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KAPITEL

Den ganzen ersten Tag mit dem Baby war sie nervös. Ihr war nicht einmal bewusst, dass sie fürchtete, jemand könnte kommen und es holen – seine tote Mutter, die aus dem Grab auferstanden war, oder der Cowboy, der es gebracht hatte –, bis sie sich daranmachte, ihm die langen Fingernägel zu schneiden. Sie waren weich, aber so scharf, dass er sich damit die Wangen zerkratzt hatte. Sie setzte die gebogene Schere an die Spitze seiner kurzen Fingerchen und musste sich überwinden. Sie hielt den Atem an. Sie kürzte einen, zwei, drei und dann vier Nägel, aber dann zuckte der kleine Finger, und sie schnitt hinein. Ein winziges Lächeln aus Blut erschien, und sofort blickte sie zur Tür. Doch niemand erschien, um ihn zu holen und sie allein zurückzulassen. Das Kind heulte auf, sie nahm es hoch, saugte an seinem kleinen Daumen und beruhigte es. Sie legte es sich an die Schulter, tätschelte ihm den Rücken und bewegte sich mit weichen, federnden Schritten durchs Zimmer. Bei Jacob hatte das immer funktioniert.

Der federnde Gang stellte sich sofort wieder ein. Das Baby verstummte. Später steckte sie sich, um auch die restlichen Nägel zu kürzen, seine Finger nacheinander in den Mund und knabberte sie ab.

Und so lernte sie ihn durch ihren Mund kennen. Durch ihre Nase, Ohren und Finger. Er machte sich in die Windel, und die Kacke verteilte sich auf seinem ganzen Rücken, deswegen badete sie ihn, reinigte alle Falten und Ritzen mit dem Waschlappen und hob sein Kinn an, um die Schmutzkrumen zu entfernen. Er mochte es nicht, gebadet zu werden, anscheinend war ihm das vollkommen neu. Weil er sie so verzweifelt ansah, sang sie ihm, als sie mit dem Waschlappen über seine Arme fuhr, etwas von Armen vor, und sie sang von Zehen, als sie den Lappen zwischen seine Zehen schob.

Nach dem Bad schlief er ein, und sie vermisste ihn sofort, obwohl er doch genau neben ihr lag. Sie beugte sich über das Nest aus Decken, das sie ihm auf dem Bett hergerichtet hatte, und als er zwischendurch verdächtig still war, hielt sie ihm einen Finger unter die Nase, um sicherzugehen, dass er noch atmete. Sie wollte ihn von allen Seiten betrachten. Kam ihr das Gefühl bekannt vor? O ja und ob – sie war verliebt. Plötzlich störte sie nicht einmal mehr der Regen, der sie beide einhüllte wie ein eng anliegender Umhang.

Sie nannte ihn Willy, nach ihrem Vater. Jacobs voller Name war Julius Jacob Holliver gewesen, weil Jesses Vater so hieß. Sie wünschte sich, ihr Vater könnte Willy kennenlernen, doch Jesse hatte ihr nie gestattet, ihre Familie zu besuchen. Sie versuchte, nicht an Jesse zu denken. Sie hatte Angst, er könnte etwas dagegen haben, dass sie ein Baby aufgenommen hatte. Doch sie konnte es ja schlecht zurückgeben. Sie hätte nicht einmal gewusst, wie man so etwas macht. Es war zu spät.

Jede Stunde brachte neue Entdeckungen. Die erste: Am glücklichsten war Willy in Bewegung. Wenn er nach einem Nickerchen schrie und nicht mehr aufhören wollte, wusste sie, dass er Hunger hatte. Der Cowboy mit dem eigenartigen Akzent (woher kam ein Mensch, der so redete? Jedenfalls nicht aus Alabama oder Mississippi, so viel war klar) hatte ihr etwas Erbsenpüree und Hafermehl dagelassen. Sie bot es Willy an, doch er zeigte kein Interesse. Vielleicht hatte er Durst? Der Cowboy hatte auch gesagt, das Baby liebe Nehi-Soda, aber das klang zu verrückt, außerdem hatte sie keine Limonade im Haus.

Sie bereitete Willy eine Flasche mit Kondensmilch und etwas Zuckerrübensirup zu, aber die wollte er auch nicht. Er weinte in ihrem Arm, er weinte, als sie ihn wickelte, und er weinte, als sie ihn ablegte. Sie nahm ihn hoch, und er hielt inne, rülpste und weinte weiter. Als sich der Wind draußen vor dem Haus von einem Wimmern zu einem Heulen steigerte, stimmte Willy mit ein und riss dabei den Mund unvorstellbar weit auf (Dixie Clay musste an die Schlange denken, die sie und Lucius einmal im Maisspeicher entdeckt hatten: Sie hatte ihren Kiefer ausgehakt, um eine Ratte zu verschlingen). Das Baby steigerte sich immer weiter in seinen Zorn hinein, kniff die Augen zusammen und ballte das Gesicht zu einer roten Faust. Es fuchtelte mit den Armen, seine Zunge vibrierte wie der Klöppel einer Glocke. Dixie Clay beschloss, etwas Kuhmilch vom Nachbarn zu holen, dem alten Marvin. Er war ein so loyaler Kunde, dass ihm die Zähne im Mund verrotteten. Sie konnte sich darauf verlassen, dass Marvin nicht tratschen würde – ihr Bauchgefühl riet ihr, das Geheimnis um Willy für eine Weile zu bewahren. Auf jeden Fall wollte sie Jesse die Neuigkeit von dem Baby persönlich überbringen.

Zunächst musste sie jedoch die Destille überprüfen. Deswegen packte sie Willy gut ein, presste ihn sich gegen die Brust und rannte los. Sie versuchte, ihn nicht zu zerdrücken. Obwohl der Weg holprig und voller Baumwurzeln war, hörte Willy auf zu weinen.

Die Maische in der Destille brodelte schon. Sie würde beide Hände brauchen, um den schweren Deckel anzuheben und den Brei mit dem Holzpaddel umzurühren. Sie legte das Baby auf das Dampffass und überlegte, was sie tun sollte. Sie wollte Willy nicht auf den Boden legen, weil sie in der Destille vor ein paar Wochen eine Schwarznatter gesehen hatte. Wenn eine Schlange sich ins Haus verirrte, hatte sie wohl keine andere Wahl, als sie zu töten, aber hier draußen im Wald waren die Schlangen zu Hause, deswegen ließ Dixie Clay sie in Ruhe. Voller Sorge erinnerte sie sich an die Natter, deren schwarzer Leib sich zur Schwanzspitze hin grau und schließlich cremeweiß verfärbte. Sie dachte an die Gruselmärchen aus ihrer Kindheit, an die Natter, die kleine Kinder jagte, indem sie sich angeblich den Schwanz in den Mund schob und rollte wie ein Reifen. Sie schlang sich um die Füße der Kinder, brachte sie zu Fall und prügelte sie mit der Schwanzspitze blutig. Dixie Clay hatte damals schon gewusst, dass das Unsinn war, und sie wusste es immer noch, trotzdem zögerte sie. Im selben Moment fiel ihr auf, dass Willy von dem rumpelnden, vibrierenden Fass in den Schlaf gewiegt worden war.

Und so wurde William Clay Lucius Holliver zu einem Schwarzbrenner, der an diesem Tag, dem neunzehnten April, genau sechs Monate alt war (das hatte Dixie Clay so beschlossen, nachdem ihr klar geworden war, dass er keinen Geburtstag haben würde, solange sie keinen festlegte).

Dixie Clay kaufte dem alten Marvin etwas Milch ab, und nach reiflicher Überlegung ritt sie noch einmal zurück und kaufte die ganze Kuh. Sie hieß Millie. Dixie Clay stellte Millie in den Stall neben Chester, der an der Trennwand schnüffelte und mit den Hufen scharrte. Als sie vor vier Jahren in die nächtliche Schnapsbrennerei eingestiegen war, hatte sie sich von allen Nutztieren getrennt, zuerst von der Kuh, dann von den Schafen und Hühnern. Sie hatte keine Zeit mehr, sie zu versorgen, und brauchte sie auch nicht mehr. Doch Chester – sie hatte es Jesse nie erzählt, er hätte sie ausgelacht, obwohl es stimmte – war melancholisch geworden. Nun kraulte sie ihm den Widerrist und lehnte die Stirn an seine Flanke. »Jetzt haben wir beide wieder Gesellschaft, Chet«, flüsterte sie.

