten, und decke eine auf: In der oberen rechten Ecke ist der Buchstabe J aufgedruckt, links oben zweimal die Kartenfarbe Kreuz, darüber von Hand das Wort Schicksal geschrieben. Darunter sind sechs Frauen abgebildet. Eine weist zum Himmel, wo eine Gruppe von sieben Sternen (die Plejaden?) mit mehreren Linien verbunden ist, wodurch ein geheimnisvolles Sternbild entsteht. Unterhalb der Frauen ist eine weitere Zeichnung zu sehen: ein Blumenstrauß zwischen zwei Felsvorsprüngen oder Klippen. Auf dem linken Fels sitzt ein Vogel, und zu Füßen des rechten scheint ein weiterer gerade zu landen. Darunter ist handschriftlich vermerkt: »Titel in Aussicht«. Ich zerbreche mir den Kopf, wie man das deuten könnte – vielleicht als Prophezeiung von Ruhm und Reichtum für Christian Dior?
Es heißt, Madame Delahaye habe Christian im Oktober 1957 gewarnt, nicht nach Italien zu fahren, weil sie in ihren Karten unheilvolle Vorzeichen gesehen hatte. Aber diesmal ignorierte er ihren Ratschlag und reiste in den toskanischen Badeort Montecatini, um dort etwas abzunehmen. Dabei begleiteten ihn Raymonde Zehnacker und seine siebzehnjährige Patentochter Marie-Pierre Colle, deren Vater Pierre, Christians Freund und früherer Partner in der Kunstgalerie, 1948 verstorben war. Christian hatte die Absicht, sich in dem Badeort zu entspannen und bei einer Verjüngungskur abzuschalten. Er litt bereits an Herzproblemen, die sich durch das Übergewicht und den zunehmenden Stress verschärft hatten, was er allerdings für sich zu behalten suchte. Auf andere wollte Dior stets ruhig und sachlich wirken, doch Cecil Beatons scharfsinnige Beschreibung des Modeschöpfers im Jahre 1954 deutet die schweren Sorgen an, die Christian Dior hinter einem gelassenen Auftreten verbarg. »Äußerlich wirkt Dior wie ein milder Dorfpfarrer aus rosa Marzipan«, schrieb Beaton in The Glass of Fashion. »Seine scheinbare Gemütsruhe ist eine Täuschung, mit der er innere Nervosität und Spannungen verbirgt, die jedes Mal in nahezu totaler Erschöpfung enden, wenn er eine neue Kollektion fertiggestellt hat.«
Beaton wusste von dem Druck, dem Dior ausgesetzt war, nicht zuletzt aus Verantwortungsbewusstsein für seine Angestellten, die inzwischen die Tausend überschritten hatten. Doch Beaton war auch der Meinung, dass Dior in einem Gewerbe, wo es von Diven und hysterischen Damen nur so wimmelte, einer der wenigen nachdenklichen Menschen war, die sich einen nüchternen Blick bewahrt hatten und daher nicht Gefahr liefen, zu einem dieser Modezaren zu werden, die glaubten, sich alles leisten zu können. »Ein Bürger, der mit beiden Beinen im Leben steht, ist er angesichts der Lobeshymnen, mit denen man ihn überschüttet, so bescheiden geblieben wie eh und je. Wohin er seinen Eierkopf auch drehen mag, er wird ihn bei keinem Erfolg verlieren. Dior macht nicht den Fehler, an seine eigene Popularität zu glauben, auch wenn er bei einer Ankunft in New York ein Presseecho auslöst wie Winston Churchill. Und wenn die Mode seiner eines Tages überdrüssig wird (selbst der Größte kann sich nicht mehr als einige Jahrzehnte auf seinem Thron halten), dann ist er es zufrieden und weise genug, eine Reserve zu haben, die es ihm erlaubt, sich auf seinen Bauernhof zurückzuziehen und in seinen Gärten zu arbeiten.«
Allerdings gab es ein Geheimnis, das nicht einmal ein solcher Insider in Modedingen wie Beaton kannte: Dior hatte beim Staat Steuerschulden in beträchtlicher Höhe. Nach Angaben seiner Biografin Marie-France Pochna betrugen sie 1957 40 Millionen Francs oder eine knappe Million US‑Dollar. Dass Dior überhaupt Schulden hatte, ist kaum zu glauben, wenn man bedenkt, welch erstaunliche Erfolge die Firma einfuhr. So soll zum Beispiel auf sie seit 1950 die Hälfte aller Mode-Exporte Frankreichs in die USA entfallen sein. Doch Christian gab mehr aus, als ihm guttat, in erster Linie für das große Pariser Stadthaus, das er 1950 nach seinem Auszug aus der Mietwohnung in der Rue Royale gekauft hatte. Das Gebäude, Boulevard Jules-Sandeau Nr. 7 im 16. Arrondissement, war von Victor Grandpierre und Georges Geffroy aufwendig möbliert und gestaltet worden. Dafür wurden französische Antiquitäten aus dem 18. Jahrhundert, Kristallkronleuchter und Aubusson-Teppiche erworben. Neben gotischen Gobelins hing eine Zeichnung von Matisse. Für das Funktionieren dieses Haushalts wurden sechs Angestellte gebraucht, darunter ein Butler und ein Koch.
