3
KAPITEL
Falls die Leute es seltsam fanden, dass ein schlammverschmierter Mann mit einem schlammverschmierten, schlafenden Baby im Arm durch die belebte Geschäftsstraße von Greenville ritt, ließen sie sich nichts anmerken. Vermutlich hatten sie in den vergangenen Monaten schon viel Merkwürdigeres gesehen, und falls der Damm brach, hätten sie noch mehr davon zu erwarten. Im Sägewerk saßen die Männer vorm Radio und lauschten einem Bericht über den Rekordpegelstand des Tennessee River. Chattanooga war überschwemmt, sechzehn Menschen waren ertrunken. Ingersoll fragte einen Mann, der gerade einen Bootsbausatz mit einem Preisschild versah, wo die Polizeiwache zu finden sei. Der Mann nahm sich die Nägel aus dem Mund und zeigte in die entsprechende Richtung.
Vor der Wache machte Ingersoll sein Pferd fest, legte sich Junior an die Schulter und stieg mit einem mulmigen Gefühl die Stufen hoch. Während des stundenlangen Ritts von dem Gemischtwarenladen nach Greenville hatte er eingesehen, wie absurd und verdächtig seine Geschichte klang, doch wie sich herausstellte, hatten die Geschichte – und die Leichen – die Stadt längst erreicht. Eine hübsche dunkelhaarige Empfangsdame brachte ihn zu einem Officer, der seine Zeugenaussage aufnahm. Ingersoll war bloß ein Kerl, der Kautabak kaufen wollte und das große Glück gehabt hatte, den Laden kurz nach einer Schießerei zu betreten. Der Officer hörte nur mit einem Ohr zu, denn hinter ihm saß ein Mann, der lautstark eine dramatische Schilderung der Schießerei zum Besten gab. Ingersoll wurden praktisch keine Fragen gestellt, er sollte nur seinen Namen hinterlassen und einen Ort, an dem er aufzufinden wäre. Der Deich von Hobnob, antwortete er. Ich bin Ingenieur.
Der Officer zog das Blatt aus der Schreibmaschine. »Sie können gehen«, sagte er und stieß sich vom Schreibtisch ab.
»Wie kann ich rausfinden, woher die Eltern des Babys kamen? Hatten sie Verwandte?«, fragte Ingersoll, doch der Mann kehrte ihm bereits den blauen Uniformrücken zu.
»Versuchen Sie es mit einer Kristallkugel«, antwortete der Officer über die Schulter. »Wir haben hier mehr als genug zu tun.«
Die Show war immer noch nicht vorbei, also stellte Ingersoll sich in der letzten Reihe zwischen die Reporter, deren Bleistifte über die Notizblockseiten flogen. Offenbar war der schottische Junge nicht allein im Laden gewesen – er hatte einem Lieferanten hinter dem Haus geholfen, Kisten mit Ginger Ale zu entladen. Der Lieferant erzählte, wie der Junge den Lagerraum betrat und die Plünderer überraschte. Anscheinend hatten sie gedacht, sie wären allein. Der Angestellte schoss auf die Plünderer, die Plünderer schossen zurück, und der Lieferant eilte davon, um Hilfe zu holen.
Das Baby erwähnte er mit keinem Wort, woraus Ingersoll schloss, dass er abgehauen war, sobald er den ersten Schuss gehört hatte. Ingersoll nahm das Baby auf den anderen Arm und überlegte sich, wie traurig es war, dass Junior in einer Welt voller Feiglinge und Heuchler aufwachsen würde.
Im hinteren Teil der Wache öffnete sich eine Tür, und ein Bote steckte den Kopf herein. »Der Coroner sagt, er ist jetzt fertig mit den Streunerleichen!«
Der Lieferant schnippte mit den Fingern. »Heiliger Strohsack! Das sollten wir uns ansehen! Kommt schon, Jungs.«
Die Gruppe drängelte geschlossen hinaus, wie eine Kreatur mit vielen Tentakeln. Ingersoll hörte sie aufgeregt schwatzend die Treppe hinuntergehen. Er wettete, dass weder der Lieferant noch die Reporter gedient hatten. Denn in dem Fall hätten sie mehr als genug Tote gesehen. Mehr als genug für ein Leben. Für viele Leben.
Als er aufblickte, stand er allein in der Mitte des Raumes. Die dunkelhaarige Empfangsdame musterte ihn.
»Sie wirken ein bisschen verloren«, sagte sie.