Millie war ihre erste eigene, durchs Schnapsbrennen finanzierte Anschaffung (wozu brauchte sie neue Kleider, wenn sie so nachtaktiv war wie ein Waschbär?). Es fühlte sich gut an, so unerwartet gut, dass sie am nächsten Tag ihren Sohn (ihren Sohn!) in ihre Schürze steckte, den Regenmantel über ihm zuknöpfte und in die Stadt ritt, um in Amitys Laden ein paar Babysachen zu kaufen. Amity bediente gerade einen anderen Kunden, und Dixie Clay hielt Willy unter dem Mantel versteckt, doch Amity wurde so neugierig, dass sie Dixie Clay nach draußen folgte. Nachdem Jamie die Pakete auf das Maultier geladen hatte und wieder hineingegangen war, drehte Dixie Clay sich zu Amity um, öffnete ihren Mantel, zog den Schürzenlatz herunter und enthüllte Willys Gesicht. Er schlief mit leicht geöffnetem Mund, sein Sabber verdunkelte Dixie Clays grüne Bluse.

»Ein Engel«, flüsterte Amity. Sie selbst hatte nie Kinder bekommen. »Was hat Jesse gesagt?«

»Er hat ihn noch nicht gesehen.«

»O Gott.«

Aber dann rief Jamie seine Frau zurück in den Laden, und Dixie Clay war froh, ihre gerunzelte Stirn nicht mehr sehen zu müssen.

Sie ritten nach Hause. Willy schien zufrieden damit, in ihren Armen auf Chester zu sitzen, und später war er zufrieden, als er vorn in ihrer Schürze steckte, während sie die Einkäufe auspackte, und am zufriedensten war er spät am Abend, als er wieder auf dem Dampffass lag. Ihr William. Willy. Willy, ihr Junge.

Nur Jesse war nicht zufrieden. Am nächsten Tag kam er mit blutunterlaufenen Augen und einer Beule im Model T nach Hause. Als er an ihr vorbeirauschte, entdeckte sie sogar einen Riss in seinem Kalbsledermantel. Er bemerkte das Baby zunächst gar nicht. Es lag in einem Pfirsichkorb, der wiederum auf dem Energex-Staubsauger balancierte, den sie über den Teppich schob. Als Jesse nach einem Nickerchen und einem Bad zum Abendessen in die Küche kam, trug er ein neues marineblaues Nadelstreifenhemd, roch nach Gewürzen und Orangen und stutzte – weil er ein pfirsichfarbenes Baby im Pfirsichkorb liegen sah.

Es folgten Fragen und noch mehr Fragen. Nein, Dixie Clay kannte den Mann nicht, der ihr das Baby gebracht hatte, genauso wenig wusste sie, wo er herkam. Und nein, Dixie Clay hatte keine Ahnung, was er in Hobnob suchte, wie er sie gefunden hatte oder wohin er geritten war. Sie wusste ja nicht einmal seinen Namen. Und, nein, sie war nicht besonders klug.

Sie hatten gerade die Schweinekoteletts aufgegessen.

»Wie sah er aus?«, fragte Jesse.

»Keine Ahnung. Groß. Ungepflegt.« Dixie Clay zog die Augenbrauen hoch und erinnerte sich. »Um die dreißig, höchstens. Rotes Hemd, schlammverschmierte Hose.«

Sie verstummte, als Jesse entnervt den Kopf in den Nacken legte. Kannte er den Mann? Sie wusste nicht, was die Geste bedeutete.

»Was hat er getan, nachdem er das Baby gebracht hat? Hat er sich umgesehen?«

»Nein.«

»Hat er irgendwelche Fragen gestellt? War er neugierig? Hat er versucht, Whiskey zu kaufen?«

»Nein. Er war bloß auf der Suche nach jemandem, der das Baby aufnimmt.«

Jesse legte das Messer hin, schob den Teller von sich und sagte: »Zeig es mal her.«

Dixie Clay hob den Korb mit dem schlafenden Baby an und hielt ihn leicht schräg. Durch die regennasse Fensterscheibe fiel mildes Abendlicht ein, Willys Haut und sein Pfirsichflaumhaar schimmerten. Er war wunderschön. Sie wollte, dass Jesse es sagte. Sie war begierig, es aus seinem Mund zu hören. Sag, dass er schön ist, Jesse.

Jesse musterte das Baby und seufzte: »Also gut.« Er faltete langsam seine Serviette zusammen, schob sie durch den Ring und legte sie neben den Teller. »So hast du wenigstens etwas Gesellschaft«, sagte er und sah sie an.

Dixie Clay merkte da erst, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Sie atmete aus. Jesse hatte sie überrascht, und er legte noch eins obendrauf, indem er grinsend mit dem blauen Auge zwinkerte: »Aber lass dich davon nicht von der Arbeit abhalten.«

Dixie Clay nickte, drehte sich um und verschwand mit dem Korb in der Küche. Sie musste den Impuls unterdrücken, über die Schwelle zu hüpfen wie eine Vaudeville-Tänzerin. Als sie Jesse ein Stück von der Biskuitrolle abschnitt, musste sie über die absurde Vorstellung lächeln.

Und Willy hielt sie nicht von der Arbeit ab. Sein Tag-und-Nacht-Rhythmus verschob sich, so wie es der von Dixie Clay auch getan hatte. Am frühen Abend, wenn es an der Zeit war, zur Destille zu gehen, wurde er nervös, so wie Dixie Clay auch. Sie beruhigte sich und ihn, indem sie mit federnden Schritten auf der Veranda auf und ab lief.

An dem Abend, als Jesse ihr erlaubt hatte, Willy zu behalten, hopste sie über die Holzplanken und sang ihm ein paar Zeilen des Liedes vor, das der Cowboy gespielt hatte: »Trouble, trouble, trouble, I’ve had it all my days.« Den Rest summte sie. Vielleicht sollte sie einen Teil ihres selbst verdienten Geldes in einen Phonographen und ein paar Schallplatten von Bessie Smith investieren? Sie tänzelte über die Veranda, summte, federte in den Knien und summte noch ein bisschen mehr, während der Himmel sich verdunkelte und die Absätze ihrer Stiefel einen scheuernden Takt auf die Planken schlugen.

Als Willy an ihrer Schulter eingeschlafen war, wollte sie hineingehen, doch als sie die Fliegentür öffnete, ließ eine hektische Bewegung sie zusammenzucken. Ein Kolibri hatte sich mit der nadeldünnen Schnabelspitze im Insektengitter verfangen. Er war winzig klein und furchtbar aufgebracht. Dixie Clay wartete darauf, dass er sich selbst befreite. Die panisch schlagenden Flügel klangen wie der Außenbordmotor von Jesses Boot. Nach einer Weile legte sie Willy eine Hand an den Rücken, um ihn zu stützen, stellte einen Fuß in die Tür, schob die freie Hand unter den Kolibri, stoppte das flirrende Flügelschlagen und löste ihn mit einer Drehbewegung vom Drahtgitter.

Sie öffnete die Hand, doch der Kolibri flog nicht davon. Stattdessen blieb er einfach sitzen, wie betäubt und mit puckerndem Herzen. Sie hob sich die Hand vor das Gesicht. Die drei oder vier scharlachroten Flecken an der Kehle des Vogels verrieten ihr, dass er ein junges Männchen war. Seine rubinrote Halskrause würde erst noch wachsen, Feder um Feder – wie Willys Augenfarbe, die sich, wie sie früher an dem Tag gesehen hatte, ganz allmählich von Blaugrau nach Braun verdunkelte. Nicht einheitlich, sondern ein schokobrauner Punkt nach dem anderen.

Ich werde dir Kolibris zeigen, Willy. Ich zeige dir alle Wunder der Natur.

Und da erhob sich der Vogel und flog pfeilschnell nach Westen davon.

Dixie Clay nahm Willy mit in die Küche, legte ihn ab und spülte die Biskuitform ab. Während sie schrubbte, erinnerte sie sich daran, dass sie als Mädchen wie ein junger Kolibri gewesen war: scheinbar geschlechtslos, ein wildes kleines Ding, das den Wald hinter dem Haus lieber mochte als das Haus selbst.

Seit ihrem siebten Lebensjahr hatte ihr Vater sie jeden Winter auf seine mehrwöchigen Jagdtouren mitgenommen, während ihr jüngerer Bruder Lucius zu Hause bei der Mutter blieb. Diese Wochen waren besser als Weihnachten. Morgens schlug sie die Zeltklappe auf und blickte in die dämmernde, mit Raureif überzogene Welt hinaus, und ihr Vater hielt schon ein Streichholz an die harzigen, knisternden Kiefernzweige, die sie am Vorabend gesammelt hatten. Sie schleppte den Aluminiumkessel zum Petty Creek, füllte ihn und stellte ihn auf das Feuer, damit ihr Vater Kaffee kochen konnte. Er reinigte die Gewehre und pfiff dabei ein Lied, die Spottdrosseln antworteten. Bald duftete es nach den Speckstreifen, deren Fettränder in der Pfanne flatterten. Blue schob seine Vorderpfoten ins Gras und streckte sich genüsslich und der ganzen Länge nach. Und vor ihr die Aussicht auf den Treffer, gerade so, als bräuchte sie nur mit den Augen zu zielen.