Dazu kamen die Kosten für La Colle Noire. Christians Streben nach Vollkommenheit auch in der Architektur war nicht billig zu haben; ebenso kostspielig war die Realisierung seiner Ideen für den Garten. Der so natürlich wirkende Pool hatte olympische Ausmaße. Für die Anpflanzung von Mandelbäumen, Olivenhainen und Weingärten, dazu Jasmin, Iris, Lilien und Rosen in riesigen Mengen wurde ein eigenes Bewässerungssystem angelegt. Auch gegenüber seinen Angestellten in Paris oder lokalen Anliegen in der Provence zeigte er sich großzügig: So finanzierte er zum Beispiel die Instandsetzung der historischen St. Bartholomäus-Kapelle im nahegelegenen Dorf Montauroux und schenkte diese 1953 der Gemeinde.
Je mehr Christians Wünsche nach teurem Essen, hervorragenden Weinen, exquisiten Häusern und luxuriösem Lebensstil wuchsen, desto mehr stieg seine innere Spannung und desto weniger schien er sich selbst noch zu mögen. Marie-France Pochna zitiert eine traurige Bemerkung aus einem Brief an einen alten Freund. Dem schrieb er, wenn er sich selbst im Spiegel sehe, sei er von dem Bild beschämt: »Dein alter Schneider welkt dahin und wird dabei immer fetter.« 1956 verliebte sich Christian in einen hübschen jungen Mann, einen aus Marokko stammenden Sänger namens Jaques Benita. Doch diese Beziehung schien weder seine Ängste lindern noch den permanenten Drang nach Perfektion in der Arbeit mindern zu können. Als Christian am 20. Oktober 1957 im Grand Hotel von Montecatini eintraf, hatte er alle seine Sorgen im Gepäck.
Eigentlich wollte er sich nun erholen, aber fast den gesamten nächsten Tag verbrachte er am Telefon in Gesprächen mit seinem Pariser Büro. Als er jedoch sein Zimmer verließ, war er höflich wie immer, und die Hotelangestellten waren sehr angetan von seinen guten Manieren. Am 23. Oktober spielte er abends mit Raymonde und Marie-Pierre Karten und begab sich zeitig zur Ruhe. Raymonde beschloss, bald darauf noch einmal nach ihm zu schauen – später sagte sie, sie hätte »eine Ahnung« gehabt – und fand ihn bewusstlos auf dem Fußboden des Badezimmers. Ärzte wurden gerufen, aber kurz nach Mitternacht stellten sie seinen Tod als Folge eines Herzanfalls fest. Raymonde rief sofort Catherine an, die sich umgehend auf den Weg nach Italien machte. Sie traf gerade rechtzeitig in Montecatini ein, um ihren Bruder im schwarzen Anzug auf dem Bett liegend noch einmal zu sehen. Dann wurde er in einen Sarg gelegt und mit Marcel Boussacs Privatflugzeug nach Paris gebracht.