»Kann sein.«
»Was suchen Sie?«
»Ich schätze, ich bin hier fertig« – er sah sich um, als rechnete er mit Widerspruch – »aber bevor ich gehe, muss ich einen Officer finden, dem ich dieses Baby geben kann.«
»Judson!«, rief sie und schwang sich auf dem Drehsessel herum, aber Judson war gerade dabei, die Arme in seinen Regenmantel zu schieben. »Mrs. Allen, ich bin drüben beim Coroner«, sagte er und eilte zur Tür hinaus.
»Hm«, sagte sie und drehte sich wieder um. »Tja, dann müssen Sie sich wohl ans Waisenhaus wenden. Es ist nicht weit. Ich könnte das Baby nach der Arbeit hinbringen, aber meine Schicht dauert bis fünf.«
Ingersoll richtete seine Augen auf die Uhr. Viertel nach drei. »Ich übernehme das«, sagte er.
Ein Mann kam heran und packte einen schweren Ordnerstapel auf den Schreibtisch der Empfangsdame. Erschreckt sah Ingersoll nach, ob der dumpfe Schlag das Baby geweckt hatte. Hatte er, aber der Kleine weinte nicht, sondern schaute sich blinzelnd um.
Die Empfangsdame stand von ihrem Platz auf. »Mädchen oder Junge?«
»Junge.«
»Darf ich ihn mal halten?«
Ingersoll zuckte mit den Schultern. »Klar.«
Sie ging um den Schreibtisch herum, und im selben Moment spürte er etwas an seinem Oberschenkel, eine seltsame Wärme, die sofort abkühlte. Er blickte nach unten und sah einen dunklen, nassen Fleck auf seiner etwas weniger nassen Nietenhose.
Die Empfangsdame lächelte ihn an. »Ich glaube, Sie sind soeben getauft worden.«
»Dabei hatte ich ihn gerade erst gewickelt«, sagte Ingersoll wie zur Verteidigung.
»Sicher haben Sie das, mein Lieber.« Sie hob ihm das Baby aus den Armen und hielt es von ihrem adretten grünen Kleid weg. »Aber so locker, dass nichts in der Windel bleibt. Nun, wir wollen mal sehen, was sich da machen lässt.«
Ingersoll kündigte an, er werde eine Windel aus seiner Satteltasche holen, und trabte los. Als er zurückkam, kniete die Empfangsdame vor der Wartebank. Das Baby lag nackt auf einer Decke. Sie nahm die Windel entgegen und gurrte pausenlos, während sie mit einer Hand die Fußgelenke des Kindes hielt, den Hintern anhob und mit der anderen das Tuch darunterschob. Ingersoll versuchte, sich die Bewegungen einzuprägen. Als Bewohner des St.-Mary’s-Waisenheims für Knaben hatte er gelegentlich ein Baby gewickelt, aber er hatte alle Einzelheiten vergessen.
Mrs. Allen steckte geschickt das Tuch fest. »Du armes Baby«, sagte sie zu Junior. »Hat der große dumme Mann dich nicht fest genug eingepackt.« Sie zwinkerte Ingersoll zu und legte das Baby zurück auf die Decke. »Tja«, sagte sie und blickte Junior ins Gesicht. Es war ziemlich schmutzig, was ihr wohl aufgefallen war, denn sie griff in ihr Dekolleté, zog ein kleines Spitzentaschentuch heraus, leckte eine Ecke an und rubbelte dem Kind die Wangen ab.
Ingersoll fiel ein, dass einige der Flecken wohl Schlamm waren, andere aber höchstwahrscheinlich Blut. Das arme Baby. Und jetzt würde es im Waisenhaus landen.
Er traf eine Entscheidung. Wenn sie jetzt lächelt, ist sie die Richtige.
Sie lächelte. »Das ist schon viel besser, nicht wahr?«, fragte sie das Baby.
Also sollte es sein.
