14

KAPITEL

Die Hafermehlbüchse rutschte Dixie Clay aus den zitternden Händen. Sie holte weit mit dem Arm aus, um sie aufzufangen, und wäre dabei fast vom Küchenhocker gefallen. Sie klammerte sich an das Regal, hing sekundenlang keuchend da und kletterte dann zu Boden, wo sie die Dollarscheine mit beiden Händen einsammelte und tief in ihren Sackleinenbeutel stopfte. Sie machte sich nicht die Mühe, es zu zählen, aber es war eine Menge Geld. Wohin immer sie auch fliehen würden, sie würde es brauchen.

»Willy!«, rief sie. »Es dauert nicht mehr lang, ich bin gleich wieder da!« Ihre Stimme bebte. Sie hatte ihn auf das Bett gelegt und ertrug es kaum, sich von ihm zu entfernen, aber sie hatte keine Zeit, nach ihm zu sehen, nicht jetzt.

Nachdem sie Ham losgeworden war, hatte Dixie Clay die Gasse fluchtartig verlassen, Chester geholt und nicht einmal mehr auf Amity gewartet. Während sie Chester antrieb, kombinierte sie alles, was sie erfahren hatte. Seit Onkel Mookey vor zwei Jahren versucht hatte, sie zu küssen, und dann im Wald verschwunden war, hatte sie nie wieder von ihm gehört. Sie hatte sich gefragt, was aus ihm geworden war, hatte aber nicht den Mut gehabt zu fragen. Sie erinnerte sich an den Zorn in Jesses Gesicht, als er die Winchester von dem Gestell neben der Tür gehoben und sich auf den Weg zur Destille gemacht hatte.

Doch anscheinend war Onkel Mookey nicht von Jesse umgebracht worden. Er hatte gelebt, bis gestern Abend. Bis er erschossen worden war, weil er Dynamit auf dem Damm verteilen wollte. Sie hatte nie ganz verstanden, wie viel Mookey eigentlich verstand, aber dass er so einen Plan aushecken könnte, hätte sie ihm keine Sekunde lang zugetraut.

Aber Jesse schon.

Sie versuchte, die Einsicht zu leugnen. Sicherlich hatte Jesse nicht im Ernst vor, die Stadt, seine Freunde und seine Ehefrau in die Luft zu jagen. Auch Sugar Hill lag nicht besonders hoch – wollte er tatsächlich seine Brennerei überfluten, seine Destille, die ihn reich gemacht hatte?

Doch anscheinend war er drauf und dran, alles hinzuschmeißen. Er hatte oft angedeutet, dass die Prohibition bald enden könnte. Natürlich war es noch nicht so weit, sicherlich gab es noch viel Geld zu verdienen. Sie erinnerte sich an einen Satz von ihm:

»Ein letzter großer Coup.« Und er hatte noch etwas gesagt: »Ich sollte an einem Ort leben, der besser zu mir und meinen Zielen passt.« Und: »Ich könnte ein völlig anderer Mensch sein, weißt du.«

Er wollte sein Haus überfluten und seine Destille. Er wollte nach New Orleans, das begriff sie jetzt. Die Telefonate, die vielen Telegramme. Sein Besuch bei den Bankiers in New Orleans, die Jesse gebeten hatten, ihr Anliegen der Deichkommission von Hobnob vorzutragen. Nachdem der Rat die fünfzigtausend Dollar abgelehnt hatte, war Jesse aber weiterhin zu den Bankiers gefahren. Ganz heimlich, und nie hatte er einen seiner Arbeiter mitgenommen. Sie wusste es nur wegen des Etiketts an seinem Hut, das den Namen eines Herrenausstatters im French Quarter trug, und wegen der Cashewnüsse in einer Papiertüte von DeSalvo’s Delikatessen in der Pirate’s Alley.

O mein Gott, Jesse hat einen Handel mit den Bankiers abgeschlossen.

Deswegen hatte er überall herumgetönt, er sei ein Aussitzer. Es war seine Tarnung.

Er wird die Stadt fluten und uns alle sterben lassen, und die Brennerei und die toten Prohibitionsagenten werden weggespült, alle Beweise für seine Verbrechen.

Sie trat Chester in die Seiten, er schnaubte überrascht, sie entschuldigte sich sofort. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause, um das Geld und das Gewehr einzupacken. Sie und Willy könnten sich im Wald verstecken. Sie besaß kein Zelt, aber sie würde eine Höhle finden oder irgendeine andere Möglichkeit, Willy trocken zu halten. Sie würden die Straßen meiden. Sie würden in eine fremde Stadt gehen, einen neuen Namen annehmen, sich die Haare schneiden lassen. Sie könnte Willy als Mädchen verkleiden und behaupten, ihr Mann sei beim Aufschichten der Sandsäcke in den Fluss gefallen und ertrunken. Oh, und vor ihrer Flucht würde sie die Polizei verständigen und Hobnob warnen. Allerdings konnte sie Captain Trudo nicht einfach anrufen, womöglich steckte er mit Jesse unter einer Decke … 

Gott sei Dank, da war das dunkle Haus. Sie rutschte von Chester ab, noch bevor er völlig angehalten hatte, und sie machte ihn nicht fest, sondern rannte mit Willy ins Haus.