Einige Jahre früher hatten Angestellte der Regierung die ersten Telefonleitungen zwischen Pine Grove und Birmingham gespannt, und obwohl ihr Vater ihr die Technik erklärt hatte – die Stimme wurde in Schallwellen übersetzt und wanderte durch die Leitung –, wusste sie, dass in Wahrheit Magie dahintersteckte, genau wie bei der Jagd, wenn sie spürte, dass ihre Kugel das Ziel treffen würde.

Auf dem letzten Jagdausflug in ihrem zwölften Winter – kurz vor der Frühjahrssaat, als das Louisianamoos so üppig wucherte, dass die Baumstämme aussahen wie mit Spitzenborten bedeckt – hatte sie den Puma erlegt. Sie kehrten über einen Umweg nach Hause zurück, angeblich weil ihr Vater Hufeisennägel kaufen musste. In Wahrheit wollte er mit seiner Tochter prahlen. Doch sein Stolz kam sie teuer zu stehen, denn einige Frauen fragten nach, wie alt sie denn sei und warum sie nicht zur Schule gehe. Bald darauf stattete ihnen der dicke rotgesichtige Prediger einen seiner seltenen Besuch ab. Dixie Clay wurde in die Küche geschickt, um das Abendessen zu kochen, doch sie hörte genug. Das Ganze wirke doch recht seltsam, vor allem jetzt, da Dixie Clay bald dreizehn war und zu einer jungen Frau heranwuchs. Und ihr kleiner Bruder ging doch schließlich auch zur Schule, oder etwa nicht? Er war schon acht, nicht wahr?

»Fast neun«, antwortete ihr Vater.

»Nun, da haben Sie es«, sagte der Prediger und klatschte in die Hände, oder wenigstens glaubte Dixie Clay, das zu hören.

Sie schob die Schwenktür auf, betrat das Wohnzimmer und sah den Prediger am Kaminsims stehen. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und betrachtete das Foto ihrer Mutter, die im Kindbett gestorben war, zusammen mit dem Baby in ihrem Bauch. Das Baby wäre ihre kleine Schwester gewesen, dann hätten sich die Männer der Familie in der Unterzahl wiedergefunden. Der Prediger drehte sich um und verzog die Lippen wie ein Fisch am Angelhaken – anscheinend lächelte er. »Was duftet denn hier so köstlich?«

Dixie Clay hatte zwei Kaninchen geschossen und einen Eintopf mit Süßkartoffeln und Zwiebeln gekocht, aber nun wünschte sie sich, sie hätte es gelassen. Sie sah ihren Vater an, der ihr aber nicht zu Hilfe kam. »Prediger Nettles, bleiben Sie doch zum Essen, es gibt Eintopf und Biscuits.«

Die Männer folgten ihr in die Küche. Während sie ihnen den Rücken zukehrte, hielt sie sich ein Nasenloch mit dem Finger zu und rotzte auf den Teller des Predigers. Ja, sie war eine gute Schützin.

Und so kam es, dass sie ganz allein war, als der Pelzhändler vorfuhr. Ihr Vater hatte Lucius zu Weihnachten ein Gewehr geschenkt, eine Winchester Model 1895 Takedown mit .30-40-Krag-Patronen, die Dixie Clay so oft im Katalog bewundert hatte, dass sich die Seiten wie von selbst an dieser Stelle teilten. Bislang hatte Lucius damit immer nur auf der Veranda gesessen und Löcher in ihre Unterwäsche auf der Leine geschossen. Aber nun waren die beiden in den Wald gegangen und hatten Dixie Clay allein zurückgelassen, damit sie sich unter Bernadette Capes’ Aufsicht um die Weißgummibäume kümmerte. Sie besaßen fast fünfhundert davon, und weil der erste Februar war, hatte Dixie Clay das Stroh von den Stämmen gefegt, um sie vor Feuer zu schützen, und anschließend ein V in jeden einzelnen Stamm geritzt, den eisernen Tropfschnabel angebracht und einen Eimer daruntergehängt, um das Harz aufzufangen.

Sie arbeitete fleißig, weil sie bis Sonnenuntergang die Hälfte der Bäume schaffen wollte, als sie eine Kutsche in hohem Tempo anrollen hörte – so schnell, dass die Ketten des Gespanns klingelten wie Glöckchen. Sie ging zum Haus und sah das Fuhrwerk des Pelzhändlers, gezogen von denselben Maultieren wie im letzten Jahr, nur dass auf dem Kutschbock nicht der alte Mann saß, den sie erwartet hatte. Im Gegenlicht konnte sie das Gesicht des Fahrers nicht erkennen, nicht einmal, wenn sie ihre Augen mit der Hand abschirmte.

»Hi«, sagte der Fremde und musterte sie von oben bis unten. »Mein Name ist Jesse Swan Holliver, ich habe Cody Morrisons Geschäft übernommen und bin hier, um mir eure Felle anzusehen.« Er zurrte die Zügel fest und schwang sich vom Kutschbock. Er trug eine elegante Biberfellmütze und ein rotes Halstuch. Sein Haar war schwarz und lockig, was sie aber erst sah, als er zum Gruß den Hut zog.

Dixie Clay schwieg, und sein Blick wanderte von ihrem Gesicht zum Haus hinüber. »Sind deine Eltern da?«

»Nein«, sagte sie. »Aber ich kann Ihnen die Felle gern holen. Wir haben eine ganze Menge.«

»Nun, das höre ich gern, immerhin hatte ich einige Mühen hierherzukommen. Die Straßen nach Kirby sind unterspült, an manchen Stellen bin ich sogar mit den Achsen aufgesessen.«

Sie wandte sich zum Haus um, und er folgte ihr. »Auf der Reynders Road bin ich glatt stecken geblieben! Ich musste ein paar Kiefernäste vor die Räder werfen, um wieder freizukommen, und keine zwanzig Meter weiter lag ein großer Baum quer über dem Weg. Ich habe eine ganze Stunde gebraucht, ihn beiseitezuräumen.«

Sie stiegen auf die Veranda, und Dixie Clay bot ihm den Schaukelstuhl an, weil ihr Vater es mit dem alten Pelzhändler auch immer so gemacht hatte. Sie ging hinein und holte dem Gast ein Glas Buttermilch, und dann ging sie noch einmal los und schleppte ein Bündel aus Fellen heran. Während sie die Schnur kappte, zählte sie das Angebot auf.

»Drei Waschbären, drei Otter, drei Nerze, zwei Stinktiere, und dieses hier ist fast komplett schwarz …« Es handelte sich um einen besonders schönen Pelz, und sie blickte flüchtig in das Gesicht des Händlers, um zu sehen, ob er beeindruckt war. War er. »… ein weißes Opossum, eine Zibetkatze …«

»Eine Zibetkatze?«

»Sie hat sich immer wieder Eier geborgt, und eines Tages hatte ich es satt, ihr welche zu geben.«

Er lachte.

Dixie Clay fuhr fort: »Eine Zibetkatze, drei Rehe und, o ja, ein großer Puma.«

Sie lehnte sich in der Hocke zurück und beobachtete, wie er die Felle sortierte und umwendete. »Wer hat die Tiere geschossen?«, fragte Jesse.

»Ich.«

»Wer hat ihnen die Haut abgezogen?«

»Ich.«

»Und aufgespannt hast du sie auch?«

»Ich habe sie geschossen, abgezogen, aufgespannt, abgeschabt und verpackt, und ich verkaufe sie. Zehn Dollar für alle.«

Der Mann lachte, es klang jungenhaft. Dixie Clay musste an das Root Beer mit Vanilleeis denken, das es bei Wiggins am Tresen gab, an das Kribbeln in ihrer Nase. Vielleicht war er jünger, als sie gedacht hatte, siebzehn oder achtzehn.

»Ich sehe mich außerstande, mehr als fünf dafür zu bezahlen.« Er untersuchte das weiche, formschöne Pumafell.

»Das Stinktier allein ist einen Dollar wert.«

»Das alte schwarze Ding?« Er hob es mit spitzen Fingern in die Höhe. »Da ist ja fast gar kein Weiß drin.«

»Und genau deshalb sind die Damen in New York City so verrückt danach.« Sie spürte seinen Blick in ihrem Gesicht und strich über die Felle. »Jawohl, mein Papa hat entschieden, dieses Jahr nicht auf Morrison zu warten. Er meinte, dass es sich bei den Händlerpreisen kaum noch lohne, Fallen aufzustellen.« Sie machte sich daran, die Felle geschäftsmäßig zu stapeln. »Er sagt, dass wir sie dieses Jahr direkt an die Fogarty Brothers in New York City schicken.« Sie drückte die Felle zusammen und rollte sie wieder zu einem Bündel ein.