»Ma’am … Mrs. Allen … Dieses Kind hat keine Familie mehr. Es braucht eine Mutter.«
Sie sah ihn freundlich lächelnd an, aber als ihr dämmerte, was er von ihr wollte, prustete sie los. »Ein Baby? Grundgütiger, da würde mein Jeffrey sich aber freuen. Wir haben schon drei.«
»Drei Kinder?«
»Drei Babys. Drillinge, sechs Monate alt. Faith, Hope und Charity. Und sie haben eine große Schwester, die ist drei. Außerdem hat Jeffrey noch zwei ältere Jungs aus erster Ehe. Seine Frau ist an der Spanischen Grippe gestorben. Wissen Sie, wenn ich ständig neue Kinder aufnehme, kann ich nie wieder ins Kino gehen.«
»Ja, Ma’am. Da haben Sie wohl recht. Absolut.« Er beugte sich vor und nahm Junior hoch. »Kennen Sie vielleicht eine Familie, die die Sache anders sehen würde? Irgendwelche netten Leute?«
»Also …« Sie wandte sich dem Baby zu und tätschelte den Windelhintern. »Er ist wirklich ein Goldstück. Meine Freundin Stacie Andrews hat sich das Babyfieber eingefangen und kann kaum an einem Kind vorbeigehen, ohne an seinem Kopf zu schnüffeln, aber leider ist sie zu ihrer Familie in Starkville zurückgekehrt. Wegen der Flut, wissen Sie. Also, hm … ich muss nachdenken. Das sind gerade seltsame Zeiten.« Sie schob sich das Taschentuch wieder in den Ausschnitt und richtete sich auf. »Oh«, rief sie. »Sie glauben doch nicht, dass mit dem Kleinen etwas nicht stimmt, oder? Weil er doch Streunerblut hat und so weiter? O Gott, vielleicht sollten Sie ihn doch besser ins Waisenhaus bringen.«
Sie sah Ingersoll ins Gesicht und konnte seine Gedanken lesen. »Ach, mein Lieber, ich bin sicher, dass bald jemand vorbeikommen und sich in den kleinen Kerl verlieben wird. Man kann nicht anders, oder?« Sie legte ihm eine Hand an den Arm, der das Baby hielt. »Richtig?«
»Richtig.«
»Besonders wenn sie sehen, wie gut und stramm seine Windel sitzt.«
Sie versuchte wohl, ihn aufzumuntern, aber es klappte nicht.
»Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen.«
»Gern geschehen. Kommen Sie jederzeit vorbei, wenn Sie plaudern möchten.«
Auf der Straße ließ er sich von einem Jungen, der Spielzeugboote verkaufte, den Weg erklären, und dann saßen er und das Baby wieder auf dem rotgrauen Pferd und ritten zum Waisenhaus.
Das Gebäude lag eine Querstraße vom Damm entfernt und war schon von Weitem durch die regennassen Bäume zu erkennen. Ingersoll stieg ab, drückte sich Junior an die Schulter und band das Pferd am schmiedeeisernen Gitterzaun fest. Das Tor quietschte beim Öffnen. Das Kind drehte den Kopf in Richtung des Geräuschs, und zu seiner Unterhaltung öffnete und schloss Ingersoll das Tor mehrmals. Oder vielleicht wollte er auch nur Zeit schinden.
Das dreistöckige Backsteingebäude, das sich am Ende eines befestigten Wegs erhob, musste mindestens ein paar Hundert Kinder beherbergen. Das Waisenhaus, in dem Ingersoll aufgewachsen war, war viel kleiner gewesen – genau genommen war es im Anbau des Klosters untergebracht, wo die Nonnen von St. Mary’s lebten. Als er sich der Vortreppe näherte, entdeckte er eine Messingtafel neben der Tür: »Greenville-Heim für verlassene Kinder«. Das Wort verlassene gefiel ihm gar nicht, aber es traf wohl zu.
Er klopfte an, und als nichts passierte, läutete er die Messingglocke. Immer noch keine Reaktion. Er beugte sich zu der rechteckigen Glasscheibe in der Tür hinunter, konnte aber durch die Spitzenvorhänge nichts erkennen. Wo waren die Waisen? Wo blieb der Lärm? Schließlich hörte er Schritte, ein Mann öffnete die Tür. Die Tuba unter seinem Arm war so groß wie ein Kind.
»Sie sind wegen des Kühlschranks hier?«
Auf dem Ritt zum Waisenhaus hatte Ingersoll sich eine würdevolle Ansprache an die Nonnen zurechtgelegt, aber jetzt fehlten ihm die Worte.
»Sind Sie … Ist das hier nicht …«
»Sie suchen das Waisenhaus?«
Ingersoll zog fragend die Schultern hoch, das Baby in seinem Arm wurde von der Geste emporgehoben.
