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KAPITEL

Es war der Tag nach der Nacht, in der Willy nicht gestorben war, und Dixie Clay steckte ihn in ihre Schürze und ritt auf Chester in die Stadt. Nachdem Ingersoll gegangen war, hatte sie sich Willy auf den Schoß gesetzt und ihn geschaukelt, und dann waren sie beide eingedöst. Dixie Clay war immer wieder wach geworden, das Baby an ihrer Brust fühlte sich winzig an. Sie erschrak regelrecht, als es hustete, hörte genau auf den Klang und dachte an den Streit mit Ingersoll zurück. Ingersoll, der Prohibitionsagent. Ihr erster Gedanke war, dass sie Jesse warnen sollte. Dann fiel ihr ein, dass er es wahrscheinlich schon wusste. Ihr zweiter Gedanke war, Ingersoll zu warnen. Am Ende dachte sie: Zum Teufel mit beiden. Aber sie hatte trotzdem Angst.

Ein Auto fuhr zu dicht an ihnen vorbei, Chester tänzelte seitwärts. Sie verspannte sich bei jedem Motorenbrummen, denn sie rechnete ständig mit der Polizei. Was würde Ingersoll tun? Er musste die Brennerei am selben Tag gefunden haben, als sie ihn am Bach getroffen hatte – an dem Tag, an dem sie ihn am liebsten geküsst hätte, an dem sie spürte, wie ihr Körper ihm entgegenstrebte, als er im Sonnenlicht vor ihr stand. Ich wollte dich wiedersehen, hatte er gesagt. Und sie hatte ihm geglaubt. Wie naiv. Sie war keine Heldin aus einem Roman. Sie trug das Haar nicht hochgesteckt wie ein Gibson-Girl. Ihr Haar war zu einem Zopf geflochten, so dick wie Willys Arm, damit Willy sie nicht daran ziehen konnte. Sie trug immer eine Schürze, und ihr Parfüm war der Whiskey. Sie war eine Schwarzbrennerin, und Ingersoll war das Gesetz. So einfach war das.

Oder nicht? Warum hatte er sie nicht sofort verhaftet? Warum hatte er sie später nicht verhaftet?

Aber er konnte ja wohl kaum wegschauen und so tun, als hätte er die Brennerei nicht gesehen. Schließlich ging es hier auch um die beiden vermissten Agenten – o Gott, wahrscheinlich waren Ingersoll und sein Partner als Ersatz geschickt worden. Ingersoll würde sie verhaften, er hatte gar keine andere Wahl. Er oder sein Partner. Und hatte sie es nicht verdient? Sie hatte mit niemandem über ihre Zweifel gesprochen, aber die waren nur gewachsen. Jesse wirkte fahrig und angespannt, und neuerdings verschwand er zu den ungewöhnlichsten Zeiten.

Noch vor wenigen Wochen wäre ihr der Gedanke, ins Gefängnis zu gehen, schlimm genug erschienen, aber in Wahrheit war das Leben hier ein Gefängnis, und sie hatte resigniert. Doch das Gefängnis war keine Option mehr. Sollte Willy abermals ein Waisenkind werden? Nein. Also war sie vor ein paar Stunden, als der Regen aufgehört hatte, mit Willy im Arm aus dem Schaukelstuhl aufgestanden und hatte beschlossen zu fliehen. Nur deshalb hatte sie das kränkliche Baby in ihre Schürze gesteckt.

Es wäre einfacher gewesen, mit Willy einen der Lastkähne nach Greenville zu besteigen, wo es fünf Rotkreuzzeltlager gab – ein großes, überfülltes Lager für Schwarze, ein kleineres, ebenso überfülltes für Mexikaner und drei bessere mit Küche und Lazarett für die Weißen. Früher, vor der Begegnung mit Ingersoll, hatte sie erwogen, sich wie die meisten anderen Frauen evakuieren zu lassen, aber sie hatte sich dagegen entschieden. Im einsamen Sugar Hill würde sie die Flut besser überstehen als im chaotischen, überlaufenen Greenville. In den Lagern kam es zu Gewalt. Greenville war eine Baumwollgegend, viele schwarze Farmpächter lebten bis heute auf dem Land, das ihre Eltern und Großeltern als Sklaven bestellt hatten. Und anscheinend herrschten nun wieder dieselben Verhältnisse wie zu Zeiten der Sklaverei: Weil die Baumwolle abgesoffen war, konnten die Farmpächter ihre Kredite nicht zurückzahlen und wollten nach Norden. Aber die Grundbesitzer fürchteten, dass es bald niemanden mehr geben würde, der im nächsten Jahr die Baumwolle pflückte, deswegen wurden die Arbeiter gezwungen, für fünfundsiebzig Cent am Tag Sandsäcke zu schleppen, beaufsichtigt von der Nationalgarde, und wenn jemand die Arbeit verweigerte, wurde er erschossen und seine Leiche in den Fluss geworfen. Später hatte sie sogar von einem Aufstand gehört, und als wäre das nicht genug, war in einem der Lager angeblich Typhus ausgebrochen.