Jesse sah sie herausfordernd an. »Dein Papa würde sich nicht so viel Mühe machen.«

»Würde er wohl. Die Felle waren schon in Sackleinen verpackt und haben nur darauf gewartet, zur Post gebracht zu werden. Ich habe sie nur Ihretwegen noch mal aufgeschnürt.«

Dixie Clay fragte sich, wie sie das beweisen sollte, schließlich hatten sie kein einziges Stück Sackleinen im Haus. Sie drückte das Bündel mit einer Hand zusammen und schob die Schnur darunter. »Wenn Sie dann bitte einen Finger hier drauflegen könnten, Sir, damit ich einen Knoten machen kann.«

»Ich erspare euch den Ritt in die Stadt. Ich gebe dir sechs Dollar.«

»Ich reite sehr gerne in die Stadt. Sagen wir zehn.«

»Sieben.«

»Zehn. Die Gebrüder Fogarty sind ganz scharf auf Otterfelle. Angeblich ertrinken sie in Bestellungen von Operncapes mit Otterpelzbesatz, Dreiviertelglockenärmeln und Elfenbeinknöpfen.« Das hatte sie im Sears-Katalog gelesen. Als sie die Mäntel gesehen hatte, musste sie an ihre Mutter denken – was seltsam war, denn ihre Mutter war weder in die Oper gegangen, noch hatte sie ein Cape besessen.

Dixie Clay schnürte immer noch das Bündel und wartete auf seinen Finger, damit sie einen Knoten in die Schnur schlagen konnte. Doch stattdessen schaukelte er lächelnd vor und zurück, nahm seinen Hut ab und legte ihn sich auf die Knie. Sie setzte sich auf die Hacken und merkte plötzlich, was an seinen Augen so seltsam war. Das eine war blau, das andere grün. Sie war nicht sicher, in welches sie schauen sollte, beide waren so hübsch wie Murmeln. Fast kam es ihr vor, als würde sie sich, wenn sie mit ihm sprach, zwischen zwei Menschen entscheiden müssen. Er erinnerte sie an Patsy McMorrows lächelnde Babypuppe: Wenn man ihren Kopf herumdrehte, kam ein weinendes Gesicht zum Vorschein.

Jesse setzte sich den Hut auf die schwarzen Locken. Dixie Clay hätte sie gern noch ein wenig länger bewundert. Er trank einen letzten großen Schluck Buttermilch. Sie hatte den Drang, ihm noch mehr anzubieten, doch weil ihr Vater und ihr Bruder weg waren, hatte sie sich nicht um das Essen gekümmert. In einem Monat würden sie den Rhabarber ernten, dann könnte sie ihm ein Stück Kuchen anbieten.

Er beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Wie heißt du?«

»Dixie Clay.«

»Dixie Clay. Und wie alt bist du, Dixie Clay?«

»Dreizehn.«

»Dreizehn. Nun gut. Miss Dixie Clay, dreizehn Jahre alt, wie wäre es damit …« Er beugte sich hinunter und legte einen Zeigefinger auf den Knoten, den Dixie Clay in die Schnur geschlagen hatte. »Ich fürchte, du hast mich über den Tisch gezogen, und ich bin mir nicht mal sicher, ob es mir was ausmacht. Zehn Dollar.«

Sie zog den Knoten zu und spürte, wie nah sein Gesicht an ihrem war.

»Ich habe in fünf Staaten gehandelt, Miss Dixie Clay, und wenn ich ein Fünfcentstück bekommen hätte für jedes Mädchen, das so hübsch ist wie du …«

Ihre Wangen fingen zu brennen an, und sie hatte Angst, er könnte die Hitze spüren.

Doch da stand er auf und nahm die Felle an sich. »… dann hätte ich jetzt fünf Cent.«

Dixie Clay erhob sich ebenfalls, er streckte die Hand aus. Wir haben ein Geschäft abgeschlossen, dachte sie und gab ihm die Hand, aber statt sie zu schütteln, stand Jesse einfach nur da und hielt sie fest. Sie war sich nicht sicher, wo sie hinschauen sollte, also betrachtete sie ihre Finger in seinen, die sehr weiß und sauber waren.

»Sag deinem Vater«, sagte Jesse schließlich, »dass er eine verflixt gute Händlerin großgezogen hat. Und eine verflixt gute Jägerin.«

Als sie aufblickte, legte er den Kopf schief – das grüne Auge unter der Hutkrempe blitzte –, ließ einfach so ihre Finger los, drehte sich um und stieg die Stufen hinunter.

Sie folgte ihm zum Fuhrwerk, wo er das Fellbündel auf die Ladefläche warf. Er schloss ein Fach unter dem Sitz auf und holte zehn Dollarmünzen heraus. Irgendwie hatte sie das Geld fast vergessen. Es kühlte ihre Handfläche, die er eben noch berührt hatte.

Jesse kletterte auf den Sitz und ergriff die Zügel. »Grüß die Fogarty-Brüder von mir«, sagte er augenzwinkernd, wendete das Gespann mit einem »Hopp!« und trieb die Tiere zu einem schnellen Trab an. Wieder klirrten die Ketten, eine Musik, der Dixie Clay lauschte, bis es nichts mehr zu hören gab.

Im darauffolgenden Jahr kam er wieder. Sie hatte gewartet. Gütiger Gott, was hatte sie gewartet und ungeduldig den Winterregen ertragen, der ihren Vater von der Jagd abhielt, aber dann waren er und Lucius endlich aufgebrochen. Sie trug ein neues Kleid, denn obwohl sie immer noch eine nahezu flache Brust und eine schmale Taille hatte, spannte das alte an den Achseln, weil ihr Brüste gewachsen waren und, wie sie überrascht feststellte, ihre Hände füllten. Weihnachten hatte ihr Vater ihr Geld geschenkt, den gleichen Betrag, den er für Lucius’ neuen Jagdmantel und eine Mütze mit Ohrenklappen ausgegeben hatte. Er sagte ihr nicht, was sie sich davon kaufen sollte, und er wirkte sehr überrascht, als sie zum Laden ging und ein Schnittmuster kaufte, McCalls »Empire-Damenkleid, passend für kleine Frauen«, und dazu fünf Meter Stoff. Sie hatte mit einem Ballen Seidencrêpe geliebäugelt, doch sie wusste, dass der Stoff nicht lange überdauern würde, ganz im Gegensatz zu dem Klatsch, den er auslösen würde. Stattdessen wählte sie Baumwollvoile in »Kopenhagenblau«. Auf dem Heimweg sagte sie sich den Namen immer wieder laut auf und fuhr erschreckt herum aus Angst, jemand könnte sie gehört haben.

Sie breitete den Stoff auf dem Nähtisch aus, heftete das Schnittmuster daran, griff zur Kreide und dann zur Schere. Sie ordnete die Teile an, nähte und krempelte, und dann zog sie das fertige Kleid an und rannte zu ihrem Vater, um es ihm zu zeigen. Sie stand verlegen da, er blickte aus den Geschäftsbüchern auf und schwieg betreten. Sie drehte sich wortlos um und schlich davon.

Dixie Clay stand in Kopenhagenblau gewandet im Kiefernwald und hörte Jesses Musik. Fast war es, als hätte er gewusst, dass sie endlich allein war. Sie rannte zum Haus, aber als er in die Einfahrt bog, verlangsamte sie ihre Schritte und zwang sich sogar, den Hühnern etwas Futter hinzuwerfen. Er hatte sich einen Schnurrbart wachsen lassen, der ihm ausnehmend gut stand. Sie hatte einen Käsekuchen gebacken und vor ihrem Bruder unter einem Geschirrtuch im Kühlschrank versteckt. Sie schnitt ihn für Jesse an, der zwei Stücke aß. Sie selbst war zu aufgeregt zum Essen.

Nachdem das Geschäftliche erledigt war – für die beiden Hirschhäute bekam sie nur drei Dollar vierzig, weil Lucius die Tiere mit Schrot geschossen hatte –, spazierten sie und Jesse durch den Weißgummibaumhain. Vor einem jungen Baum mit zwei auf niedriger Höhe in den Stamm geritzten V blieben sie stehen. Die Kerbe aus dem Vorjahr war vernarbt, doch aus dem frischen Schnitt darunter, den sie an diesem Morgen gesetzt hatte, sickerte die honigbraune Masse. Schweigend sahen sie zu, wie ein Tropfen des süßlich duftenden Harzes hervorquoll, sich über dem Aluminiumbecher in die Länge zog und schließlich hineinfiel. Das Plätschern erschien ihr unglaublich laut.

Jesse ergriff ihre Hand. »Wenn da zwei weitere Kerben sind«, sagte er und nickte zum Baumstamm hinüber, »komme ich zurück und nehme dich mit nach Mississippi.« Mit der anderen Hand hob er ihr Kinn an, und sie sah ihm in die Augen, Wald und Wasser, und dann schloss sie ihre – und ja, er küsste sie.

Zwei weitere Kerben, zwei weitere Jahre. Dann wäre sie sechzehn. Neuerdings liebte sie den Duft der Weißgummibäume. Manchmal setzte sie sich mit ihrem Nähzeug auf einen Baumstumpf im Hain.