»Ach ja, richtig. Ja genau«, sagte der Mann. »Also gut. Bitte warten Sie.« Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um Ingersoll über die Schulter zu blicken – »Verzeihung« –, schob sich zwei Finger in den Mund und pfiff, sodass Ingersoll und auch das Baby zusammenzuckten. Ein Schwarzer mit Schiebermütze tauchte auf, der einen Handwagen über den Pfad schob.
»Okay, wir nehmen das Kind«, fuhr der Mann fort, ohne Ingersoll anzusehen, und legte ihm dann eine Hand auf den Arm, um ihn beiseitezuziehen und dem Schwarzen Platz zu machen. »Kommen Sie rein, Sie müssen nach hinten.« Dann wandte er sich wieder an Ingersoll. »Wir mussten leider umziehen. Es ging nicht anders. Der Heizungskeller steht jetzt schon unter Wasser, und wenn der Damm bricht, würden es sechs lungenkranke Nonnen und ein mongoloider Hausjunge wohl kaum schaffen, vierhundertsiebenunddreißig Kinder zu evakuieren, was? Also sind wir mit Mann und Maus« – an dieser Stelle gestikulierte er mit der Tuba – »nach Leland umgezogen. In dem alten Krankenhaus dort ist genug Platz für alle. Eigentlich ist es da ganz nett, wir haben sogar ein Schwimmbecken. Ich fahre heute Nachmittag wieder rüber …«
Hinter ihm ertönte ein Knall, als wäre irgendwo ein Kleiderschrank umgekippt. Er rief über die Schulter: »Clint, Gehirn einschalten!«, und drehte sich dann wieder zu Ingersoll um. »Ich kann sie mitnehmen.«
»Sie ist ein Er.«
»Ich kann ihn mitnehmen. Lassen Sie mir einfach seine Papiere da, falls es welche gibt, und seine Kleidung. Legen Sie alles im Musikzimmer auf den Tisch.«
Ingersoll war schon wieder auf der Treppe. »Dann muss ich erst die Papiere holen, und, äh, seine Kleidung auch.«
Der Mann nickte. »Ja, natürlich. Möchten Sie ihn hierlassen und mir die Papiere später bringen?«
Ingersoll stand bereits auf dem Pfad. »Nein danke.«
»In Ordnung. Ich fahre um vier los. Wenn Sie mir das Baby bis dahin bringen, nehme ich es in meinem Chrysler mit.«
Ingersoll kehrte ihm den Rücken zu, ging los und hob zum Abschied den Arm. Als er über den Weg eilte, legte das Baby den Kopf an seine Schulter, gerade so, als ahnte es, dass es noch einmal davongekommen war.
Junior schien gern auf dem Pferd mitzureiten. Der Farmer hatte es Horace getauft. »Horse?«, hatte Ingersoll gefragt, und der Mann hatte den Namen wiederholt. Der Formfitter-Sattel von Hamley war im Preis inbegriffen gewesen. Nun saß Junior fest zwischen Ingersolls Bauch und dem Knauf eingeklemmt, krallte die Finger in die nasse Mähne und riss fröhlich daran herum. Sie ritten durch den Schlamm der Main Street. Ingersoll hatte keinen Plan und keine Idee, aber als er an der nächsten Ecke einen Drugstore sah, zog er die Zügel an. Er schwang sich vom Pferd, begoss das Baby dabei versehentlich mit einem Schwall Wasser aus seiner Hutkrempe und wartete, dass es zu weinen anfing. Einen Moment lang geschah gar nichts. Fast glaubte Ingersoll, es wäre überstanden, aber da öffnete Junior den Mund zu einem zitternden Quadrat, holte tief Luft und brüllte los. Gütiger Gott, dieses Baby war laut.
»Psssst«, sagte er, wiegte und tätschelte und bettelte, »psssst.« Er wischte mit einem nassen Ärmel über Juniors nasse Wangen, was das Kind nur noch wütender machte. Aus seiner Nase sprudelte der Rotz, und als Ingersoll versuchte, ihn zu entfernen, klammerte sich das Kind an seinen Finger. Ingersoll schüttelte die Hand. Das Baby weinte immer lauter und strampelte mit den Beinen. Wie konnte etwas so Kleines einen solchen Lärm erzeugen?