Also war Greenville keine Lösung. Außerdem würde man sie dort finden. Wie so oft drifteten ihre Gedanken nach Pine Grove, aber wie immer liefen sie dort auf Grund. Ihr Bruder war jetzt verheiratet, Blue war tot, und ihr Vater litt unter Rückenschmerzen und Gicht. Er war seit Jahren nicht mehr auf die Jagd gegangen. Dem letzten Brief hatte das Porträt eines müden glatzköpfigen Mannes beigelegen. Und selbstverständlich wäre Pine Grove der erste Ort, an dem sie und Willy gesucht würden. Also wohin?

Chester krümmte den Rücken und hob den Schwanz, und Dixie Clay stieg ab, damit er sich erleichtern konnte. Es spielte keine Rolle, wohin sie ritten, solange sie in Bewegung blieben. Zur Not könnten sie campen.

Sie überlegte, was sie brauchen würden – Kerosin, Kerzen und Essen. Als Jesse ihr das letzte Mal Vorräte mitgebracht hatte, waren nur Zutaten für den Whiskey dabei gewesen. Sie brauchte Milch für Willy. Und Munition.

Dixie Clay fragte sich, was die Ingenieure über den Damm sagten und wie die Leute das fanden. Der gestrige Sturm hatte Schindeln vom Dach gerissen, die meisten ihrer Töpfe brauchte sie nun zum Auffangen des Wassers. Das Regenröhrchen, das an einem Saugnapf draußen am Küchenfenster hing, war übergeflossen. Mindestens fünfundzwanzig Zentimeter in sechzehn Stunden. Wie schafften die Wolken es, so viel Wasser zu tragen?

Die Straße nach Hobnob war geschrumpft, nur noch eine Schlammzunge zwischen zwei Regenrinnen. Das Land des alten Marvin war immer schon sumpfig gewesen, aber jetzt erreichte das Wasser seine Haustür. Aus dem See seiner Wiese ragten rostige Landmaschinen auf, aufgegeben an dem Tag, als sein Pferd ihn getreten und er von der Landwirtschaft aufs Schnapsbrennen umgesattelt hatte. Es war windstill, der Traktor und die Ballenpresse erhoben sich über ihrem Spiegelbild aus Wasser.

Willy schlief in ihrer Schürze und hatte den Hals unnatürlich gekrümmt. Sie hob seinen Kopf an und legte ihn sich an die Brust. Das Maultier stapfte durch die Pfützen, zu beiden Seiten spiegelten sich die Kumuluswolken am Boden. Über ihrem Kopf berührten sich die Kiefernzweige und verschränkten sich wie die zwei Hälften eines Reißverschlusses. Die Stille nach dem Sturm war auf eine eigene Weise schön. Eine Carolina-Nachtschwalbe rief von einer Kiefer herunter und schoss weiter zur nächsten, wie um mit ihnen Schritt zu halten. Bernadette Capes hatte ihr alles über den Vogel erklärt, und auch, dass die Mutter ihr Nest am Boden baut. Vielleicht erklärte das ihr hektisches Tschilpen: Ihre Jungen waren im zwei Handbreit tiefen Regenwasser ertrunken.