Sie wartete. Was tat sie währenddessen? Sie ging zur Pine Grove School, damit die neugierigen Nachbarinnen Ruhe gaben, obwohl sie dort nicht halb so viel lernte wie daheim von ihrem Papa, der Bücher und Karten und ein Teleskop besaß. Wenn sie nicht in der Schule war, weckte sie Obst ein und häutete das Wild, kümmerte sich um die Tiere und probierte neue Rezepte aus, die sie ihrem Pa vorsetzte, und als ihr Nachbar zum Harzkochen einlud, gewährte sie jedem der anwesenden Jungen einen Tanz, einen einzigen nur, denn sie wartete auf Jesse Swan Holliver, der wiederkommen und sie holen würde.

Und das tat er auch. Er kam tatsächlich, als sie sechzehn Jahre alt war. Jesse Swan Holliver machte ihr den Hof, heiratete sie und nahm sie mit nach Mississippi.

In Sugar Hill, wo Jesse sie hingebracht hatte, war das Geschirr gespült, und draußen war es dunkel genug, um zur Brennerei zu gehen. Willy wachte langsam auf, sie nahm ihn auf den Arm. Er drehte den Kopf hin und her und suchte den Geruch der Milch. Sie wünschte sich, sie könnte ihn mit ihrem Körper nähren, wie sie Jacob genährt hatte. Wenn Jacob beim Stillen eingeschlafen war und seine Lippen sich entspannten und die Brustwarze freigaben, konnte sie manchmal sehen, wie er die Zunge vorschob und ihre cremige Hintermilch aus seinem Mund und am Kinn hinunterlief.

Sie trug Willy an den Herd und tätschelte seinen Rücken. Wenn er sich an ihre Brust und ihre Schulter schmiegte, schien sein kleiner Körper mit ihrem verschmolzen. Sie bereitete die Flasche zu und hielt sie ihm an die Lippen, er saugte sich daran fest und trank mit entschlossenen, mahlenden Kaubewegungen, was ihr sehr gefiel. Dann wickelte sie ihn in die Decke und nahm ihn mit in die Destille.

Im Nachhinein konnte sie sich nur darüber wundern, wie lange es gedauert hatte, bis sie merkte, dass sie einen Schwarzbrenner geheiratet hatte. Sie war ein kluges Mädchen, im Rechnen und im Schreiben an der Pine Grove School war sie immer die Klassenbeste gewesen, und so musste sie sich wohl eingestehen, dass sie es nicht merken wollte. Manchmal stellte sie sich vor, wie sie ihrer Freundin, wenn sie denn eine hätte, das Leben als Frischvermählte schilderte. Die Freundin hätte sie beruhigt: »Dixie Clay, du konntest es nicht ahnen! Niemand hätte so etwas ahnen können«, und dann umarmte die Freundin sie, und sie lachten zusammen, mit Tränen in den Augen.

Denn im Nachhinein waren die Zeichen überall gewesen. Nach der Nacht im Thomas-Jefferson-Hotel hatten sie die Reise nach Hobnob angetreten und waren nur langsam vorangekommen, denn wann immer ihnen eine Kutsche oder ein Auto begegnete, schien Jesse mit den Insassen bekannt zu sein. Er zog die Maultierzügel an und erzählte dem einen ganz unbefangen einen Witz, fragte den anderen nach dessen kranker Frau und den Dritten nach dessen neuem Boot. Auf dieselbe verbindliche Art und Weise hatte Jesse auch Dixie Clays Vater verzaubert, als er um ihre Hand angehalten hatte. Natürlich hatte ihr Vater gefragt, wie Jesse sich seinen Lebensunterhalt verdiene, wo doch sein Heimatort in Mississippi schlechtes Baumwollland war. Jesse hatte vom Pelzhandel und dem Versand der Felle nach New Orleans erzählt. Lucius hatte zu Jesses Füßen gesessen wie ein Hund, der einen Waschbären einen Baum hochgejagt hat. Zum Abendessen hatte Dixie Clay einen Braten serviert. Jesse hatte gewartet, bis ihr Vater ins Wohnzimmer gegangen war, und dann hatte er Lucius gefragt: »Worin besteht der Unterschied zwischen Rinderbraten und Kanincheneintopf?«

Lucius wusste es nicht.

»Jeder kann Rinder braten.«

Lucius musste lachen, bis er grunzte.

Ja, Jesse war charmant, das würde sie ihrer Freundin nicht erklären müssen. Doch selbst sein Charme konnte die Ungereimtheiten kaum verschleiern. Als sie an ihrem zweiten Tag als Ehepaar an dem Schild »Willkommen in Hobnob« vorbeifuhren, hielt ein Auto neben ihnen – ein Dodge-Brothers-Tourenwagen, wie Jesse sagte –, und der Mann auf dem Beifahrersitz kurbelte das Fenster herunter.

»Wie läuft das Geschäft?«, fragte er.

»Gut. Und es wird bald noch besser werden. Kommen Sie raus nach Sugar Hill«, rief Jesse über das Motorendröhnen hinweg, »ich habe, was Sie wollen.«

Als sie weiterfuhren, fragte sich Dixie Clay, welche Sorte Pelz diese Männer wohl wollten. Und warum nannte Jesse sein Zuhause Sugar Hill? Das fragte sie sich, als sie das Haus sah, das nicht auf einem Hügel stand, sondern in einer kleinen bewaldeten Schlucht, am Ende einer langen Zufahrt, die man übersah, wenn man nicht auf die in den Schlamm gedrückten Spuren der Kutschenräder achtete. Und warum trug es das Wort Zucker im Namen, wenn hier weit und breit kein Zuckerrohr angebaut wurden?

Aber das Haus selbst war eine schöne Überraschung. Es war ursprünglich im Dogtrot-Stil gebaut und hatte einen offenen Durchgang in der Mitte. Doch Jesse hatte den Durchgang geschlossen und an der Rückseite angebaut, sodass es jetzt auf beiden Seiten über drei Räume verfügte. Zur Linken lagen Wohnzimmer, Esszimmer und Küche, zur Rechten drei Schlafzimmer. Es gab Eckschränke, eine Vorratskammer, holzvertäfelte Wände, ein Innenbad und elektrisches Licht, das man einschaltete, indem man auf einen kleinen Knopf an einem Kästchen an der Wand drückte. Durch die Hintertür gelangte man in den Wald, durch die Vordertür und das Fliegengitter auf eine tiefe, schattige Veranda mit Rattanmöbeln, Schaukelstuhl und einem Geländer in der perfekten Höhe, sagte Jesse, um die Beine hochzulegen. Er war knapp zwanzig Jahre alt und hatte keine nennenswerte Verwandtschaft mehr, was bedeutete, dass er den Messingleuchter, die Uhr im Mahagonigehäuse auf dem Kaminsims, die blauen, rosa abgesetzten Seidenvolantvorhänge und die Schlafzimmermöbel aus Walnussholz im Queen-Anne-Stil, die er mit zweiundzwanzig Dollar pro Monat abbezahlte, selbst ausgewählt hatte. Das Haus passte zu ihm, zu seinen sauberen, oval gefeilten Nägeln und seinem gezwirbelten Schnurrbart.

»Wie gefällt Ihnen Ihr neues Haus, Mrs. Holliver?« Sie stand auf der Veranda und blickte nach Westen, Jesse war hinter ihr.

»Ich bin sehr erfreut, Mr. Holliver.«

Er stützte das Kinn auf ihren Kopf, schob seine Hände um ihre Taille und drückte sie zusammen, bis seine Finger sich berührten. Er war kleiner als der Durchschnitt, aber Dixie Clay war so winzig, dass ihre Körper zusammenpassten wie eine Schwalbenschwanz-Verbindung.

»Vielleicht«, sagte sie, »ist die Einfahrt ein wenig zugewuchert?«

Er antwortete: »Den Außenbereich kannst du getrost mir überlassen. Solange wir kein Holz brauchen, haben wir keinen Grund, gesunde Bäume zu fällen. Aber im Haus kannst du tun und lassen, was du willst.« Er küsste sie auf den Scheitel. »Ich sag dir was: Wir brauchen ein paar Vorräte. Lass uns zum Eisenwarenladen fahren und sehen, wie du die Bude aufhübschen kannst.«

Im Eisenwarenladen ließ Jesse anschreiben. »Für Mrs. Jesse Swan Holliver«, erklärte Dixie Clay dem Angestellten, obwohl der Jesse offensichtlich kannte. Doch sie genoss den Klang ihres neuen Namens: »Mrs. Jesse Swan Holliver, mit H.« Die dicke Frau des Verkäufers – vielleicht eifersüchtig darauf, dass Dixie Clay so wenig Stoff für ihr Kleid brauchte – zog missmutig die Stoffproben heraus, damit Dixie Clay sie befühlen konnte. Sie berechnete ihr Ripsseide in »Palmengrün« zu achtundsechzig Cent den Meter, dazu gelbe Farbe und grünen Stoff mit Vichykaros, aus dem sie Kellerfaltenvorhänge für das Kinderzimmer nähen würde. Gelb und Grün waren Farben, die für einen Jungen ebenso geeignet waren wie für ein Mädchen.