Er band das Pferd einhändig fest, hielt das schreiende Baby fest umklammert und schob die Tür mit der Hüfte auf. Sobald sie drinnen waren, hob es zu neuem Geheul an, und alle Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Zwischen den Regalen stand ein Dutzend Kunden herum, ein weiteres Dutzend saß am Sodatresen, der den hinteren Teil des Ladens einnahm. Ingersoll erstarrte vor dem Verkaufstresen mit den patentierten Medikamenten und den Süßigkeiten. Von seinem Mantel tropfte schlammiges Wasser auf den Boden, er fragte sich, ob dies der richtige Ort für sein Vorhaben war. Das Baby schrie noch lauter und hatte es irgendwie geschafft, sich den Rotz über das ganze Gesicht und sogar in die Augenbrauen zu schmieren. Es war jetzt so laut, dass Ingersoll nicht mehr klar denken konnte.
Wir brauchen dringend etwas zu essen, wir brauchen – er suchte fieberhaft nach dem richtigen Wort – Babynahrung, und zwar schnell. Panisch las er die Schilder, die von der Decke hingen, bis er eines mit der Aufschrift »Babybedarf« gefunden hatte. Er trat in den dazugehörigen Gang und ließ den Blick über das rätselhafte Angebot schweifen. Das Baby war rot angelaufen, es zitterte.
Er hörte eine Stimme hinter sich: »Wer quält hier ein armes Kind?«
Zum Teufel damit. Obwohl er wusste, dass Weglaufen auch keine Lösung war, watete Ingersoll durch seine eigene Schlammpfütze zurück zur Tür – und entdeckte im selben Moment einen Aufsteller mit Lutschern auf der Verkaufstheke. Er schnappte sich einen, riss die Folie mit den Zähnen ab und drückte ihn dem Baby in den Mund. Junior beruhigte sich sofort, schloss die Lippen um die rote Süßigkeit und riss die Augen auf.
»Schon besser«, sagte Ingersoll leise und wischte ihm mit einem Daumen die Tränen von den Wangen. Junior stieß einen schaudernden Atemzug aus, seine Lippen blubberten, und dann machte er sich mit ernstem Gesicht daran, das Letzte aus der Süßigkeit herauszulutschen. Ingersoll schaute zu, erleichtert darüber, dass das Geschrei endlich aufgehört hatte. Vielleicht könnte er einen zweiten Versuch wagen und ein paar von den rätselhaften Paketen kaufen.
Neben ihm tauchte ein hochgewachsener Mann in einer Schürze auf. »Das macht dann einen Penny«, sagte er.
»Für meine Gedanken?«
»Für den Lutscher«, sagte der Verkäufer, und Ingersoll hörte die Damen am Sodatresen kichern.
Er nahm das Baby auf den anderen Arm, knöpfte seine Gesäßtasche auf, fischte den klammen cremeweißen Umschlag heraus, entnahm einen Zwanziger und klatschte ihn auf die Theke.
»Besorgen Sie mir alles, was ein Baby braucht«, sagte er. Der Verkäufer begaffte Andrew Jackson auf der Banknote, als hätte er ihn noch nie gesehen. »Nein, warten Sie«, ergänzte Ingersoll, drehte den Aufsteller vor dem Gesicht des aufmerksam blickenden Babys, wählte einen passenden roten Lutscher für sich selbst aus und riss die Folie ab. »Holen Sie mir«, sagte er und schob sich den Lutscher in den Mund, »alles, was ein Baby braucht, und zwar in doppelter Ausführung. Sie finden uns da drüben.« Er deutete mit dem Lutscher auf den einzigen freien Hocker am Sodatresen. »Wir werden uns ein wenig ausruhen und ein Horsd’œuvre genießen.« Ingersoll schlenderte hinüber und nahm Platz, legte sich einen Knöchel aufs Knie und bettete das Baby in das Dreieck seiner Beine. Gelegentlich drehte er sich zu Juniors Unterhaltung auf dem Hocker im Kreis, bis der rote Sirup dem Baby übers Kinn lief und ihm das Hemdchen an die Brust klebte.
Der Verkäufer stand an der Theke und rechnete die Einkäufe zusammen. Ingersoll zog einen weiteren feuchten Zwanziger aus dem Umschlag. »Garçon«, sagte er, »bringen Sie uns noch ein paar neue Klamotten für Junior.«
Wegen des langen Zwischenhalts im Drugstore würden sie es nicht schaffen, Hobnob vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, deswegen beschloss Ingersoll, einen Lagerplatz zu suchen. Kurz bevor es Nacht wurde, entdeckte er – hoch zu Pferd, Junior in seinem Arm im neuen roten Einteiler – ein dunkles Farmhaus mit verbarrikadierten Fenstern. Hinter dem Haus stand eine kleine, noch dunklere Scheune. Ingersoll ritt hinüber, rief vorsichtshalber in die Finsternis hinein und schob dann das Tor auf. Drinnen war es trocken, die Luft roch angenehm nach altem Heu und ganz schwach nach Pferdemist. Es gab einen Massey-Ferguson-Traktor mit aufgeplatztem Ledersitz und eine rostige Heupresse. Wenn Ingersoll daran gedacht hätte, im Eisenwarenladen eine Laterne zu kaufen, hätte er jetzt die Finsternis über den Deckenbalken ausleuchten können. Aber vielleicht war es besser so, denn er vermutete, dass dort oben Fledermäuse schliefen, kopfüber in ihre Flügel eingewickelt.