Willy maunzte. Sie beugte sich vor und küsste ihn auf den Kopf. Eines hatte die Krankheit ihr gezeigt: Sie wusste mehr denn je, dass Willy zu ihr gehörte. In den zwölf Tagen mit ihm hatte sie seine Launen, sein Aussehen, seine Gliedmaßen und Gesten kennengelernt, wie man einen Verlobten kennenlernt. Den Geruch seines Kopfes und dass sich seine Haare nach der Wäsche aufplusterten wie Entendaunen. Die weichen Rosenknospen seiner Ohren, die sie ganz mit den Lippen umschloss. Der konzentrierte Blick, wie der eines winzigen Richters, mit dem er in die Windel machte. Der wunde Fleck unter seinen Hoden, den sie mit Vaseline betupfte. Und der angenehm säuerliche Geruch der ausgespuckten Milch, die sie ihm mit einem Waschlappen vom Kinn wischte. Und sogar sein Geschmack: Eines Tages hatte sie Flugzeug mit ihm gespielt und ihn hoch über ihr entzücktes Gesicht gehoben, und da hatte er ihr direkt in den Mund gerülpst. Als sie etwas Bimsstein zerrieb, um Zahnpasta herzustellen, hatte sie zu der Freundin, die sie nicht hatte, gesagt: Du wirst nicht glauben, was mein Baby heute getan hat!

Mein Baby. Mein Baby. Sie liebte seinen Namen, aber Willy konnte ihn jeder nennen. Nur sie konnte sagen: mein Baby. Und obwohl er schon zuvor ihr Baby gewesen war, war er es jetzt umso mehr – nach der durchwachten Nacht mit den Flüchen und Gebeten, dem Weinen und Betteln, nach dem Ausflug an diesen grauenhaften finsteren Ort. Und Ingersoll war die ganze Zeit an ihrer Seite gewesen. Warum war er zu ihr hinausgeritten und hatte ihr geholfen, wenn er sie verhaften und ihr Willy wegnehmen musste? Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Seine Zuneigung zu dem Baby war echt, das spürte sie. In der langen Nacht, als sie die Köpfe im heißen, zischenden Dampf zusammengesteckt hatten, hatte sie gesehen, dass das Wasser, das von seinem Gesicht tropfte, nicht nur Schweiß war.

Chester watete aus dem Schlamm von Seven Hills auf die gepflasterte Broad Street. Jetzt klackerten seine Hufe, anstatt zu platschen. Die Pflastersteine machten den Weg passierbar, aber noch schmaler, weil das Wasser nirgendwohin ablaufen konnte. An der Ecke von Broad Street und Old Barn Road befand sich Doktor Devaneys dreistöckiges Haus mit dem hohen Tor. Das Wasser war an den Hortensien und den Rosenspalieren hochgestiegen und bedeckte den halben Krocketrasen. Ein brusthoher Wall aus Sandsäcken drückte von allen Seiten gegen das Haus, durchgehend bis auf eine Lücke von etwa sechs Metern, wo die Säcke in sich zusammengesunken waren wie erschöpfte Arbeiter. Zwei große Säulenveranden schmückten das Gebäude. Normalerweise saßen die Damen der Anti-Saloon-Liga in den Korbsesseln und nippten am süßen Eistee. Nun waren dort zwei Autos untergestellt, und an einer der Säulen war ein neues Boot festgemacht.

Dixie Clay und Willy bogen von der Broad Street auf die Main ab und stießen auf ein wunderliches Verkehrsgewühl – Pferde, Maultiere und Autos teilten sich die Straßenmitte, während über die Kanäle rechts und links Jungs in Kanus paddelten. Sie stoppte vor Amitys Laden. Weil der Pferdepfosten in einer tiefen Pfütze stand, machte sie Chester am Treppengeländer fest und stieg dann die Stufen hinauf. An der Tür hing ein Schild: Sind bei der Leichenschau, kommen Sie um 15 Uhr auf eine erfrischende Coca-Cola zurück. Dixie Clay legte eine gekrümmte Hand an die Scheibe und sah, dass alle Vitrinen auf Sägeböcken standen.

Durch die geschlossenen Geschäfte und die vielen umhereilenden Menschen hatte sich in der Stadt eine seltsame Festtagsatmosphäre breitgemacht. Dixie Clay ließ Chester vor Amitys Laden stehen und ging zu Fuß weiter. Der Lärm steigerte sich, und als sie an der Buchhandlung um die Ecke bog, sah sie eine große Menschenmenge, die unbeweglich vor dem Denkmal des Konföderiertensoldaten auf der Südseite des Platzes wartete. Nach einer Weile merkte sie, dass die Leute in Viererreihen in einer Schlange standen, die sich langsam vorwärtsschob. An den Seiten trieben sich Straßenhändler herum, auch ein Ballonverkäufer und ein Prediger, der auf einer Orangenkiste stand und aus der Offenbarung zitierte. Hunde jagten kläffend durch die Menge. Ein Schuhputzer schob sein Gerät durch die Reihen. »Zeigen Sie Ihren Respekt vor dem Verstorbenen!«, rief er. »Zehn Cent fürs Polieren! Das ist nur ein Nickel pro Stiefel, Leute!«

