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KAPITEL
Dixie Clay betrat die überdachte Veranda der Mühle von Hobnob, schlüpfte aus ihrem Regenmantel, löste die Schnüre ihres Huts und hielt das tropfende Ding von sich weg. Sie hämmerte gegen die Tür, doch der lärmende Regen verschluckte alle Geräusche, also schob sie die von der Nässe verzogene Tür mit der Schulter auf. Die Tür gab nach, und Dixie Clay stolperte ins Halbdunkel. Kleine Wolken aus Mehlstaub stoben in die Höhe. Die Frauen saßen grüppchenweise um das Walzwerk herum. Sie blickten auf, aber keine grüßte. Stattdessen wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
Dixie Clay schob die Tür wieder ins Schloss, um das Dröhnen des Regens auszusperren, ließ den Blick durch den Raum schweifen und entdeckte zu ihrer Rechten den unverwechselbaren Rücken von Amity Tidwell, der sich durch die Streben ihrer Stuhllehne drückte. Zusammen mit drei anderen saß sie um eine Palette mit Maismehlsäcken herum, auf denen Äste und Zweige lagen. Dixie Clay hängte Mantel und Hut an einen Nagel und stellte sich wortlos hinter Amity, die sich nur deswegen umdrehte, weil die anderen Frauen plötzlich verstummt waren.
»Dixie Clay!«, sagte sie. »Viele Hände machen der Arbeit schnell ein Ende. Hol dir einen Stuhl.«
Aber es gab keine freien Stühle mehr. Also schleppte Dixie Clay einen leeren Getreidekasten heran, drehte ihn um, setzte sich darauf und fühlte sich sofort unwohl: Sie war jetzt einen Kopf kleiner als die anderen und kam sich vor wie ein Kind, das ausnahmsweise bei den Erwachsenen sitzen darf und sie durch seine Anwesenheit vom Tratschen abhält.
Amity wies sie an, aus dem Haufen von Weidengeäst ähnlich große Gerten herauszusuchen und durch die dickeren, bereits auf der Palette liegenden Zweige zu weben. Die Frauen stellten Reisigmatten her, um die Uferhänge zu verstärken und die Wucht der Wellen zu dämpfen, die in Hobnobs berühmter Flussschleife gegen den Deich schlugen. Dixie Clay beobachtete Amitys dralle, von Ringen geschmückte Finger und tat es ihr mit ihren eigenen kleinen geschickten Händen gleich.
Das Gespräch, das bei Dixie Clays Ankunft verstummt war, kam allmählich wieder in Gang. Die Frauen unterhielten sich über die Überschwemmung in Arkansas. In Forest City waren fünftausend Menschen obdachlos, in Helena gab es sechstausend Flüchtlinge. Die regionalen Zeitungen hatten Anweisung, die Flut herunterzuspielen, aber in der vergangenen Woche war jemand nach Memphis gefahren und hatte sich die New York Times besorgt, die nun in der Mühle von Hand zu Hand ging. Als Dixie Clay endlich an der Reihe war, las sie: »Mississippi-Flut fordert sieben weitere Todesopfer … Heute sind sowohl in Missouri als auch in Illinois die Zusatzdeiche gebrochen … In Memphis wurde ein ganzes Haus auf dem Fluss gesichtet, unterwegs zum Golf von Mexiko.« Dixie Clay reichte die Zeitung schnell weiter.
Nach einer Weile ging es mit Klatsch aus Hobnob weiter, mit dem Alligator, der im Hühnerstall der Neills gewütet hatte, und mit der Eiche, die auf das Dach von David Gavins Haus gestürzt war. Zuletzt kam das Gespräch auf die Mühle. Die Farmer brachten keinen Mais mehr, der sich zu Mehl mahlen ließe. An einen so verregneten Sommer wie den letzten konnte sich niemand erinnern. Es hatte den ganzen März geregnet, sodass die Farmer nur wenig Saat ausgebracht hatten, und den ganzen Juni, sodass sie kaum etwas ernten konnten. Der Müller arbeitete jetzt als Sandsackschlepper auf dem Deich. Sehnsüchtig erinnerte Dixie Clay sich daran zurück, wie er mit in die Seiten gestemmten Fäusten neben den Mühlsteinen gestanden hatte, die Augenbrauen und den Schnurrbart voller Maismehlstaub.
Nach einer Weile sprachen sie über ihre Männer, die jetzt die schweren, regennassen Sandsäcke den Damm hochschleifen mussten. Dixie Clay hatte zu dem Thema nichts beizutragen. Was aber auch niemand von ihr erwartete – alle wussten, dass der warme, feuchte Sack Maismehl, der beim Heimritt auf ihrem Sattelknauf liegen würde, nicht zu Maisbrot verarbeitet oder als Hühnerfutter gebraucht wurde. »Mais mag ich am liebsten aus dem Glas«, pflegte Jesse zu sagen. Viele dieser Frauen hassten Dixie Clay, weil sie mit einem Schwarzbrenner verheiratet war. Dabei stimmte das gar nicht. Dixie Clay war nicht mit einem Schwarzbrenner verheiratet – sie brannte selbst. Am liebsten hätte sie es ihnen verraten, nur um ihr gestammeltes Erschrecken zu genießen.