Er führte das Pferd hinein. Es trottete direkt zu einer der Stallboxen und fing an, Heu aus einem staubigen Ballen zu zupfen. Im nachlassenden Licht erkundete Ingersoll alle Winkel der Scheune und entdeckte dabei einen Haufen dünner, verdrehter Zweige, möglicherweise Muscadinreben. Er beschloss, ein Feuer zu machen, wozu er jedoch beide Hände brauchen würde.
»Ich muss dich wohl in eine Krippe legen, was?«, sagte er zu Junior, aber stattdessen setzte er seinen Hut ins trockene Heu und stopfte ihn mit einer Decke aus. Juniors kleiner Hintern passte genau hinein, seine Arme lagen auf der Krempe wie auf einem Badewannenrand. Junior lag schon zum zweiten Mal in diesem besonderen Bettchen, denn ein paar Kilometer zuvor war Horace mit einem Bein im Schlamm stecken geblieben. Ingersoll war abgesprungen, hatte Junior in den umgekehrten Hut gesetzt, sich gebückt, das Pferdebein gepackt und mit aller Kraft gezogen, bis der Schlamm es mit einem gierigen Seufzer freigegeben hatte.
»Lass mich das Feuer anzünden und dir eine Flasche machen«, sagte er.
Das Baby antwortete so etwas wie »Ebuibo«, und dann strampelte es mit den Beinen und brachte den Hut zum Schaukeln, aber nicht genug, um ihn umzukippen.
Auf dem Ritt zur Polizeiwache von Greenville hatte Ingersoll die Kappe von der orangefarbenen Nehi-Soda geschraubt und getrunken, und das Baby in seinen Armen hatte sich furchtbar aufgeregt. Da fiel ihm ein, dass Junior wahrscheinlich auch durstig war. Die Dosenmilch konnte er ihm nicht geben, weil er vergessen hatte, einen Dosenöffner zu kaufen. Er beschloss, das bei nächster Gelegenheit nachzuholen. Weil das Baby immer lauter weinte, hielt Ingersoll ihm die Glasflasche an die Lippen. Junior kaute darauf herum, ohne zu trinken, gerade so, als wüsste er nicht, wie. Ingersoll neigte die Flasche, und die Limonade floss in Juniors Mund und seitlich wieder heraus. Der Kleine riss die Augen auf. Ingersoll zog die Flasche weg, Junior schmatzte mit nassen Lippen. Ingersoll fütterte ihm kleine Schlückchen, während sie ritten, und zwischendurch trank er selbst.
Er stapelte ein paar trockene Reben in der Mitte der Scheune, schnippte ein Streichholz mit dem Daumennagel an und entzündete erst seine Zigarre und dann das Holz. Bald darauf nuckelte das Baby zufrieden an seiner Flasche, und das Feuer knackte und duftete nach Obst. Ingersoll streckte die Beine in Richtung der Flammen, seine Stiefel begannen zu dampfen. Er wärmte eine Dose Bohnen auf, pürierte ein paar mit dem Messer, hockte sich neben den Hut, nahm etwas Bohnenmus mit dem Finger auf und hielt es Junior an die Lippen. Der Kleine schien nicht interessiert, strampelte mit den Beinen und grunzte, als fühlte er sich unwohl. Ingersoll beugte sich vor, um ihn umzubetten, und da rülpste Junior ihm direkt ins Gesicht. Der Rülpser roch nach Nehi-Soda, kein bisschen sauer. Anscheinend war nun Platz für mehr. Ingersoll gelang es, dem Kind etwas Bohnenmus in den Mund zu streichen, und Junior schluckte es gierig.