Die Nachricht von Christian Diors plötzlichem Tod im Alter von nur 52 Jahren verbreitete sich rasch, denn sie machte auf der ganzen Welt Schlagzeilen. Überall war man schockiert darüber, dass er nach kaum zehn Jahren seit seiner Umwälzung der Modebranche schon das Zeitliche gesegnet hatte. Noch im März 1957 hatte ihn Time mit einer riesigen Schere in der Hand auf dem Titelblatt gebracht, als besitze er ultimative Macht über die Mode. Manche Beobachter meinten, er sei nicht zu ersetzen, und »der Zusammenbruch des Hauses Dior« stehe unmittelbar bevor. In Wirklichkeit war sein brillanter Nachfolger schon bereit – der junge Yves Saint Laurent, der bereits seit 1955 für Dior arbeitete. Trotzdem markierte sein Tod das dramatische Ende einer Ära. Mehrere seiner Zeitgenossen waren ebenfalls relativ jung gestorben – Robert Piguet 1953 mit 44 Jahren, Jaques Fath 1954 mit 42 und Marcel Rochas 1955 mit 53 Jahren. Das veranlasste Kommentatoren, den hohen Tribut in Frage zu stellen, den die Branche ihren kreativen Köpfen abverlangte.
Catherine Dior äußerte später in einem Interview für Stanley Garfinkel die Vermutung, der kompromisslose Arbeitsstil ihres Bruders könne zu seinem frühen Tod beigetragen haben. »Mein Bruder arbeitete viel, das mag einer der Gründe sein, weshalb er den permanenten Wettbewerb unter den Modegestaltern nicht länger als zehn Jahre ausgehalten hat. Er hatte eine schwache Gesundheit, gab aber alles für seinen Beruf, für seine Kreationen, bei der Leitung seines Modehauses, bei seinen Geschäften und den verschiedenen Präsentationen in den Vereinigten Staaten. All das hat ihn sehr erschöpft …« Als Christians Terminkalender immer erbarmungsloser wurde, fuhr sie fort, »haben wir uns nicht mehr so oft gesehen wie früher, doch die Bande unsrer zärtlichen Zuneigung waren sehr stark«.
Zweifellos hatte die Nachfrage nach modischer Kleidung kaum noch zu bewältigende Ausmaße angenommen, doch Christian Diors Ableben schien einen Verlust zu bedeuten, der weit über die Welt der Mode hinausging. Sein Freund Pierre Bergé, der später Saint Laurents Partner werden sollte, nannte Diors Tod »ein nationales Ereignis. Es war, als hätte Frankreich sein Leben ausgehaucht.« Die Trauerfeier, die am 29. Oktober in der Kirche Saint Honoré d’Eylau stattfand, hatte den Charakter eines Staatsaktes. Drinnen saßen 2000 Trauergäste, und draußen versammelte sich eine riesige Menschenmenge. Die Duchess of Windsor nahm an der Zeremonie teil, ebenso Jean Cocteau, Carmel Snow und die meisten prominenten Modeschöpfer: Lucien Lelong, Jacques Heim, Jean Dessès, Pierre Cardin, Hubert de Givenchy und Cristóbal Balenciaga. Coco Chanel erschien nicht, schickte aber einen Kranz roter Rosen. Am Ende kamen so viele Blumen zusammen, darunter Christians geliebte Maiglöckchen, dass sie die ganze Kirche füllten und bis auf die Straße hinaus reichten. Catherine sorgte dafür, dass alle Blumenspenden später zum Arc de Triomphe gebracht und am Grab des Unbekannten Soldaten niedergelegt wurden. Sie leitete auch alles ein, was für die Vorbereitung der letzten Ruhestätte ihres Bruders auf dem Friedhof von Callian notwendig war. Schwarz verschleiert begleitete sie den Sarg auf der nächtlichen Fahrt von Paris in die Provence.