»Das letzte Mal habe ich Weidenruten geflochten«, erzählte Lettie Ball, Organistin der Baptistengemeinde, »um meinen missratenen Sohn zu schlagen, weil er …«
»Welchen?«, fragte Dorothy Worth. »Eli oder Arlis?«
»Meine Güte, Dorothy, du weißt doch, dass mein kleiner Eli so zuckersüß ist, dass man schon bei seinem Anblick Zahnschmerzen bekommt! Nein, ich spreche von Arlis. Er ist so wild wie ein tollwütiger Hund. Erinnert ihr euch an den Tag, kurz bevor der Jahrmarkt in Washington County eröffnet wurde, letztes Jahr am ersten Juli, und …«
Die Stimmen verwoben sich über Dixie Clays Kopf wie die Ruten in ihren Fingern. Sie hatte ganz vergessen, wie beruhigend diese Frauengespräche waren. Sie erinnerte sich an das Pianola im Haus des Bürgermeisters von Pine Grove in Alabama. Auf der Weihnachtsfeier hatte es einen Ragtime gespielt, die schwarzen und weißen Tasten wurden niedergedrückt wie von Geisterfingern.
Als Nächstes erzählte Dorothy von ihrem Sohn, der für den Brückenwärter arbeitete. Während Wind und Regen heulten, waren Dorothys Stimme und das bestätigende, einlullende »M-hmmm« der Frauen wie die Stanzlöcher in der Notenrolle, die sich im Innern des Pianolas drehte und die Musik vorantrieb. Dixie Clay hatte nie richtig Klavier spielen gelernt, obwohl ihre Mutter kurz vor ihrem Tod angefangen hatte, ihr Unterricht zu geben. Da war Dixie Clay zehn Jahre alt gewesen. Weil die Familie danach nur noch aus ihr, ihrem Vater und ihrem Bruder Lucius bestanden hatte, waren bestimmte Aspekte der Erziehung einfach weggefallen, was sie aber nie als Mangel empfunden hatte. Die irische Nachbarin, Bernadette Capes, hatte sie ein paarmal im Jahr zu sich bestellt, wenn es Zeit zum Einmachen oder zum Handarbeiten war. Von ihr hatte Dixie Clay viel gelernt. Den Rest hatte sie in Büchern nachgelesen.
Eine weitere Frau kam herein, zusammen mit einer nassen Windbö. Sie hob sich die tropfende Regenhaube vom Kopf und hielt sie auf Armlänge Abstand, begrüßte Amity mit einem flüchtigen Kuss und ging dann um den Tisch herum. Die Frauen hatten ihre Plätze mit Bedacht ausgewählt, denn das Angebot, den Damm zu sprengen und die Stadt zu überfluten, hatte die Einwohner in zwei Fraktionen unterteilt: die Fluter und die Aussitzer.
Dixie Clay hatte von dem Angebot erst erfahren, als es schon wieder zurückgezogen worden war, nur Jesse war wie immer mittendrin gewesen. Er hatte Freunde und Kunden in New Orleans – genau genommen war er derjenige gewesen, der den Vorschlag der Bankiers in die Gemeindeversammlung getragen hatte. Später hatte sie Jesse gefragt, zu welcher Entscheidung er tendiert habe, als das Angebot noch auf dem Tisch lag. Er hatte seine halb volle Flasche Black Lightning angehoben und gesagt:
»Glaubst du, ich würde freiwillig meine Gelddruckfabrik in die Luft jagen?«
Auch Dixie Clay wäre, hätte jemand sie nach ihrer Meinung gefragt, auf der Seite der Aussitzer gewesen. Natürlich fand sie den Gedanken an einen Neuanfang reizvoll, ihretwegen sollte Hobnob ruhig absaufen. Doch Jacobs Grab war hier, und das aufzugeben konnte sie sich nicht vorstellen.
Wieder öffnete sich die Tür – die Gespräche verstummten, und der Regen rauschte, bis sie wieder geschlossen wurde. Bess Reedy war hereingekommen, eine Aussitzerin, die Dixie Clay behandelte wie Luft. Vor etwa zwei Jahren hatte Bess’ Mann im Vollrausch in den Fluss pinkeln wollen, aber dann war er hineingefallen und ertrunken. Er hatte Black Lightning getrunken, den er bei Jesse gekauft hatte.
»Wo steht der Pegel?«, fragte eine andere Aussitzerin.
»Fast sechzehn Meter.«
»Und der Scheitelpunkt der Flut ist immer noch flussaufwärts.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie lange noch, bis er Hobnob erreicht?«
»Angeblich in zwei Wochen. Herr, hilf uns allen.«
Bess berührte Amitys Schulter im Vorübergehen.
Nun – wenn Hobnob Dixie Clay schnitt, würde Dixie Clay Hobnob ebenfalls schneiden. Kurz nach der Heirat mit Jesse war sie noch ab und zu in die Stadt geritten. Nach einer Weile war sie es leid gewesen, auf das ersehnte Baby zu warten. Sie hatte sich von Jesse ins Schnapsbrennen einführen lassen und war seither einfach zu beschäftigt. Sie stellte den Whiskey her, und Jesse verkaufte ihn, was eine Zeit lang gut funktionierte. Und dann war Jacob auf die Welt gekommen. Jacob mit dem süßen Duft. Jacob mit dem Milchatem. Dixie Clay brannte keinen Schnaps mehr, aber in die Stadt ritt sie trotzdem nicht. Wozu auch? Sie hatte Jacobs winzige, geblähte Nasenflügel, sie hatte seine zarten Schläfen, an denen sein Puls sichtbar puckerte, sie hatte seine Zehen, ein jeder so winzig und köstlich wie eine Erbse in der Schote.