Dixie Clay mischte sich unter die Menschen, beide Arme um Willy geschlungen, um Ellenbogenstöße und Zigarrenasche abzuwehren. Sie suchte jemanden, den sie kannte und der ihr erzählen würde, was los war. Sie war zu klein und sah nichts als Schultern und Rücken. Zwei Zwillingsbrüder hockten auf dem blauen Briefkasten vor dem Schreibwarenladen und lutschten Wassereis, und Dixie Clay wünschte sich, der Anstand würde es ihr nicht verbieten, ebenfalls hinaufzuklettern.

»Entschuldigung, Mrs. Holliver«, ertönte es über ihr. Joe Adams, der Bankier, war ihr in die Ferse getreten.

Seine Frau war nicht dabei, wahrscheinlich sprach er nur deswegen mit ihr. Lauren Adams war eine Abstinenzlerin aus Little Rock und so etepetete, dass sie Hühnerbrüste »Busen« nannte. 1925 hatte Joe zum fünfzigsten Geburtstag der Bank heimlich drei Kisten Black Lightning gekauft.

»Was ist passiert?«

»Sie haben es noch nicht gehört?«

Dixie Clay schüttelte den Kopf.

»Jemand hat versucht, den Damm zu sprengen.« Joe wandte sich an den Mann, der vor ihnen stand: »Hey, Ace, hast du was zu rauchen?«, und griff dann nach einer Zigarette.

»Den Damm?«

»Ja, jemand hat versucht, ihn zu sprengen.« Sie wurden von den Leuten hinter ihnen angerempelt.

»Wann?«

»Letzte Nacht.« Die Menge schob sie weiter. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich will meinen Platz in der Schlange nicht verlieren.«

Dixie Clay trippelte vor, während er seine Taschen nach Streichhölzern durchsuchte. »Wer? Wer war das?«

»Das weiß niemand«, sagte er, neigte den Kopf, um sich die Zigarette anzuzünden, und stellte sich dann auf die Zehen, um etwas zu beobachten, was sie nicht sehen konnte.

»Aber hier wird ein Leichnam ausgestellt«, atmete er den Qualm aus.

»Einen Leichnam?« Sie legte ihm eine Hand auf den Ellenbogen, um seine Aufmerksamkeit wiederzugewinnen. »Wo?«

»Bei Hobbs«, sagte er. »Die Leiche liegt da aufgebahrt. Ein Prohibitionsagent hat den Kerl erschossen, als er versuchte, den Sprengstoff zu deponieren.«

»O mein Gott«, sagte Dixie Clay.

»Ja«, sagte Adams und nahm einen weiteren Zug von der Zigarette. »Bloß dass Gott nichts damit zu tun hat. Der Kerl hat einem Deichwächter die Kehle durchgeschnitten und versucht, die ganze Stadt zu fluten.«

Die Menge stieß sie um die Ecke, und plötzlich standen sie vor Hobbs’ Bestattungsinstitut. Adams und die anderen Männer blockierten Dixie Clays Sicht auf die schwarz gekleidete Leiche. Niemand nahm den Hut ab.

»Hässlich«, sagte jemand. »Selbst wenn er noch einen Kiefer hätte, wäre er hässlich.«

»Und fett«, sagte ein anderer.

»So fett, dass er Fußspuren in ausgehärtetem Beton hinterlässt«, sagte Adams, und die Männer lachten. Er schnippte die Zigarette weg. »Zum Glück bin ich kein Sargträger.«

»Den habe ich noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht.«

»Ich auch nicht«, fügte ein Dritter hinzu. »Er sieht nicht aus, als wäre er von hier.«

Dixie Clay hob sich auf die Zehenspitzen, konnte aber nichts erkennen. Über den Köpfen der Männer hingen zwei Schilder im Fenster. Auf dem ersten stand: Die Waschung und Einbalsamierung dieses Leichnams hat vierzehn Dollar gekostet, gespendet vom Bestattungsinstitut Hobbs & Söhne für die Einwohner von Hobnob, damit sie sich ansehen können, wer ihnen Böses antun wollte. Das zweite Schild war gedruckt: »Sollen etwa die Ägypter sagen können: In böser Absicht hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge umzubringen und sie vom Erdboden verschwinden zu lassen? Lass ab von deinem glühenden Zorn und lass dich das Böse reuen, das du deinem Volk antun wolltest.« Exodus 32:12.