Nach dem Abendessen rauchte Ingersoll den Rest seiner Zigarre. Er fragte sich, wo Ham jetzt war und ob er schon ein paar Verdächtige ausfindig gemacht hatte. Sicher hatte Ham ihn für heute Abend erwartet, er würde sich über die Verzögerung ärgern, besonders weil Hoover ihnen nur eine Woche Zeit gegeben hatte. Junior lag in seine Gefängnisdecke eingewickelt und gähnte, die kleinen Flammen spiegelten sich in seinen glasigen Augen. Ingersoll wünschte, er hätte seine Gitarre dabei, um ihm vor dem Einschlafen ein paar Songs von Bessie Smith vorzuspielen. Er stimmte »I Ain’t Got Nobody« an. Junior drehte den Kopf, starrte ihm verwundert auf den Mund und wandte sich dann wieder dem Feuer zu. Als das Holz knackte, zeigte er mit einem gekrümmten Finger auf die fliegenden Funken. Seine Lider wurden schwer, und Ingersoll beschloss, ihn zu wickeln. Er breitete die Decke aus, und diesmal stellte er sich mit der Sicherheitsnadel ziemlich gut an. Während es gewickelt wurde, weinte das Baby nicht, sondern hob die Arme und nuckelte an seinen Fäusten.
Ingersoll lehnte sich in der Hocke zurück und betrachtete sein Werk: die stramme Nachtwindel, das müde, rosige Kind im Schein des Feuers … Und da musste er sich eingestehen, dass ein kleiner Teil von ihm das Baby am liebsten behalten würde.
Aber das war verrückt. Oder? Ham erwartete ihn, und wahrscheinlich auch ein Schwarzbrenner, der in seiner Verzweiflung zwei Agenten umgebracht hatte.
Gleich morgen früh würde er Junior ein neues Zuhause suchen, ein passendes mit guten Eltern. Das sollte nicht allzu schwierig sein. Die Empfangsdame hatte ihre Zweifel gehabt, aber Ingersoll wusste, dass mit diesem Baby alles in Ordnung war. Er hatte jeden Zentimeter davon gesehen – Junior war ein hübscher kleiner Kerl, an dem es nichts auszusetzen gab.
Was auf Ingersoll im St.-Mary’s-Waisenheim für Knaben nicht zugetroffen hatte. Wahrscheinlich war er deshalb nie adoptiert worden. Als er das zum ersten Mal begriffen hatte, war er sechs Jahre alt gewesen. Es handelte sich um eine seiner frühesten Erinnerungen. Er hatte neben Schwester Mary Eunice am Fenster im zweiten Stock gestanden, die Stirn an die kalte Glasscheibe gelegt und zugeschaut, wie zwei andere Waisenkinder, zwei Brüder, von ihren neuen Eltern abgeholt wurden. Schwester Mary Eunice strich ihm übers Haar, und zusammen schauten sie zu, wie die Frau in die Kutsche kletterte und die Arme ausstreckte, und der Mann legte das kleine Bündel mit dem Baby hinein. Ihre Arme zogen das Bündel an sich, es verschwand in der dunklen Kutsche. Dann drehte der Mann sich um, hob den großen Bruder hoch – er war drei Jahre alt, seine dünnen Beine ragten unten aus den kurzen Hosen – und setzte ihn in die Kutsche, und zuletzt kletterte der Mann selbst hinein.
Schwester Mary Eunice seufzte: »Zwei weitere Kinder Gottes werden heute Abend in ihrem neuen Zuhause einschlafen.«
Die Schwestern achteten stets darauf, Geschwisterkinder nicht zu trennen, das wusste Ingersoll, denn er hatte sie darüber reden hören. Die meisten Leute wünschten sich nur ein Kind, am liebsten ein kleines Baby. Die Schwestern hatten gewusst, dass es viele Interessenten für das Baby geben würde, der Dreijährige hingegen wäre schwieriger zu vermitteln. Also hatten sie die Brüder im Paket angeboten in der Hoffnung, dass irgendjemand das Baby genug wollte, um auch den großen Bruder aufzunehmen. Es hatte funktioniert.
Ingersolls Atem ließ die Scheibe beschlagen, sodass er nicht sehen konnte, wie die Kutsche davonfuhr. »Schwester?« Er lehnte sich an ihr Bein. »Wie war ich als Baby?« Er hatte nie ein Foto gesehen.