Doch Jacob hatte keine drei Monate überlebt. Sie packte seinen winzigen Körper ein – so rot wie von der Sonne verbrannt, der Scharlachausschlag auf seinen Armen und Beinen so rau und körnig wie Schleifpapier, besonders in den Kniekehlen, und die Knie selbst so klein, dass sie sie mit Daumen und Zeigefinger umfassen konnte –, sattelte Chester und ritt nach Hobnob. Doch Jesse war verschwunden, nach Greenville, sagte der chinesische Gemüsehändler, der einer ihrer Kunden war. Greenville lag knapp sechzig Kilometer nördlich. Dixie Clay konnte sich bis heute nicht erinnern, wie sie von Hobnob nach Greenville gekommen war. Vermutlich hatte jemand sie in seinem Auto mitgenommen. Die Zeit nach Jacobs Tod war voller Löcher.
Sie konnte sich nur daran erinnern, wie sie an die grellbunt lackierte Tür von Madame LeLoups Etablissement geklopft hatte. Eine hellhäutige Schwarze in einem blauen, knielangen Flapper-Kleid hatte ihr geöffnet.
Dixie Clay war klar, dass sie etwas sagen musste. Plötzlich kam es ihr vor, als hätte sie tage-, wenn nicht gar wochenlang mit niemand anderem außer Jacob gesprochen.
»Ich suche Jesse Swan Holliver.«
»Nie von ihm gehört«, sagte die Frau.
»Jesse Swan Holliver. Mein Mann. Er hat verschiedenfarbige Augen.«
»So einen gibt es hier nicht. Gab es nie.«
»Bitte«, sagte Dixie Clay, und als die Frau sich anschickte, die Tür zu schließen, rief sie: »Bitte!«, und hielt das Bündel in die Höhe. Sie hatte Jacob in ein Taufkleidchen gewickelt, das sie aus ihrem Hochzeitskleid genäht hatte. Der Junge war noch nicht getauft worden.
»Du lieber Himmel«, sagte die Frau. »O Gott.« Sie bekreuzigte sich und sagte, sie werde den Ehemann sofort herunterholen. Und das hatte sie dann auch getan.
Dixie Clay zuckte zusammen, als sie eine Hand auf der Schulter spürte. Amitys warme Finger holten sie in die Gegenwart zurück. Amity beugte sich zu ihr und sprach sie im Flüsterton an, während das Gespräch am anderen Ende des Tischs weiterging.
»Weiß Jesse, dass du hier bist?«, fragte sie leise.
»Er wird es sich denken. Was soll ich in Sugar Hill brennen, wenn es keinen Zucker gibt? Ich kann ja nicht mal die Fallen leeren.«
»Wurden sie weggespült?«
»Zusammen mit den Tieren. Die Biberdämme sind weg, die Nerze ertrunken. Selbst die Kaninchengänge stehen unter Wasser. Also dachte ich mir, ich könnte mich genauso gut nützlich machen.«
Sie schwiegen für ein paar Minuten.
»Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte Amity im Flüsterton.
»Worüber? Über die Flutwelle?«
Amitys Finger hielten inne. »Nein, über die vermissten Prohibitionsagenten.«
Die beiden, die zu ihnen nach Hause gekommen waren? Wie hatten die anderen davon erfahren? »Amity, ich weiß nicht, was du meinst.«
»Ganz bestimmt weißt du das, Dixie Clay. Zwei Prohibitionsagenten waren in der Stadt, in verdeckter Mission, und dann sind sie verschwunden. Vor etwa zwei Wochen. Die Ermittlungen laufen schon.« Amity musterte sie.
Dixie Clay hatte Mühe, eine gleichgültige Miene zu ziehen.
»Sie haben sich nie wieder bei ihrem Vorgesetzten gemeldet«, fuhr Amity fort. »Und Hobnob ist der letzte Ort, an dem sie gesehen wurden.«
Zum Glück wurde Amity in dem Moment abgelenkt, und Dixie Clay bückte sich zu Boden, sammelte ein paar heruntergefallene Zweige auf und versuchte durchzuatmen.
Am Tag nachdem Jesse mit den Agenten verschwunden war, hatte sie auf ihrem Bootssteg am Gawiwatchee auf ihn gewartet. Gegen Mittag war er herangetuckert und hatte Dixie Clay das Seil zugeworfen. Sie fing es auf, schlug einen Palstegknoten hinein und legte es um den Pfosten. Während Jesse auf den Steg kletterte, beobachtete sie, ob er betrunken war – ja – und ob das Boot einen neuen Namen trug. Im vergangenen Jahr hatte es Teresa und dann Cheri geheißen, und seit vier Monaten war es die Jeannette. Niemand musste ihr sagen, dass das die Namen der Frauen waren, mit denen er sich herumtrieb.
Er torkelte an ihr vorbei über den unebenen Steg. »Jesse«, begann sie mit dünner Stimme. Sie versuchte es noch einmal, ein bisschen lauter diesmal. Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um.
»Was?«, zischte er.
»Gestern Abend, als du mit diesen beiden Männern weggegangen bist, mit den Prohibitionsagenten …«
»Was, Dixie Clay? Was?« Er drehte sich um, sein blaues und sein grünes Auge funkelten vor Wut.