Sie hatte das Geld … wo war die Munition? Wo? In Jesses Nachtschrank. Sie rannte ins Schlafzimmer und zog die Schublade heraus, die unverpackten Patronen kullerten darin herum, und ihre zitternden Finger konnten sie nicht greifen, also zog sie die ganze Schublade heraus und leerte sie über dem Sackleinenbeutel aus.

Sie drehte sich um und suchte nach ihrem Mantel, und da sah sie Scheinwerferlicht über das regenverschwommene Fenster fegen. O mein Gott. Sie ließ den Mantel hängen, schaufelte Willy aus dem Bett und rannte zur Hintertür, als die Vordertür aufgerissen wurde. Sie schleuderte den Beutel in die Speisekammer.

»Hure«, knurrte Jesse.

Sie erstarrte und drehte sich langsam um, Willys Körper wie ein Bündel an ihrer Brust, die sich hob und senkte.

Jesse trug den langen Kamelhaarmantel, von dem das Wasser tropfte wie aus einer Regenrinne, und darunter einen beigegrauen Anzug mit lachsfarbener Krawatte. Seltsamerweise baumelte an seiner Brust eine Perlenkette in Opernlänge. Er stützte sich auf den Türknauf, an dem er eben noch gerissen hatte, und schien ein wenig außer Atem zu sein. Über seine Schulter konnte sie den Ford sehen, dessen Scheinwerferlicht Diamanten aus dem Regen schürfte. Ein Wetterleuchten erhellte die Szene wie die Blitzleiste eines Fotografen: Da saß noch jemand im Auto. Jesse nahm die Hand von der Tür, wischte sich über den Mund und stolperte ein paar Schritte in den Raum. Oje, er war betrunken.

»Hure«, sagte er noch einmal und ging auf sie zu. »Du dreckige Hure. Hassdu …« – die Worte flossen zu einer einzigen Silbe zusammen – »hast du gedacht, ich würde es nicht erfahren? Mit einem gottverdammten Prohibitionsagenten? Du gottverdammte Idiotin.«

»Ich wusste nicht, dass …«

Seine Hand krallte sich in den Zopf, der ihr über die Schulter fiel. Er drehte die Faust, um ihn aufzuwickeln, und zog sie mit einem Ruck an seine Brust. Sein Atem roch nach Whiskey.

»Hier in meinem Haus? Wo ich meine Geschäfte mache? Hier machst du die Beine breit und …«

»Nein«, unterbrach sie ihn. Jesses Speichel spritzte ihr ins Gesicht. Dann wusste er also, dass Ingersoll hier gewesen war. Sie musste verschwinden, bevor Jesse auch noch hörte, dass sie von Mookey und dem Sprengstoff wusste. Sie musste irgendwie versuchen, ihm zu entkommen.

»Halts Maul, du …«

»Jesse, Baby«, flötete eine hohe Stimme, und sie drehten sich beide zur Tür um, wo eine große Blondine kokett einen umgeklappten Regenschirm schwenkte. Dixie Clay hatte die Flapper in der McCall’s gesehen, einmal auch ein paar in der Stadt – aber nie aus dieser Nähe, nie in ihrer ganzen atemberaubenden Schönheit. Die Frau trug ein schwarzes, mit Glasperlen besetztes Kleid, tief auf den Hüften gegürtet.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst im Auto warten.«

»Mir ist langweilig, Jesse-Baby.« Ihre Stimme klang schmollend und mädchenhaft. »Lass uns das Geld nehmen und weiterfahren. Oh …« – sie tat so, als bemerke sie Dixie Clay zum ersten Mal – »ist das diejenige, welche, wie heißt sie noch … Dipsie Dirt?«

Die Frau ließ den Regenschirm neben den Garderobenständer fallen und stolzierte, ein wenig schwankend, auf Dixie Clay zu. Während sie Dixie Clay abschätzend musterte, musterte Dixie Clay sie trotzig zurück. Das Kleid der Frau endete kurz über dem Knie, sie trug hautfarbene Strümpfe, die sich heruntergerollt hatten. Ihre Kniescheiben waren entblößt und für jedermann zu sehen. Die Galoschen an ihren Füßen waren offen. Sie trug drei Goldreifen an jedem Arm, und an ihrem Handgelenk baumelte eine kleine perlenbesetzte Tasche. Ihr eng anliegender schwarzer Glockenhut hatte eine Strassspange, das champagnerfarbene Haar bedeckte gerade einmal ihre Ohren und kringelte sich auf den Wangen wie die Hörner eines Widders. Sie trug zwei Perlenketten, die zu der um Jesses Hals passten. Sie umkreiste das seltsame Trio. Dixie Clay stand über Jesses Faust gebeugt, Willy an ihrer Schulter saugte an seinem Handgelenk.