Pierre Bergé gehörte der kleinen Gruppe von Freunden an, die sich ihr anschlossen. Er schilderte seine Überraschung, als er sah, wie »in den Dörfern auf dem Weg nach Callian Frauen aus den Häusern gelaufen kamen, um Blumen auf den Leichenwagen zu werfen. In dem Dorf fand eine zweite Trauerfeier statt, an deren Ende der Sarg schließlich in das Grab hinabgelassen wurde. Catherine stand da mit gesenktem Kopf, das Gesicht hinter dem traditionellen Schleier verborgen. »Ihr trauert, meine lieben Brüder«, sagte der Pfarrer. »Aber bedenkt, wenn Gott Dior zu sich gerufen hat, dann hat Er es getan, weil Er ihn brauchte, um die Engel zu kleiden …«
Jean Cocteau, weltlicher eingestellt, wählte seine Worte aus anderer Sicht: »Bei ihm paarte sich Freundlichkeit mit einem brillanten Geist, der es ihm gestattete, sich über die frivolen Diktate der Mode zu erheben«, schrieb Cocteau in einem Nachruf. »Dieser Herr des Lichts kannte und respektierte die Herren der Finsternis … Der unerwartete Tod Christian Diors bestätigt die Regel, dass nach dem Feuerwerk die Nacht jeden nach Hause schickt.«
Es geht auf Mitternacht zu, und in den Mauern von La Colle Noire ist alles still. Ich steige die Treppen zu Catherines Reich im oberen Stockwerk hinauf, wo ich diese Nacht schlafen soll. 1958 hat sie hier mit Hervé des Charbonneries sechs Monate lang gewohnt, während Les Naÿssès modernisiert wurde. Bis dahin hatte das Bauernhaus weder elektrischen Strom noch moderne sanitäre Anlagen. Ihr Bruder hinterließ ein einfaches Testament: Er vererbte alles Catherine und Raymonde Zehnacker, den beiden Frauen, die für die verschiedenen Seiten seines Lebens standen – den Rhythmus der Jahreszeiten in der ländlichen Provence und das hektische Geschäft der Pariser Mode. Doch Dior hatte so hohe Schulden, dass La Colle Noire verkauft werden musste, ebenso sein Stadthaus in Paris. Catherine wurde zur »moralischen Erbin« ernannt und übernahm die Verantwortung für Christians künstlerisches Erbe. Diese Aufgabe erfüllte sie mit der für sie charakteristischen Loyalität. Sie sorgte dafür, dass seine Autobiographie weiter verlegt wurde und seine Modekreationen einen festen Platz in verschiedenen Archiven fanden. Außerdem unterstützte sie die Einrichtung des Dior-Museums in Granville.
Nach Christians Tod gab Catherine ihren Blumenhandel in Paris auf und entschloss sich, permanent nach Callian zu ziehen, wo sie sich auf den Anbau von Rosen und Jasmin konzentrieren wollte. Doch zunächst musste über die Immobilien des Bruders entschieden, mussten seine Geschäfte in Ordnung gebracht werden. Sie brauchte einige Zeit, bis La Colle Noire verkauft war. Das Anwesen ging durch mehrere Hände und blieb schließlich ab 2013 bei Christian Dior Parfüms, das heute Teil der mächtigen LVMH-Gruppe, der Modefirma Dior, ist. Zum Glück hatte Catherine für die Aufbewahrung der Originaleinrichtung des Hauses samt der Spielkartensammlung gesorgt. All das wurde zusammen mit anderen Erinnerungsstücken, die LVMH erwarb, nach La Colle Noire gebracht.
Dieses Haus wurde mit so viel Liebe restauriert, dass man es nicht als Imitation oder gar Kulisse empfindet. Das wird in Catherines Räumen besonders deutlich. Ihr Schlafzimmer hat zwei Fenster, aus denen man auf den Garten und die Berge im Hintergrund schaut. Eine andere Wand hat nur ein Bullauge wie auf einem Schiff. Der Raum wirkt dezent feminin; die Wände schmücken reizende altmodische Baumwolltapeten, auf denen Schmetterlinge und Vögel zwischen Ranken mit gelben und rosa Blüten umherflattern. Eine Wendeltreppe, in einer Ecke versteckt, führt zu einem weiteren Raum darüber, einem Adlerhorst in der Spitze eines der beiden Türme des Schlösschens.
In der Mainacht stehen die Fenster weit offen, und während ich hellwach in Catherines Bett liege, dringt von weit unten das beruhigende Plätschern des Springbrunnens zu mir herauf. Das schmiedeeiserne Gitter trägt ihre Initialen, die gleichen wie die ihres Bruders. Dabei fällt mir ein, dass er in dem ihr gewidmeten Exemplar seiner Autobiographie, das im Dior-Archiv von Paris liegt, die Widmung mit »Tian« unterzeichnet hat: »Für meine Catherine von deinem Bruder mit der größten Zuneigung und Zärtlichkeit, Tian.«
Ich warte auf Geister, aber keiner will sich sehen lassen. Ich schlafe tief und traumlos und werde erst bei Sonnenaufgang von fröhlichem Vogelgezwitscher geweckt. Der Himmel ist vom abendlichen Regen reingewaschen, doch die Hügel ringsum sind noch dunkel und nass – die schwarzen Berge, die La Colle Noire den Namen gegeben haben.