Sie sagte nichts, er wandte sich ab und ging wortlos auf das Haus zu. Dies war ihre Chance. Wenn sie jetzt nicht fragte …
»Jesse!«
Er wirbelte herum. »Heiliger Bimbam, willst du mich jetzt tatsächlich noch vor dem Frühstück verhören?«
»Aber, Jesse …«
Er machte zwei schnelle Schritte auf sie zu und hob den Arm, und Dixie Clay wich an die Kante des Stegs zurück. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, aber im selben Moment stolperte Jesse über die Fischwaage, verlor das Gleichgewicht und fiel auf ein Knie. Er sprang sofort wieder auf und versuchte hektisch, seinen zweifarbigen Kalbslederstiefel an einem Holzpfosten abzutreten. Auf einmal richtete sein Zorn sich auf den Steg, den er verfluchte, und auf die Arbeiter, die hier zwischen den Whiskeylieferungen ihre Fische ausgenommen hatten. Zuletzt streifte er den Stiefel ab und sagte:
»Ich esse heute in der Stadt zu Abend. Mach hier sauber, bevor ich nach Hause komme.«
Damit stakste er den Weg zum Haus hinauf, einen Fuß im Strumpf und den anderen im Stiefel – mit Absatz, damit er größer wirkte. Mit einem gezischelten »Ich hab dieses Kaff so satt« verschwand er hinter den Bäumen.
Jesse war nach dem Abendessen nicht zurückgekommen, und seither konnte Dixie Clay an nichts anderes mehr denken als an die Agenten. Was, wenn die Summe, mit der Jesse sie bestochen hatte, nicht groß genug war? Was, wenn sie zurückkamen, schlimmstenfalls sogar an einem Tag, wenn Dixie Clay allein war und in der Destille stand? Sie würde keinen Schritt mehr ohne ihre Winchester tun.
Aber die Agenten kamen nicht zurück. Zuletzt waren sie vor zwei Wochen in Hobnob gesehen worden. Von ihr, und dann von Jesse.
»Autsch!« Amity ließ den Zweig fallen, an dem sie sich gestochen hatte, und schob sich einen drallen Zeigefinger in den Mund. Sie musterte Dixie Clay, zog den Finger wieder heraus und schien mit ihm zu sprechen: »Jesse wird sich nicht gerade darüber freuen, dass du hier bist. Er erwartet für heute eine Zuckerlieferung. Er war gestern im Laden und hat telefoniert. Der Zucker kommt per Schleppkahn aus New Orleans.«
»New Orleans«, wiederholte Dixie Clay und schüttelte den Kopf. Selbst jetzt ließ Jesse es nicht ruhiger angehen.
»Die Frau am Telefon hat gefragt: ›Wozu brauchen Sie fünfhundert Pfund Zucker? Für Zuckerwatte?‹«
Beide Frauen kicherten leise. »Die Schleppkähne sind zu schnell unterwegs«, fuhr Amity fort, »und die Wellen schlagen gegen die Sandsäcke.« Sie wählte eine Weidenrute aus und begann, sie einzufädeln. »Randy Yates und die anderen haben sich furchtbar drüber aufgeregt. Sie haben dem Hafenmeister von New Orleans telegrafiert und gesagt, dass wir die Sache, falls die Binnenschiffer ihre Geschwindigkeit nicht drosseln, selbst in die Hand nehmen. Sie haben gesagt, der nächste Kahn, der mit mehr als fünfunddreißig Sachen pro Stunde hier durchkommt, sollte besser zwei Kapitäne haben, weil der erste erschossen wird.«
»Gütiger Gott. Das haben sie telegrafiert?«
»Ja, aber anonym.« Amity nahm einen neuen Weidenzweig, prüfte ihn und warf ihn dann zu Boden, weil er einen Knick hatte. »Und jetzt haben sich Randy Yates und Jim Dees und ein paar andere ein paar Meilen weiter unten auf dem Damm in Stellung gebracht.«
»Amity, sollte der Zucker nicht zuerst zu dir in den Laden geliefert werden?«
Amity lächelte schief und schob die verwobenen Zweige mit den Fingern dichter zusammen. »Whiskey ist wichtiger als Kuchen.« Mit diesen Worten rückte sie ihren Stuhl gerade und wandte sich wieder der größeren Gesprächsrunde zu.
Als die Matte fertig war, hoben zwei Frauen das eine Ende an und Dixie Clay das andere. Sie war erst zweiundzwanzig und nur eins fünfundfünfzig groß, aber das Säckeschleppen in der Brennerei hatte sie stark gemacht. Die drei Frauen zogen und zerrten die Matte an die Wand und packten sie auf einen Haufen weiterer, und dann standen sie einen Moment lang da und strichen sich die Röcke glatt.
Dixie Clay war die Erste, die das Gewehrfeuer hörte. Sie hielt eine Hand hoch. Die Frauen hörten sofort zu plaudern auf und lauschten auf die Schüsse. Amity erhob sich schnaubend von ihrem Platz und eilte an das Tor auf der Flussseite. Die anderen folgten ihr, und alle strömten auf die Laderampe hinaus.
Doch als sie draußen standen, war die Schießerei schon wieder vorbei. Ein Schleppkahn kam in hohem Tempo in ihr Sichtfeld und schob sich unter wütendem Tuten um die Flussschleife.
»Dabei ist er gar nicht zu schnell«, sagte Amity. »Höchstens dreißig.«
Sie schauten zu, wie der Kahn langsamer wurde, die Biegung hinter sich ließ und über den breiten Fluss tuckerte, zwei Rauchfahnen im Schlepptau. Das Horn ertönte abermals, und der Kapitän war im Profil zu erkennen – rot vor Wut, aber sehr lebendig. Der Schlepper tutete zur Warnung für die kleineren Boote ein drittes Mal, bevor er den Anleger von Hobnob passierte.