Das bestimmt nicht lange auf sich warten lassen würde: Jede Nacht wachte sie auf, weil Jesse im Bett an sie heranrutschte und ihr Nachthemd mit kalten Fingern – warum waren sie so kalt? War er draußen gewesen? – in die Höhe schob. Doch der Gedanke verflog im Nu, wenn seine Hände zwischen ihre Oberschenkel glitten, seine Daumen sich hineinschoben und sich drehten, sich in ihr erwärmten und sie bereit machten, zusammen mit seinem Atem an ihrem Ohr und seinen Händen auf ihren Brüsten. »Sugar Hills«, flüsterte er, sie spürte seine Hände an den Hüften, wenn er sie umdrehte und ihren Hintern nach oben zog, und dann drang er in sie ein, und es passierte, und wie. Nach dem ersten Mal im Thomas Jefferson hatte es überhaupt nicht mehr wehgetan. Ich bin dafür geschaffen, dachte sie und gab sich dem Rhythmus hin.

Wenn Jesse auf ihr einschlief, noch immer mit ihr verbunden, lag sie lächelnd da und spürte, wie er langsam aus ihr herausschrumpfte und seine Brust sich bei jedem Atemzug bewegte. Er war das Boot und sie das Meer. Seine Atmung vertiefte sich zu einem Schnarchen. Vielleicht hatten sie in dieser Nacht ein Kind gemacht.

Hatten sie aber nicht, und auch nicht in der nächsten und der übernächsten. Aus dem Frühling wurde Sommer, Dixie Clay nähte einen Rüschenbesatz für den Stubenwagen. Sie kochte Rhabarber und weckte Aprikosen, Tomaten, Birnen und Pfirsiche ein und auch Wassermelonenschalen und Sandwichgurken, Kumquats und gezuckerte Satsumas. Aus dem Sommer wurde Herbst, sie kochte Apfelmus, Holzäpfel mit Gewürzen und Feigen. Sie wünschte sich, sie hätte Zitronen, um Lemon Curd zu machen, aber dafür lebten sie zu weit im Norden.

Aus dem Herbst wurde Winter, und wie es schien, hatte Jesse immer öfter in der Stadt zu tun, oder er ging im Wald auf die Jagd. Nach seiner Rückkehr bereitete sie aufwendige Gerichte für ihn zu, aber er im Gegensatz zu ihrem Vater war er kein guter Esser. Sie hatte ja nicht einmal einen Hund, an den sie die Reste verfüttern konnte, denn Jesse mochte keine Hunde. Warum nicht?, fragte sie ihn einmal. »Vielleicht bin ich als Kind gebissen worden«, war seine Antwort.

Dixie Clay vermisste das Gefühl einer kalten Hundenase in ihrer Handfläche. Sie vermisste es, wie Blue sie angestupst hatte, wenn sie las, damit sie ihm die Ohren kraulte, wie seine roten gummiartigen Augenlider sich genüsslich senkten. Sie erinnerte sich an die Nachmittage mit Bernadette Capes im dunklen, kühlen Quellenhaus, wo es immer leicht nach Sauermilch roch. Sie wechselten sich ab, nahmen das Butterfass zwischen die Knie und stampften. Nach einer Weile zog Bernie, einem glücklichen Fischer gleich, das Netz mit der Sahneschicht heraus, und dann saßen sie unter den Pappeln und gossen die fette gelbe Sahne über Beeren und Biskuits. Sie vermisste es, die Butter zu stampfen, während Bernie das »Klagelied eines irischen Immigranten« rezitierte; sie vermisste es, mit Patsy Murmeln zu werfen und neben ihrem Vater die Reitstiefel zu polieren, während er die Ouvertüre aus Les Huguenots summte.

Eines Tages – sie waren seit fast einem Jahr verheiratet – sagte Jesse ihr, sie solle nicht mit dem Abendessen auf ihn warten, denn er habe geschäftlich in der Stadt zu tun. Und da bat sie darum, ihn begleiten zu dürfen. Sie fragte, als wäre nichts dabei, und rührte weiter in der Dickmilch, die einfach nicht gerinnen wollte.

Als sie aufblickte, sah Jesse sie an, aber dann sagte er nur: »Warum nicht? Wenn das Essen warten kann … komm mit.«

Als sie in die Stadt fuhren, bemerkte Dixie Clay zwei Arten von Radspuren: zwei äußere für die Kutschenräder und zwei innere für Autoreifen. Es war März, und der Hartriegel, normalerweise im Unterholz versteckt, streckte seine weißen teetassenförmigen Blütenstände aus. Jesse hielt die Zügel locker in den kanariengelben Lederhandschuhen, und Dixie Clay fand, dass er mit seinen schwarzen Locken vor dem sattgrünen Hintergrund aussah wie ein exotischer Vogel. Er erzählte ihr die Handlung von Nosferatu, dem letzten Film, den er gesehen hatte. Heute würden sie sich, bevor er sich ums Geschäftliche kümmerte, Rudolph Valentino in Blut und Sand ansehen. Er sagte, bevor der Film beginne, werde ein blonder Zwerg namens Big Boy Lloyd Adams in einem hellblauen Smoking durch den Mittelgang schreiten, über einen Hocker auf die Klavierbank klettern, die Jackenschöße zurückschlagen und in die Tasten hauen. Die Musik war für jene gedacht, die nicht lesen konnten – die Schwarzen saßen oben im ersten Rang, sagte Jesse –, Big Boy Lloyd konnte mit seinem Klavier den Klang von Donner erzeugen, und auch von Regen, Lokomotiven oder Autos.

Nach dem Film gingen sie zu McMahon’s Diner und bestellten Kaffee und Waffeln für vierzig Cent. Jesse aß kaum etwas, rauchte viel und schüttelte den Männern, die an ihrer Sitznische vorbeikamen, die Hand.

»Das ist also deine Frau«, sagte einer und tippte sich an den Hut. Ein anderer fügte hinzu: »Tja, Jesse, jetzt wissen wir, warum du sie vor uns versteckt hast.«

Jesse streckte sich, legte die Arme lässig auf die Lehne der Bank und war ebenso unterhalten wie unterhaltsam. Er fragte: »Jungs, ihr fragt euch wohl, wie ich meine Jugend behalte?« Und nach einer dramatischen Pause sagte er: »Ich gebe ihr alles, was sie will!«

Die Männer platzten vor Lachen.

Zum Abschied schlugen sie ihm auf den Rücken, und er lud sie ein, beim Haus vorbeizuschauen. »Mein Geschäft wird expandieren. Am Dienstag ist die feierliche Eröffnung«, sagte er. »Dienstag, wenn es dunkel wird.«

Auf dem Heimweg fragte sie ihn danach, aber er sagte, er sei müde, zu müde, um darüber zu sprechen, und sie wollte ihn nicht bedrängen. Es war der schönste Tag seit Langem gewesen. Sie legte ihren Kopf an Jesses Schulter und sah eine Sternschnuppe.

»Vielleicht kaufe ich dir eines dieser Waffeleisen«, sagte er zu ihr.

Als Dixie Clay am Dienstagabend das Geschirr abspülte, hörte sie erst Kutschenräder und dann Autos. Sie trocknete sich die Hände an der Schürze ab, steckte sich die Haarnadeln fest, zog sich die Lippen in Rot nach und war bereit, hinüberzugehen und Kaffee anzubieten, als die Vordertür zugeschlagen wurde. Jesse stampfte die Treppe hinunter. Sie ging zum Fenster, aber draußen war es dunkel, und sie konnte nichts erkennen als den Heiligenschein einer Laterne, die sich hüpfend durch die Nacht bewegte. Alle Stiefelschritte wurden von den Kiefernnadeln verschluckt. Dreimal ging das so, und als sie zu Bett ging, war Jesse immer noch da draußen. Stunden später wachte sie im Mondlicht auf, weil er sich über ihre Schulter beugte und so heftig an ihrem Nachthemd zerrte, dass eine Naht riss. Und da hatte sie endlich einen Namen für das, was sie nicht zum ersten Mal roch: Whiskey.

Jesses Geheimniskrämerei und seine ständigen Abwesenheiten. Seine Beliebtheit bei anderen Männern. Die zahlreichen, eiligen Besucher vor dem Haus. Die bösen Blicke der Frau des Ladenbesitzers. Und dass sie nie in die Kirche gingen. Einmal hatte sie sich überlegt, Harz zu sammeln wie früher in Alabama, sie dachte, Jesse wäre froh darüber, aber er hatte nichts geantwortet als: »Geh nicht weiter als bis zur Kuppe.« Dass er ständig auf die Jagd ging und kaum je ein Tier schoss. Die ärmlichen, vernachlässigten Gemüsebeete. Das schöne Haus, hinter Kiefern verborgen und in einer Schlucht – einer Schlucht, die jedermann Sugar Hill nannte.