»Oh, du warst reizend. Ein ganz reizender kleiner Junge. Und das bist du immer noch.«
»Wie habe ich ausgesehen?«
»Du warst mein hübscher kleiner Teddy. Mein süßer Teddy mit dem Grübchen. Möchtest du ein Butterbrot?«
Als sie in der Küche waren und sie auf dem Metzgerblock das Brot schnitt, bohrte er weiter. Er konnte nicht anders. »Aber wie sah ich aus?« Es musste einen Grund gegeben haben, warum seine Eltern ihn nicht wollten.
Die Schwester sprach mit ihrer rücksichtsvollen Stimme weiter, jenem geflüsterten Hauchen, mit dem sie dem Monsignore die Bücher präsentierte. Anscheinend war sie zu einem Entschluss gekommen, denn sie setzte sich neben ihn auf einen Hocker.
»Du warst ein ganz besonderer Junge. Du sahst auch besonders aus. Teddy, meine Lieber, du hattest ein Feuermal.«
»Ein was?«
»Ein Feuermal. Das ist wucherndes Gewebe, eigentlich nur erweiterte Blutgefäße unter der Haut. Du hattest eins auf der Wange, direkt unter dem Auge.«
Bei diesen Worten stiegen Ingersolls Finger wie von allein in die Höhe und tasteten seine Wange ab, und da wusste er, dass sie die Wahrheit sagte. Seine Finger hatten viel Zeit an der Stelle verbracht, denn obwohl die Haut dort jetzt glatt war, erinnerte er sich wieder gut an die knubbelige Erhebung, die immerzu berührt werden wollte, besonders beim Einschlafen. Auf einmal kam es ihm vor, als hätte er sie nie vergessen. Er hatte am rechten Daumen gelutscht, während er mit dem Zeigefinger über die Knubbel strich.
»Haben meine Eltern mich deshalb hier abgegeben?«
»Nein, nein. Nun ja … Ich weiß es nicht genau, Teddy.« Sie butterte eine zweite Scheibe Brot für sich selbst und erzählte ihm, dass sich das Mal – das elegantere Wort dafür war Hämangiom – auf seiner Wange ausgebreitet und irgendwann sein Auge erreicht hatte. Die Schwestern waren in Sorge, es könnte sein Sehvermögen beeinträchtigen, aber der Arzt meinte, es sei harmlos, ein Schönheitsfehler, gegen den man nichts tun könne. Als er etwa zehn Monate alt war, hörte es auf zu wachsen und behielt seine Größe und Farbe für die nächsten Jahre.
»War es rot wie eine Erdbeere?«
»Eher so lila wie Traubengelee«, sagte sie.
Er ließ die Brotscheibe sinken. Er fragte sich, was er Schlimmes getan hatte, um ein so schlimmes Mal zu verdienen. »Warum habe ich es nicht mehr?«
»Wir haben für dich gebetet. Wir haben den Herrn gebeten, es von dir zu nehmen, und er hat uns erhört. Als du etwa vier Jahre alt warst, begann es zu verblassen, und an deinem fünften Geburtstag war es spurlos verschwunden.«
»Aber warum hat er es mir überhaupt gegeben?«
»Ach, Teddy. Ich war immer der Meinung, er hätte dich dort geküsst. Sein Kuss hat einen Abdruck auf deiner Wange hinterlassen zum Zeichen dafür, dass ich dich für eine Weile behalten darf.«
Und sie hatte ihn tatsächlich behalten. Er lebte im Waisenhaus, bis er sechzehn Jahre alt und eins dreiundachtzig groß war und sich freiwillig meldete, gegen die Deutschen in den Krieg zu ziehen.
Vom Feuer in der Scheune waren nur glühende Kohlen übrig. Ingersoll beobachtete das schlafende Baby. Anscheinend atmete Junior so frei und leicht, wie er selbst es nicht konnte und vielleicht nie gekonnt hatte. Mein Gott, dachte er, in diesem Monat habe ich schon sechs Leichen gesehen, darunter die in dem Laden. Deine Mutter und deinen Vater.
Das war kein Leben für ein Baby. Die wechselnden Aufträge, die provisorischen Unterkünfte. Anscheinend war alles an ihm vorübergehend. Er konnte ja nicht einmal auf seine Gitarre aufpassen.
Das Baby hatte stabile Verhältnisse verdient. Er würde gleich morgen eine Familie für Junior finden.
Ingersoll schob etwas Heu unter seiner Jacke zusammen, bis er ein Kissen hatte, rollte sich auf die Seite, zog sich das Baby im Hut an die Brust und schmiegte seinen Körper darum, damit es sicher war und gewärmt wurde.