»Keine Ahnung, warum sie geschossen haben, sie haben ja nicht mal richtig gezielt. Ich schätze, Randy und Jim sind einfach nur streitsüchtig. Oder vielleicht wollten sie klarstellen, wer hier den Längsten hat. Wer weiß.« Amity zuckte mit den Schultern.
Der Anleger unter ihren Füßen erzitterte. Er endete am Deich, einem riesigen zehn Meter hohen Erdwall mit weiteren Metern Sandsäcken obendrauf. In normalen Zeiten war das Flussufer einen guten Kilometer von dieser Stelle entfernt. Wenn man die Deichkrone erklomm und hinüberschaute, sah man die Böschung und dann den etwa fünf Meter tiefen Graben, aus dem die rote Erde ausgehoben und zum Dammbau verwendet worden war. Jenseits davon öffnete sich der Blick auf die breiten, mit Weiden bepflanzten Polder, und dahinter flossen ein paar kleinere Nebenarme parallel zum Hauptfluss, wanden und schlängelten sich und bildeten zeitweise kleine Inseln. Dann erst kam der Mississippi selbst, fast eineinhalb Kilometer breit, und auf der anderen Seite erhob sich Arkansas. So war es normalerweise.
Aber der Fluss hatte schon im Januar begonnen, den Uferbereich zu verschlingen, und seither war er, jedes Mal wenn man hinsah, ein bisschen näher gekommen. Die ganze Stadt schaute zu, wie der Fluss seine Nebenarme absorbierte, immer weiter anschwoll, den Graben füllte und dann Meter um Meter am Deich hinaufkroch. Jetzt schwappte er gegen die Krone, wo die Sandsackschlepper ein Rennen gegen die Zeit liefen.
Die Männer auf dem Damm hatten sich einer nach dem anderen aufgerichtet, und nun standen sie mit in den Rücken gestemmten Fäusten da, blinzelten und sahen dem Schleppkahn nach. Am Himmel hing eine hauchfeine Wolkendecke wie ein Spinnennetz, das Dixie Clay am liebsten mit einem Besen heruntergeholt hätte. Der Schleppkahn – er hatte die Biegung umrundet und war jetzt außer Sichtweite – ließ ein letztes Mal das Horn ertönen, und dann hörten sie wieder nur den Regen, dessen Rauschen für sie in den letzten Monaten gleichbedeutend mit Stille geworden war. Dixie Clay dachte darüber nach, dass sie alle den Klang des Nichtregens vergessen hatten oder den Geruch von Nichtgestank. Was nicht ganz stimmte, denn sie nahmen den Gestank praktisch nicht mehr wahr – keiner von ihnen, weder den modrigen Schlamm noch die fauligen Flusskrebshaufen oder die aufgedunsenen Kuhkadaver, die von Greenville antrieben und in ihrer Bucht strandeten, und auch nicht den allgegenwärtigen Geruch ihres eigenen verrottenden Fleischs. In den nassen Stiefeln verfärbte sich die Haut zwischen ihren Zehen schaumig weiß und schälte sich in Schichten ab.
Es gab eine Frage, die sich jeder stellte: Wann wird es endlich aufhören? Und jeder gab dieselbe Antwort: Es kann nicht ewig so weitergehen. Aber die Antwort kam stockend und klang eher wie eine Frage.
Und als hätte der Himmel ihre Gedanken gelesen, als hätte er innegehalten und ihre verkniffenen, aufwärtsgekehrten Gesichter gesehen, donnerte er lachend und verdoppelte seine Anstrengungen, bis der Regen den Männern in die Wangen stach wie kleine Bratspieße. Ohne ein Wort des Protests nahmen sie die Fäuste aus dem Rücken und bückten sich wieder nach den nassen Sandsäcken.
Amity machte kehrt, die anderen folgten ihr hinein und nahmen die Arbeit wieder auf. Alle außer Dixie Clay. Sie ging zur Tür, nahm Hut und Regenmantel vom Nagel und verschwand, weil sie wusste, dass Jesses Männer bald den Zucker in Empfang nehmen und ihm verraten würden, wo sie war.
Sie stellte sich draußen auf die Veranda und wartete, zuckte aber trotzdem zusammen, als jemand ihren Namen rief. Jesse ritt auf die Mühle zu. Der Hut und ein Schleier aus Tropfen verbargen sein Gesicht, nur ein blasses Oval und der dunkle Balken seines Schnurrbarts waren zu erkennen. Unter ihm das rotbraune Maultier Chester, zusätzlich beladen mit den wasserfest in Plane verpackten Zuckersäcken. Dixie Clay war froh, dass die Frauen drinnen waren und von ihrer ebenso fest verpackten Schande nichts mitbekamen.
Jesse ritt an die Veranda, rutschte von Chester hinunter und hielt ihr die Zügel entgegen.
»Jesse«, sagte sie und kam näher. Der Regen war laut, Jesse hob nicht einmal den Kopf. Dixie Clay stand auf der zweiten Stufe von unten und drehte sich um, niemand war ihr gefolgt. »Jesse«, rief sie, und dann langte sie über den Sattel und berührte den Handschuh ihres Mannes. »Zwei Prohibitionsagenten sind verschwunden. Die beiden, die bei uns waren. Wo hast du sie hingebracht?«
»Steig auf«, rief er.