Drei Wochen lang kamen die nächtlichen Besucher, und dann eines Tages spannte Jesse Chester und Smokey an und blieb drei Nächte fort. Als er nach Hause kam, saß er am Steuer eines schwarzen Model T, an das er Chet angebunden hatte. Der Lärm hatte Dixie Clay aus dem Haus gelockt, sie legte sich eine Hand über die Augen, um das Auto im Gegenlicht zu bewundern. Er lachte, als er ihre staunende Miene sah. Jesse musste die Straße zwischendurch verlassen haben, denn im Kühler des Autos steckte ein Zweig eines Spierstrauchs. Dixie Clay ging in die Hocke, um ihn herauszuziehen.

»Wie funktioniert es?«, fragte sie.

Er öffnete die Motorhaube und zeigte ihr alles, ließ sie auf dem Beifahrersitz sitzen, erklärte ihr, wie man das Gaspedal bedient – »so kontrolliert man, wie viel Benzin im Motor ankommt« –, und justierte die Drosselklappe nach. Er stellte sich vor das Auto, bückte sich und drehte mit der linken Hand die Kurbel, sodass die türkisfarbene Seidenkrawatte auf seinem Rücken flatterte.

»Und, wie findest du es?«, schrie er gegen den Lärm an.

»Kann ich es auch mal fahren? Bitte!«

Jesse schmunzelte. »Besser nicht, mein Eichhörnchen. Diese Maschine hat mich zweihundertsechzig Dollar gekostet.« Er rutschte auf den Fahrersitz, stellte den Motor aus und steckte den Schlüssel ein.

Dixie Clay wünschte, sie hätte eine Gelegenheit bekommen, sich von Smokey zu verabschieden und noch einmal seine weichen schwarz gerandeten Ohren zu kraulen. Doch hauptsächlich fragte sie sich, wo Jesse die Schlüssel aufbewahren würde.

Was Jesse nicht wusste: Während er das Auto gefunden hatte, hatte sie seine Destille gefunden. Sie war dem Weg über die Kuppe gefolgt, der süße Medizingeruch war immer intensiver geworden, und dann hatte sie den niedrigen Schuppen aus rostigem Wellblech entdeckt. Er war so schief wie ein Kartenhaus, und in seiner staubigen Dunkelheit standen Zweihundert-Liter-Stahlfässer aufgereiht, jeweils durch ein geknicktes Rohr mit einem kleineren Fass verbunden, das wiederum am nächsten Stahlfass hing und so weiter, auf einer Länge von fünf Metern – sie sahen aus wie Feldarbeiter, die schwere Eimer tragen. Dixie Clay hob einen Deckel an, und die Dämpfe trafen sie wie ein Schlag. Sie ließ den Deckel sofort fallen, drehte den Kopf zur Seite und schnappte nach Luft, hob ihn wieder an und betrachtete den zähflüssigen, brodelnden Schlick, auf dessen Oberfläche ein paar tote Schnaken trieben. Zum letzten Fass gab es anscheinend keinen passenden Deckel, denn es war nur mit einem rostigen Stück Blech abgedeckt. Dixie Clay hob es an und sah ein totes Eichhörnchen in der sprudelnden Maische liegen. Sie schaufelte es mit dem Blech heraus, warf es in den Wald, kehrte nach Hause zurück und grübelte.

Am späten Nachmittag, als die violetten Erbsen auf dem Herd köchelten, setzte sie sich mit einem Glas Limonade an den Sekretär und schrieb den wöchentlichen Brief an ihren Vater und ihren Bruder. Diesmal konnte sie ihnen immerhin vom Model T berichten. Als sie zum ersten Mal ein Automobil gesehen hatten, war Lucius so begeistert gewesen, dass er es über fast zwei Kilometer verfolgt hatte, und am nächsten Tag hatte er während des Chorsingens in der Kirche Autos skizziert, bis der Chorleiter ihm eine Kopfnuss verpasste hatte.

Aber wenn sie über das Model T schrieb, würde sie erklären müssen, woher das Geld dafür kam. Sie legte den Stift hin. Als sie dann doch schrieb, war es nur über das Wetter, und auf diese Weise nahm sie Abschied von ihrem Zuhause und von ihrem Vater. Dem Mann, nach dem sie gerufen hatte, als sie elf war und sie einen ihrer Jagdausflüge machten. Sie hatte an sich hinuntergeschaut und Blut auf dem Sattel und am Sattelknauf gesehen, dabei waren weder sie noch ihr Pferd verletzt – selbst damit hatte sie sich an ihn wenden können. Sie hatten kehrtgemacht und waren nach Hause geritten, und er war nach oben gegangen und hatte den elastischen Bindengürtel seiner verstorbenen Frau geholt, und dann hatte er vor der verschlossenen Badezimmertür gestanden und Dixie Clay erklärt, wie man die Mullbinde darin befestigt – diesem Mann schrieb sie nun über das Wetter. Adieu, auf Wiedersehen.

Und in gewisser Weise verabschiedete sie sich auch von Jesse, wenigstens von dem Jesse ihrer Träume. Denn wenn sie Jesse am Abend, als er in seinem Model T anrollte, zur Rede gestellt hätte, hätten sie vielleicht zu einer neuen Ehrlichkeit gefunden, die sie, feuchtem Zunder gleich, vielleicht nicht gerade wärmte, nach der sie aber dennoch die Hände hätten ausstrecken können. Aber sie sagte nichts, denn sie hoffte, er würde es ihr von sich aus erzählen. Sie wartete und tat so, als wüsste sie von nichts, besserte weiterhin seine Hemden aus und briet ihm Eier. Nachts schob er sich immer noch mit seinen kalten Fingern an sie heran, aber sie genoss es weniger als früher. Früher hatte seine Gier auch sie gierig gemacht, aber inzwischen hatte sie das Gefühl, dass sie sonst wer sein könnte. Sie wies ihn trotzdem nie ab. Ein Baby, ein Baby, ein Baby, sagte sie sich stumm auf, im Rhythmus des Bettgestells, das gegen die Wand schlug.

Und nachdem sie sich ein Jahr lang dumm gestellt hatte, fühlte sie sich wirklich dumm. Eines Abends dann kam sie zu sich, neben dem Hühnerstall, als ein Stachelschwein nur wenige Meter vor ihren Füßen vorbeiwatschelte. Hatte sie tatsächlich so reglos hier herumgestanden, dass man sie mit einer Statue oder einem Baum verwechseln konnte? Den Korb mit dem Hühnerfutter hielt sie auf die Hüfte gestützt, ihre Faust war darin vergraben. Sie zog sie heraus, öffnete sie und starrte auf ihre staubigen Finger. Sie erinnerte sich an das Mädchen, das einen Puma erschossen und das Fell einem stattlichen Fremden verkauft hatte, doch sie erkannte weder das Mädchen noch den Fremden wieder. Sie erinnerte sich auch an den Gedanken, dass seine verschiedenfarbigen Augen ihn wie zwei verschiedene Menschen erscheinen ließen, wie bei dieser Umkehrpuppe – und da begriff sie, wie richtig sie damit gelegen hatte. Er war zwei Männer, aber sie hatte nur einen geheiratet. Und derjenige, den sie geheiratet hatte, war nie zu sehen.

Und so unterbreitete sie ihm am Abend ihres achtzehnten Geburtstags (von Jesse hatte sie eine silberne Brosche und einen Fingerhut mit eingravierten Initialen bekommen, denn er machte zu gern elegante Geschenke) einen Geschäftsvorschlag. Er war gerade in seinem Model T zurückgekehrt, streifte die Lederfahrhandschuhe ab und stieg die Treppe zur Veranda hinauf. Aus seinem Lächeln schloss sie, dass er einen großen Verkauf getätigt hatte. Sie trat ihm entgegen.

»Zeig mir, wie man diesen Whiskey brennt«, sagte sie.

Jesse streifte seelenruhig den zweiten Handschuh ab und überlegte.

»Du kannst nicht brennen und gleichzeitig ausliefern«, fuhr sie fort.

Er hob den Kopf, sein Blick war hellwach, und sie merkte, wie lange er sie nicht mehr so blaugrün angesehen hatte. »Na so was«, sagte er, und dann schlug er sich die Handschuhe in die Handfläche. »Also gut.«

Und so traten die Eheleute Holliver in die Geschäftsphase ihrer Beziehung ein.