Von hinten schob die Menge nach, die Männer stemmten sich dagegen.

»Vier Ladungen Dynamit, sagt man. Zweiunddreißig Stangen«, sagte der Erste.

Der, der Ace genannt wurde, stieß einen Pfiff aus. »Wollte uns wohl ins Himmelreich schicken.«

»Zu schade, dass sein Gesicht kaputt ist«, sagte Adams. »So lässt sich nur schwer herausfinden, wer er ist.«

»War«, sagte der Dritte. »Du meinst, ›wer er war‹, Joe.«

»Wer er war«, sagte Adams. »Natürlich ist er nur ein Handlanger. Die eigentliche Frage ist doch, für wen er gearbeitet hat.«

Der dritte Mann ergriff das Wort. »Sie haben bereits einen Steckbrief rausgegeben. Der Künstler hat ihm ein Kinn gemalt.«

»Zehn Riesen Belohnung, habe ich gehört.«

»Ich habe von zwanzig gehört.«

Die Menge schubste sie. »Weitergehen, da vorn!«, schrie jemand.

Adams gab einen kehligen Laut von sich, und aus der ruckartigen Bewegung seines Rückens schloss Dixie Clay, dass er gegen die Fensterscheibe gespuckt hatte. »In der Hölle sollst du brennen.«

Die Männer gingen langsam weiter, aber bevor sie mitgezogen wurde, flitzte Dixie Clay zum Glas. Zähflüssiger Rotz lief an der Scheibe hinunter, und das Gesicht dahinter erkannte sie sofort wieder, auch ohne Unterkiefer.

Onkel Mookey.

Hatte sie verräterisch gejapst? Das fragte sie sich später. Sie wirbelte herum, lief los und stieß gegen die breite Brust eines Mannes. Willy auf ihrer Schulter wurde kurz zwischen ihren Leibern eingeklemmt, Dixie Clay strauchelte und verlor das Gleichgewicht, aber der Mann streckte blitzschnell den Arm aus, umfasste ihre Schultern und stellte sie auf die Füße zurück. Sie beugte sich über Willy, der wütend schrie.

»Oh, mein Baby, hast du dir wehgetan? Bist du verletzt?«

Willy schob sich zwei Finger in den Mund und fing an, daran zu saugen. Er weinte immer noch, aber leise. Dixie Clay küsste ihn auf die Stirn. »Es tut mir leid, Willy, es tut mir ja so leid.«

Sie legte sich das Baby an die Schulter und fuhr beide Ellenbogen aus. »Hey!«, rief sie, als der Mann sie wie bei einem Tanz herumwirbelte und in die Gasse neben dem Bestattungsinstitut zog. »Hey! Lassen Sie das!«

Sie kam zum Stillstand, presste den Rücken an die Ziegelmauer und warf einen Blick über die Schulter. Wo waren Adams und die anderen? Die Menschenmenge grölte und gestikulierte, niemand hatte ihre Entführung bemerkt. Am hinteren Ende der Gasse pinkelte ein Mann an einen Müllcontainer. Hastig schüttelte er die letzten Tropfen ab und verschwand dann um die Ecke.

Dixie Clay musterte den Mann, der sie mitgezerrt hatte. Er war groß, und seine rotblonden, teilweise ergrauten Barthaare waren so dick wie die Borsten eines Schweins. Der orangefarbene Backenbart wirkte an den rosa Wangen fast schon komisch, aber die grauen Augen dazwischen waren ernst.

»Ich weiß, wer Sie sind«, knurrte er.

»Aber ich kenne Sie nicht.«

»Ich weiß, was Sie tun.« Er kam näher heran.

»Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie …«

»Halten Sie den Mund. Ihretwegen wurde ein Mensch erschossen«, sagte er und deutete auf das Beerdigungsinstitut. »Ich habe ihn erschossen. Ich habe ihn getötet, und jetzt können wir ihn nicht befragen und auch nicht herausfinden, für wen er gearbeitet hat. Er wurde Ihretwegen erschossen, wegen dieses Babys, das mein Partner Ihnen gebracht hat. Nur euretwegen hat er seinen Posten verlassen.«

»Ihr Partner? Ihr Partner ist … Ingersoll?«

»Ja. Wobei sein Verhalten wenig partnerschaftlich war, nicht wahr, als er mich auf dem Damm hat stehen lassen und zu Ihnen geritten ist.«

Dixie Clay hatte Mühe, die Puzzleteile zusammenzufügen. Ingersolls Partner hieß Ham, und Ham war der Agent, der Onkel Mookey erschossen hatte. Letzte Nacht. Während Ingersoll bei ihr war.

»Und ich habe Sie gerade beobachtet, Missy. Ich habe Sie sehr genau beobachtet. Ich habe gesehen, wie Sie auf den toten Saboteur reagiert haben, und ich habe das Gefühl, dass Sie ihn kennen.« Hams Blicke waren wie Zinnnägel, die sie an die Ziegelmauer drückten. »Und dass Sie mir was zu erzählen haben.«

Wahrscheinlich wusste Ham, dass sie eine Schwarzbrennerin war. Würde er sie verhaften? Willy zappelte herum, sie drückte ihn an sich.

Der Mann trat vor, bis sein Gesicht dicht vor ihrem war und vor dem Baby an ihrer Brust. »Sag es mir«, sagte Ham. »Verdammt, sag mir, wer er ist.«

Nur zehn Meter weiter drängten sich die Leute. Wenn sie jetzt schrie, würde man sie hören, aber da legte der Mann seine Hand bedrohlich nah an die Mauer hinter ihrem Kopf. Nun war ihr Fluchtweg abgeschnitten.

»Ich weiß nichts«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wer das ist. Ich weiß von nichts.«

Sein Blick schien sie zu durchbohren. Dixie Clay ertrug es mit vorgerecktem Kinn. Am Ende der Gasse blieb jemand stehen, warf einen kurzen Blick herüber und ging dann weiter. Das Baby hustete.

Für eine lange Minute bewegten sich weder Ham noch sie. Eine Ratte huschte durch die Gasse, es stank nach verfaultem Gemüse. Schließlich ließ der Mann den Arm sinken und trat zurück. Auf einmal wirkten seine Züge weich, fast einfältig. Er schürzte die Lippen, und plötzlich nahm sie nur noch seine teigigen Wangen wahr und nicht mehr seinen bohrenden Blick. Es war, als würde jemand an einer Gummimaske ziehen.

»Tja, dann«, sagte er und strich sich mit einer Hand über die Koteletten. »Das ist deine Version, hm? Du weißt von nichts.«

Er kratzte sich den Bart und drehte sich zur Straße um. Er schien zu schrumpfen. Sein Brustkorb war immer noch breit, aber sein Gang bekam etwas Schlurfendes, als wäre er ein Mann ohne Zugriff auf die eigene Macht. Er ging an dem aufgemalten Wandbild vorbei, das für Pinkhams medizinische Tinktur warb.

»Wer sind Sie wirklich?«, rief sie ihm hinterher. Sie hatte das gar nicht fragen wollen.

Er hielt inne, mit dem Rücken zu ihr. »Was hat Ingersoll gesagt, wer ich bin?« Er drehte sich um und wartete auf eine Antwort.

»Nichts.«

»Nichts? Gar nichts?«

»Doch, etwas hat er erzählt. Wir haben eine Eule schreien hören, und da hat er gesagt, Sie könnten Eulen nicht leiden.«

»Eulen«, schnaubte er. »Nein, ich kann Eulen nicht leiden.«

»Er sagte, Sie hätten aber nie verraten, warum.«

»Weil sie ein schlechtes Omen sind. Wenn man eine Eule rufen hört, wird etwas Schlimmes passieren.«

»Das Schlimme ist bereits passiert. Mein Baby hatte eine Lungenentzündung und wäre fast gestorben. Und ein Mensch« – sie nickte zum Bestattungsinstitut hinüber – »wurde erschossen.«

Er schwieg, bis sie glaubte, er würde nicht mehr antworten. Er wandte sich wieder der Straße zu und sprach mit der Gasse. »Du weißt nicht, was schlimm ist«, sagte er im Weggehen. »Du hast ja keine Ahnung.«