»Du bist mit ihnen weggegangen – wohin?«
»Dixie Clay, nun komm endlich …«
»Nicht, bevor du mir sagst, was passiert ist.«
»Ich habe sie bestochen, okay? Ich habe ihnen so viel gezahlt, dass sie sich nach Biloxi abgesetzt haben. Vor zwei Wochen. Wahrscheinlich haben sie das Geld längst im Casino verpulvert.«
Sie sah ihn an. Er verzog die Lippen, unter dem Schnurrbart blitzten trotz des Regens die weißen Zähne auf, und da merkte sie, dass er lächelte. Anscheinend wollte er sie umgarnen.
Er drückte ihr die Zügel in die Hand. »Jetzt mach schon«, rief er und schlug Chester auf die nasse Flanke. Dixie Clay beeilte sich, das Bein über den Sattel zu schwingen, denn Jesse wandte sich bereits ab.
Sie zog sich den Kragen enger um den Hals, während Chester über die Broad Street trottete und seine Hufe ihren Rock mit Schlamm zuspachtelten. Sie musste über ihren nächsten Schritt nachdenken. Vielleicht sollte sie zur Polizei gehen, aber sie müsste sehr vorsichtig sein. Der Captain stand auf Jesses Gehaltsliste. Möglicherweise könnte sie Jesse woanders anzeigen, doch in dem Fall müsste sie sich ganz sicher sein. Niemand würde sonderlich genau ermitteln. Jesse wäre bloß ein weiterer Schwarzbrenner, den sie zu gern ins Gefängnis stecken würden, und seine Frau gleich hinterher, die zusätzlich den Skandal und den Hohn der anderen würde ertragen müssen.
Als Chester an einer Hauslücke vorbeistapfte, drehte Dixie Clay den Kopf, um zu sehen, wie weit die Männer auf dem Damm gekommen waren. Wird er halten, wird er halten, wird er halten? Das war die eine Frage, die sich alle hier tausendmal am Tag stellten. Im schräg fallenden Regen konnte Dixie Clay die Gesichter der Arbeiter nicht erkennen, nur ihre sich hebenden und sich senkenden Arme, und irgendwie musste sie an das kopflose Wimmeln von Ameisen denken, die einen Hügel bauen. Die meisten Arme waren dunkel – aus den umliegenden Baumwollregionen waren die Farmpächter hergebracht worden. Sie übernachteten auf einem Lastkahn, der am Damm festgemacht war. Andere Arme trugen schwarze und weiße Streifen. Das waren die Häftlinge aus dem Parchman Prison.
Dixie Clay ritt hinter den Laden der Tidwells und rief nach Amitys Mann Jamie. Sie lud einen Sack Zucker ab und lehnte ihn an die Hauswand. Sie hatte keine Lust, unangenehme Fragen oder verlegenen Dank zu hören, und war um die Ecke, bevor die Tür geöffnet wurde.
Chester lief nach Hause, ohne dass sie ihn ein einziges Mal anstupsen musste. Bevor Jesse das Model T gekauft hatte, war er mehrmals pro Woche auf dem rotbraunen Maultier von Sugar Hill nach Hobnob geritten. Dixie Clay zog ihre vom Regen eisigen Finger in die Ärmel und krümmte sich im Sattel so eng zusammen wie möglich. Sie ritt am Marktplatz mit dem Gerichtsgebäude und dem Gefängnis vorbei, an der Farmers’ Bank, der Lund-Apotheke und Collins Möbelgeschäft, dem Bestattungsinstitut Hobbs & Son und Amos Harveys Einrichtungsladen, wo die Phonographen im Fenster standen und die Ohren zur Straße hin spitzten, als horchten sie auf eine Pause im monotonen Gesang des Regens. Sie trotteten am breiten, stuckverzierten Hotel McLain vorbei. Nur vor der Pension Vatterott lenkte Dixie Clay das Maultier um, weil sie diesen Ort mied.
Sie hatten dort übernachtet, als Jacob gestorben war. Nachdem sie Jesse bei Madame LeLoup aufgestöbert hatte, waren sie in seinem Model T nach Hobnob zurückgefahren, und Jesse hatte ein Zimmer in der Pension gemietet. Er hatte Dixie Clay, die Jacob immer noch im Arm hielt, aufs Bett gesetzt und ihr gesagt, er werde einen Sarg bestellen. Dann nahm er ihr Jacob weg. Hob ihn einfach aus ihren Armen. Als er Stunden später zurückkam, saß sie immer noch auf der weißen Tagesdecke und betrachtete ihre leeren Hände. Das Zimmer ging auf eine Gasse hinaus und befand sich direkt über dem Speakeasy. Als sie im Bett lag, hörte Dixie Clay die schrillen Töne der Blechbläser. Sie gab vor zu schlafen, damit Jesse sich hinunterschleichen konnte.
Am Morgen tranken sie einen Kaffee im Speiseraum, und als sie in ihr Zimmer zurückkamen, hatte Mrs. Vatterott ihnen ein schwarzes Kleid und eine dunkle Krawatte und ein passendes Jackett von Mr. Vatterott bereitgelegt. Wie Kinder, die Verkleiden spielen, gingen sie zur Kirche, wo ein winziger Ahornsarg auf dem Altar stand. Ein Prediger, der Solist des Chors und Bestatter Hobbs waren die einzigen Anwesenden. Ein paar Worte wurden gesprochen, »Näher, mein Gott, zu dir« wurde gesungen, und dann nahm Jesse den Sarg (er hatte die Größe einer Werkzeugkiste) und trug ihn zum Friedhof. Dixie Clay ging hinterher und stolperte ständig über den Kleidersaum.