Am nächsten Abend zeigte Jesse ihr den Schuppen, wo er Mais, Kleie, Hefe und Zucker lagerte. Er lehrte sie, die Maische anzusetzen, zu vergären und zu erhitzen, bis sie dampfte, aber noch nicht kochte. Im nächsten Arbeitsschritt strömte der aufsteigende Nebel durch den Hals ins Dampffass, wurde von Feststoffen getrennt, floss weiter durch das Schneckenrohr und verflüssigte sich schließlich im Kondensator. Jesse ließ aus dem Zapfhahn am Boden des Fasses etwas Flüssigkeit in ein »Perfect Mason«-Einmachglas laufen, trank davon und schluckte heftig.

»Wildkatzen-Whiskey«, sagte er und hielt das Glas in die Höhe. »White Lightning. Morgentau.«

Er legte sich einen Daumen an die Unterkante des Schnurrbarts, schnippte ihn in Form und wiederholte die Geste auf der anderen Seite. Er betrachtete Dixie Clay nachdenklich und bot ihr schließlich das Glas an, aber sie schüttelte nur den Kopf.

Als am nächsten Morgen die Sonne aufging und sich wie ein Dotter über die Kiefernwipfel schob, fütterte Dixie Clay in aller Eile die Hühner und nahm sich nicht einmal Zeit für Jesses Frühstück. Sollte er doch Brot und Käse essen. Als er später zur Destille ging, war sie schon dabei, die Fässer mit Stahlwolle auszuschrubben. Sie trug einen alten Hut und eine seiner alten Hosen. Um Mitternacht blubberte die erste Charge vor sich hin, und in der darauffolgenden Woche experimentierte sie mit Aromen, fügte Pflaumen zu dem einen Spezialbrand hinzu und Dr.-Pepper-Limonade zu einem anderen. Sie bewahrte Proben von jeder Charge auf, um aus ihren Fehlern zu lernen, aber auf den Geschmack kam sie nie.

Jesse kam mit den Auslieferungen kaum hinterher, und sein Geschäftsgebiet vergrößerte sich stetig, bis nach Columbus und Clarksdale (vom dortigen Bordell kam ein Dauerauftrag für Whiskey mit Holzaroma). Ein paar Monate später verschiffte Jesse ganze Fässer von Hobnob nach New Orleans. Selbst in dieser Hinsicht bewies er Stil: Er ließ sie mit schicker goldfarbener Kursivschrift bemalen und verlud sie am helllichten Tag: Mississippi-Terpentin.

Dixie Clay wusste nicht, ob die Leute glaubten, Jesse würde immer noch selbst brennen, oder ob sie vermuteten, dass er einen sachkundigen Schnapsbrenner rekrutiert hatte. Es war ihr egal. Für sie bestand das Vergnügen nicht im fertigen Produkt, sondern im Herstellungsprozess, in der handfesten Arbeit und den ordentlich aufgereihten rundlichen Einmachgläsern im Regal, die den Bauch vorstreckten wie bei einer Parade. Nach den ersten dreiundzwanzig Ehemonaten, dem lähmenden Warten, den Nächten mit in die Höhe gerecktem Hinterteil, damit Jesse ihr endlich das Baby einpflanzte, mit dem ihr Leben beginnen würde – das Baby, das einmal im Traum nach ihr gerufen hatte, sodass sie aufgewacht war, die Arme um den eigenen Bauch gelegt –, nach all dieser Zeit hatte sie endlich etwas, worauf sie ihre Energien richten und das sie gestalten konnte.

Sie war geduldig und fleißig, sie war immer noch das Mädchen, das von Bernadette Capes gelernt hatte, dass man das Eiweiß für Baisers braucht und das Eigelb für Mayonnaise. Wenn sie den Mais von den Kolben geschabt hatte, verarbeitete sie die eine Hälfte in der Küche und die andere in der Destille. Sie steigerte die Produktion, indem sie etwas Brotteig um die Rohranschlüsse klebte und damit das Austreten von Dampf reduzierte. Sie hängte die grün karierten Kinderzimmervorhänge in der Destille an die Wand und redete sich ein, dahinter wäre ein Fenster. Wenn eine Charge fertig war, sammelten sich die Einmachgläser auf den Bodenbrettern und in den Regalen des Lagerschuppens. Bevor sie im Morgengrauen Schluss machte, öffnete sie noch einmal die Tür und warf einen letzten Blick auf ihr Werk, und die Gläser glühten in der Morgensonne wie die Lichter der Lastkähne auf dem Mississippi.

Jesse bekam sie kaum noch zu Gesicht. Einmal – sie arbeitete erst seit ein paar Monaten als Schnapsbrennerin – kam er herein, als sie den für die Gärung benötigten Zucker in die Rührschüssel kippte. Er fragte: »Warum misst du die Menge nicht ab?«

Dixie Clay zuckte mit den Schultern. »Ich hab das im Gefühl.«

»Wie viel Gramm Zucker waren das?«

»Achthundert«, antwortete sie.

»Exakt?«

»Exakt.«

»Bist du sicher?«

»Ich bin mir sicher.«

Jesse nahm den Messbecher vom Haken an der Wand, zog ein Klappmesser aus seinem Stiefelschaft und ließ es aufschnappen. Er tauchte den Becher in die Rührschüssel und strich den überschüssigen Zucker mit der Messerklinge ab. »Zweihundert«, zählte er und kippte den Zucker zurück in den Sack. Dixie Clay hielt den Atem an. »Vier … sechs … achthundert.« Der vierte Becher war gestrichen voll, kein Zuckerkorn lag mehr in der Schüssel. Jesse hatte ihr auf die Schulter geklopft und gesagt: »Nicht schlecht, Dixie Clay.«

Und sie wurde noch besser. Ihr Whiskey war der beste im ganzen Washington County, so klar, dass man durch die Flüssigkeit hindurch eine Zeitung hätte lesen können. Ungefähr zu dieser Zeit hörte Jesse auf, den Whiskey persönlich auszuliefern, und stellte stattdessen Kuriere ein, die ihn mit der Jeannette zum Dock von Hobnob brachten. Jesses Gebiet war die »Kundenbetreuung«. Er war das Gesicht und die Stimme, die von den Türstehern der Speakeasys wiedererkannt wurden. Er sprach stets leise, und er beherrschte das ganze Vokabular: Highball Stinger, Charleston Bracer, Cholera Cocktail, Orange Whiskey Sparkle, Locomotive, Whiskey Smash. Wenn er nach Hause kam, stank er wie ein Puff. Seltsam, wie wenig Dixie Clay sich daran störte, wenn sie seine Kleider in die Waschmaschine warf. Die Waschmaschine hatte Jesse ihr gekauft, denn er wollte, dass sie ihre Zeit effektiv nutzte. Sie hatten Bestellungen zu erfüllen. Manchmal fragte er sie, ob sie nicht ein paar Arbeiter einstellen wolle, Skipper Hays und dessen Sohn Gabe zum Beispiel. Aber Dixie Clay lehnte ab. Auf diese Weise flogen Schwarzbrenner auf – früher oder später prahlten sie im Whiskeyrausch, oder sie unterschlugen Geld, oder sie hintergingen und verpfiffen einander, oder sie schossen einander das Spatzenhirn raus.

Nach einer Weile fiel es ihr ohne erkennbaren Grund schwer, die ganze Nacht in der Destille wach zu bleiben. Es wurde immer anstrengender, die sprudelnde Maische zu rühren und die betäubenden Dämpfe einzuatmen. Mehr als ein Mal wusste sie nicht mehr, ob sie die Hefe hinzugefügt hatte oder nicht. Eines Nachts schlief sie auf einem Stapel Getreidesäcke im Schuppen ein, und die Destille überhitzte sich – die Charge war nicht bloß hinüber, sondern wäre fast explodiert. Als sie ein Kind war, hatte es einmal im Chilton County eine Explosion in einer Brennerei gegeben, fünf Brüder waren dabei umgekommen. Sie fing an, sich eigenartig zu benehmen, ganz untypisch für sie. Vielleicht war sie krank? Die Grippe konnte es nicht sein. 1918 hatte sie Grippekranke gesehen, und sie erinnerte sich noch gut an die Symptome. Jesse kündigte an, dass der nächste Arzt, der vorbeikommen und Schnaps kaufen würde, sie untersuchen sollte.

Ein Arzt kam und untersuchte sie. Dixie Clay war schwanger.

»Dein Bruder. Er wäre dein großer Bruder gewesen«, flüsterte sie Willy zu, der auf dem Dampffass lag und schlief. Willys zarte Augenbrauen zuckten, er wachte auf. Umso besser, sie hatte ihn schon vermisst. Sie schob ihre Hände unter ihn und spürte seinen kleinen Körper, warm und weich wie ein Teig, der in einer Schüssel aufgegangen ist. Sie legte ihn sich an die Schulter, wiegte ihn und sang: Trouble, trouble, trouble, I’ve had it all my days. Es war das Lied des Cowboys, und sie summte es in Willys kleine Ohrmuschel, während sie, Willy fest an sich gedrückt, durch die Destille tänzelte.