So schön die Umgebung ist, trägt sie doch die Narben des Krieges, denn überall finden sich Orte des Gedenkens an jene, die für die Sache der Résistance gestorben sind. Anfang Juli 1944, als Catherine in Paris verhaftet wurde, umstellten die Deutschen die Bergdörfer Callian und Montauroux, durchsuchten jedes Haus und nahmen fünfzehn Mitglieder der Résistance fest, die verhört und eingekerkert wurden. Einer von ihnen, Henri Bourguignon, wurde nach Dachau deportiert, wo er am Heiligen Abend 1944 starb. Er hat eine Ehrentafel an einer Wand der Kirche von Callian bekommen. Die Namen weiterer siebzehn Widerstandskämpfer der Gegend hat man in Montauroux verewigt. Drei gaben ihr Leben für die Sache hin, darunter Justin Blanc, der ebenfalls nach Dachau gebracht wurde, wo auch er am 19. März 1945 starb. Gegenüber dem Eingangstor von La Colle Noire wurde ein Gedenkstein zu Ehren eines zwanzigjährigen Schäfers namens Justin Ramonda aufgestellt, der sich 1943 der Résistance anschloss und das Maschinengewehr der Gruppe bediente. Am 15. August 1944, dem Tag, als die Alliierten an der Mittelmeerküste in der Nähe landeten und Catherine von Paris nach Ravensbrück gebracht wurde, nahm Ramonda an einer Operation teil, um einen deutschen Konvoi aufzuhalten, bis die Flugzeuge der US Air Force eingreifen konnten. Er wurde gefangengenommen und sofort erschossen. Dafür verlieh man ihm postum das Croix de Guerre. Weniger ruhmreich, aber allzu typisch für die tiefen Gräben im Frankreich der Kriegszeit – Justins älterer Bruder war bei der SS‑Sicherheitspolizei gewesen und wurde von einem Militärgericht zu lebenslanger Haft unter verschärften Bedingungen verurteilt.
Diese Geschichte gehört ebenso zu der Landschaft, die La Colle Noire umgibt, wie die zeitlosen Rosenfelder, die hohen Kirchtürme, die alten Steinmauern, die schlanken Zypressen und der weite Himmel der Provence. Auch Christian Diors Anwesen kann das Wissen um die Kriegszeit nicht ausblenden. Sicher ist dies ein Ort, der einen ganz in seinen Bann schlägt. Hier hinter festen Mauern zu verweilen oder, von immergrünen Hecken und hohen Bäumen vor der Außenwelt geschützt, in üppigen Gärten zu wandeln, macht einen glauben, man sei in eine Zauberwelt geraten. Doch die Spuren der Anwesenheit Catherines erinnern unweigerlich daran, wie wichtig Freiheit ist und warum man für sie kämpfen muss. Christian Dior sagte einmal: »Miss Dior wurde an jenen Abenden in der Provence geboren, da Glühwürmchen schwärmen und junger Jasmin zur Melodie von Nacht und Land den Diskant spielt.« Doch das Parfüm wurde erst zwei Jahre nach Kriegsende kreiert, und seine Ingredienzien wuchsen aus einem Boden, auf dem Blut vergossen und getötet wurde.
Als Christian Dior über diesen Dualismus in seinem Leben nachdachte und darüber ganz am Ende seiner Autobiographie schrieb, tat er das in La Colle Noire. »Der Augenblick einer … Gegenüberstellung mit diesem siamesischen Bruder, den mir der Erfolg zuführte …, scheint gekommen. … Es ist gut, dass unser Gespräch hier stattfindet, nur zwei Schritte von meinen Weinstöcken und meinen Jasminbüschen entfernt. Nahe der Erde fühle ich mich immer sicher.«
Wenn er sich tatsächlich als so zweigeteilt – als Mann der Öffentlichkeit und als Privatmensch, als Modeschöpfer und Landbewohner – empfand, dann kann man verstehen, dass diese Spaltung der Persönlichkeit Krankheit und Instabilität ausgelöst haben mag. Vielleicht ist das Diors Tragödie und zugleich die Quelle seiner Größe: ein Herr des Lichts, der zugleich die Macht der Finsternis kannte, der zärtliche Bruder, der das Leid und den Opfermut der Schwester nicht vergessen konnte, auch wenn er sie in blumige Seide kleidete und in den Duft der Liebe hüllte.