Am Grab hörte sie ebenso wenig zu. Sie musste daran denken, wie Jacob an seinen Fingerchen gesaugt hatte. Dieses leise Schlürfgeräusch. Wie er ihr beim Stillen mit beiden Händen in die dunklen Locken gegriffen hatte. Der Prediger war ein Fremder und hatte Jacob nie gesehen. Sie konnte nicht verstehen, warum ein ungetauftes Baby an diesem Ort begraben werden durfte, aber wahrscheinlich hatte der Prediger einfach großen Durst.
Nach der Beerdigung waren sie und Jesse zurück zur Pension gelaufen. Chester stand draußen neben dem Model T an einem Pfosten festgebunden. Vor dem Hotel drehte Jesse seinen Hut in den Händen, als wäre eine Grabrede auf das Etikett gestickt. Sie schauten zu, wie das Maultier seine Nase in das Unkraut schob, das aus den Ritzen der Veranda wucherte. Dixie Clay war sich bewusst, dass sie von den Passanten auf der Straße ebenso angestarrt wurden wie von den Pensionsgästen hinter dem Fenster.
Schließlich sagte sie: »Ich sollte wohl die Fallen leeren, bevor mir die Kojoten zuvorkommen.«
Weil Jesse nicht antwortete, fuhr sie nach einer Weile fort: »Ich reite dann wohl besser nach Hause und kümmere mich darum und um die Destille.«
Sie drehte sich um und machte sich daran, das Maultier loszubinden. Sie sah sich nach ihrer Tasche um, bis ihr wieder einfiel, dass sie mit nichts als einer steifen Babyleiche in die Stadt gekommen war.
Jesse stand hinter ihr und sagte: »Ich komme in ein oder zwei Tagen nach. Sobald alle Geschäfte hier erledigt sind.«
Sie nickte, schob die Schuhspitze in den Steigbügel und schwang sich hoch.
Jesse sprach weiter. »Dixie Clay, warte mal, nimm den Wagen. Ich weiß, dass du fahren kannst. Das wolltest du doch immer schon. Diesmal nehme ich das Maultier.«
Doch Dixie Clay zog Chesters Kopf in Richtung Straße und trat ihm sanft in die Flanken.
»Dixie Clay!«, rief Jesse ihr nach. »Dix! Wir werden andere Kinder bekommen!«
Sie trat das Maultier ein bisschen fester und war weg.
Jacob war im April gestorben, und nun war wieder April – aber ein Fremder wäre niemals auf die Idee gekommen, dass sie über dieselbe Straße ritt. Der Weg war unter Schlamm begraben, tief zerfurcht und stellenweise komplett unterspült. Entlang der eigentlichen Straße führte eine Art Phantomweg durch den Wald, wo eine vom Blitz getroffene Riesenulme umgestürzt und ein Einspänner im Schlamm stecken geblieben war – anscheinend hatte der wütende Besitzer ihn nach ein paar erbosten Tritten dort zurückgelassen. Selbst wenn sie heute nicht stecken blieb und dem Maultier nicht aus dem Schlamm helfen musste, würde sie für die elf Kilometer auf der Seven Hills Road über zwei Stunden brauchen. Wenn sie ankam, würde es schon dunkel sein. Vor zwei Jahren hatte der Ritt eine Stunde gedauert – nicht dass sie es eilig gehabt hätte, in ihr Haus zurückzukehren, so leer und trotzdem voller Spuren des Lebens, das einst darin gewohnt hatte.
Mit zum Schutz vor dem Regen gekrümmten Schultern ritt sie weiter. Wenn sie damals an einem anderen Ort gelebt hätten, wäre ihr der schmerzhafteste Teil der Heimkehr erspart geblieben. Wenn sie eine Schwester gehabt hätte oder eine Freundin wie Patsy McMorrow in Pine Grove oder eine Nachbarin wie Bernadette Capes. Richtige Nachbarn, nicht bloß diese mit Gewehren bewaffneten, aus zusammengekniffenen Augen starrenden Männer (in diesem Moment ritt sie am Haus von Skipper Hays vorbei, ein anderer Schwarzbrenner, der allerdings so viel von der eigenen Ware trank, dass ihm kaum noch etwas zum Verkaufen übrig blieb), Männer, die so schreckhaft und stumm waren wie die Tiere in Dixie Clays Fallen. Eine Schwester, Freundin oder Nachbarin wäre damals herübergekommen und hätte die Wimpelgirlande abgehängt, und sie hätte auch die selbst genähte Babykleidung – jedes Stück mit einem aufgestickten J in leuchtendem Blau – weggeräumt. Stattdessen hatte Dixie Clay nach dem langen Ritt in der Tür gestanden und ins Haus gestarrt: Am Boden lag noch die weiche Decke, mit der sie Jacobs Erbrochenes aufgewischt hatte, davor, als er noch genug von ihrer Milch getrunken hatte, um sich erbrechen zu können, bevor er ihre tropfende Brust verweigerte. Er fing an zu keuchen, und da sah sie den weißen Zungenbelag mit den roten Beulen. Alles entwickelte sich genau so, wie sie es gehört hatte, und dann hatte er eine knallrote Himbeerzunge.
Sie musste die Decke fallen gelassen haben, als sie mit ihm hinausgestürmt war. Jetzt lag sie am Boden, zusammengeknüllt und von Fliegen übersät. Sie trat dagegen, und die Fliegen stoben auf und ließen sich gleich wieder darauf nieder. Die Luft stank ranzig – sie hatte Milch auf dem Tresen stehen gelassen. Sie hatte gewusst, dass sie, sobald die Brennerei wieder lief, das Haus in Ordnung bringen musste. Sie würde auf die Knie gehen und den Boden schrubben. Sie war zwanzig Jahre alt und wusste, dass sie vom Leben nichts mehr zu erwarten hatte als Arbeit und noch mehr Arbeit, immer weiter, bis zu ihrem Tod. Und bislang hatte sie damit recht behalten.
Nun lenkte Dixie Clay das Maultier von der Seven Hills Road und um einen Baumstamm herum, der in ihrer Abwesenheit auf die Straße gefallen war, eine Ulme mit einem Eichhörnchennest. Es war zerplatzt wie eine Papiertüte. Vielleicht, sagte sie sich, hatten die Eichhörnchen die Gefahr gespürt und waren rechtzeitig abgesprungen. Es kam einfach darauf an zu wissen, wann es abwärtsging.
Hinter dem Baum kam der letzte Hügel in Sicht und dahinter die Abzweigung zu ihrem Haus, auf Jesses Betreiben hin leicht zu verfehlen. Natürlich wusste Chester, wo er abbiegen musste. Kiefern säumten den Weg, Dixie Clay musste sich ducken, um den tief hängenden Ästen auszuweichen, und als sie einmal nicht aufpasste, schlug ihr ein zotteliger Unterarm auf den Rücken und übergoss sie mit einem Liter Eiswasser. Aber da war schon das Haus, eine schwarze Silhouette vor dem dunkelblauen Himmel.
An diesem Tag vor zwei Jahren hatte sie Jesse gehasst, weil er gesagt hatte, sie würden andere Kinder bekommen. Als ob Jacob ersetzbar wäre. Gleichzeitig hatte ein Teil von ihr genau das erhofft. Doch Jesse sollte unrecht behalten: Sie hatten keine Kinder mehr bekommen.
Er blieb immer öfter in der Stadt und kam nur nach Hause, um den Whiskey für die neuen Bestellungen abzuholen, die er in seiner gefälligen Handschrift in einem kleinen Buch notierte. Er bewahrte es stets in der Brusttasche auf. Mittlerweile wusste Dixie Clay, dass sie sich niemals von Jacobs Tod erholen würde. Und – das hatte Jesse nie verstanden – sie wollte es auch gar nicht mehr. Sie wusste auch, dass ihre Mutter großes Glück gehabt hatte, als sie im Kindbett gestorben war: Sie war auf ewig mit dem Baby vereint, das mit ihr gestorben war.
Dixie Clay führte Chester am Haus vorbei zur Scheune, entlud den Zucker, zog die Wolldecke von seinem Rücken und begann, sein Fell zu striegeln. Er wieherte leise, und sie kraulte ihm die langen schwarzen Ohren. Sie fragte sich, wann sie und Jesse zum letzten Mal beisammengelegen hatten. Würde sie das überhaupt noch wollen? Sie schaufelte etwas Getreide in den Trog, schaute zu, wie Chester die Nase darin versenkte, und versuchte, sich vorzustellen, wie Jesse sie küsste. Das Kitzeln seines Schnurrbarts an ihren Lippen. Doch wenn sie an Küsse dachte, fiel ihr immer nur Jacob ein. Wie sie ihn gestillt hatte, sein mahlender Kiefer, die verzückt geschlossenen Augen. Seine langen Wimpern wie zwei dunkle Reißverschlüsse.
Mein Mann ist ein Mörder, dachte sie. Sie ließ sich den Gedanken auf der Zunge zergehen, und er schmeckte wahr.
Sie fragte sich, wann sie ihn das nächste Mal sehen würde. Jesse hatte ein Zimmer bei Madame LeLoup, das wusste sie. Er bezahlte mit Whiskeykisten. Mit ihrem Whiskey. Sie erinnerte sich wieder an die lackierte Tür, an die Hure im kurzen blauen Kleid, die ihr aufgemacht und dann Jesse geholt hatte. Als Jesse wieder nach oben gegangen war, um seine Sachen zu holen, hatte die Frau die Tür noch einmal geöffnet. Sie hatte an Dixie Clay vorbei auf die Straße gestarrt und gesagt: »Ich habe drei verloren.«
Einen Moment lang verstand Dixie Clay nicht, wovon sie sprach, was man ihr wohl auch ansehen konnte.
»Drei Babys«, sagte die Frau. »Ich habe drei Babys verloren. Alle drei.«
Inzwischen wusste Dixie Clay, dass die Welt voller still trauernder Frauen war, und jede Einzelne von ihnen hatte die Tür zu einem Raum zugemacht, den sie nie wieder betreten würde. Sie gingen einkaufen und plauderten, rührten Schmalz ins Mehl und buken Pasteten, sie schlitzten Fische auf und nahmen sie aus und taten so, als wäre das Leben in Ordnung. Dabei war es das kein bisschen, dachte Dixie Clay. Sie bückte sich, ergriff die Ecke eines Zuckersacks und warf ihn sich über die Schulter. Kein bisschen. Und mit diesem Gedanken machte sie sich auf den Weg zum dunklen Haus, den sie mit geschlossenen Augen gefunden hätte.