Die Frau blieb stehen und schaute auf Dixie Clay hinunter, Dixie Clay sah zu ihr auf. In den Augenfältchen der Fremden hatte sich Puder gesammelt – offenbar war sie nicht nur größer, sondern auch älter als Jesse. Mindestens dreißig. Sie trug roten Lippenstift, ihre grünen Augen waren verengt, und sie neigte den Kopf, beugte sich dicht zu Dixie Clay hinunter und atmete tief ein. Ganz kurz dachte Dixie Clay, die Frau wolle sie küssen, aber dann versengte ein Blitzschlag ihre Wange. Eine Ohrfeige.

»Du stinkst wie der dreckige Fluss«, sagte die Frau. Willy begann zu weinen, erschrocken von dem Knall oder weil Dixie Clay ihn zu fest hielt.

Die Frau wandte sich an Jesse. »Diese graue Maus? Dieser Trampel hat dich betrogen?« Sie lachte glockenhell, es klang wie eine Spielzeugpistole, und Dixie Clay konnte roten Lippenstift auf ihren Zähnen sehen. Das Lachen verebbte zu einem Hüsteln. Die Frau öffnete ihre Handtasche, holte ein Päckchen Chesterfields heraus und wollte eine Zigarette herausschütteln. Sie landete auf dem Boden, was sie aber nicht zu bemerken schien. Ebenfalls betrunken, dachte Dixie Clay. So betrunken wie Jesse.

Jesse lockerte den Zug an ihrem Zopf, sie drehte den Kopf und sah sein Profil. Die Lippen unter seinem Schnurrbart kräuselten sich heiter, ebenso die Fältchen an seinem wässrig grünen Auge, dessen Pupille geschrumpft aussah, erbsengleich. Vielleicht war er nicht bloß betrunken.

»Jeannette«, seufzte er. »Jeannette.«

Sie schob sich mit roten Fingernägeln eine Zigarette zwischen die roten Lippen und richtete ihren Blick auf Jesse. Er griff in seine Manteltasche und holte eine feuchte Streichholzschachtel heraus. Er betrachtete sie verwirrt.

»Ach, verdammt«, sagte sie, griff in ihre baumelnde Handtasche, zog ein Feuerzeug heraus, schnippte den Deckel auf – ein kleines Klingeln ertönte –, ratschte eine Flamme ins Leben und hielt sie an die Chesterfield. Sie atmete tief ein, hielt die Zigarette auf Armeslänge von sich und sagte: »Ein Mann muss mir mehr bieten als das.«

Willy weinte immer noch, Dixie Clay hielt ihn sich an die brennende Wange wie einen Wickel. Draußen tobte der Sturm ums Haus, und drinnen braute sich ebenfalls einer zusammen. Die Atmosphäre knisterte bedrohlich. Draußen wäre es sicherer. Wenn sie sich nur losmachen und mit Willy durch die Hintertür entkommen könnte. In den windgepeitschten Wäldern würden die beiden sie niemals finden. Jesse schien sehr auf die Tatsache konzentriert, dass Ingersoll sie besucht hatte. Er war schon immer eifersüchtig gewesen, aber in diesem Ausmaß war ihr sein Zorn neu.

Er braucht eine Ausrede, damit er mich umbringen kann, dachte sie plötzlich.

Jeannette schob sich wieder die Zigarette zwischen die Lippen, zog daran, ließ sie auf den Teppich fallen und trat sie mit den Galoschen aus. Sie klatschte in die Hände und streckte die Arme aus: »Lass mich das Baby sehen.«

»Nein.« Dixie Clays Antwort kam so reflexhaft, wie ein Mensch das Bein streckt, wenn der Arzt die Kniescheibe trifft. Sie umarmte Willy noch fester.

»Was?«

»Er weint.« Als könnte die Frau das nicht hören.

»Ich würde auch weinen, wenn meine Mama eine Hure wäre.«

Die Frau streckte die Hand aus und wedelte mit dem Zeige- und Mittelfinger vor Willys Gesicht herum. Er beobachtete verzückt die roten Nägel, sein Weinen verebbte. Sie setzte die Finger auf Willys linkes Handgelenk, wanderte an seinem Arm in die Höhe und sang: »Deine Mama ist ein dreckiges Stück, dreckiges Stück, dreckiges Stück, deine Mama ist ein dreckiges Stück und macht die Beine breit!« Die roten Nägel waren an der kleinen Speckrolle angekommen, die sich aus seiner Achselhöhle wölbte, und drückten zu, als wäre Willy ein Brotteig. »Hmm«, sagte sie.

Jeannette griff nach Willy. Dixie Clay wollte sich wegdrehen, aber Jesse riss sie an den Haaren zurück, was ihn zu erregen schien. Wie ein blinder Esel, der in einer Ackerfurche feststeckt, knurrte er: »In meinem Haus!« Sein Gesicht war gerötet. »In meinem Bett!«

»Jesse«, sagte Jeannette, »fühl mal, so weich.«

»Jesse, Willy war krank und brauchte einen Arzt …«

»Jesse«, sagte die Frau, rückte an Dixie Clay heran und streichelte Willys Füße. »Sehen seine Zehen nicht aus wie kleine, süße Erbsen?«

»Also ist jetzt das gottverdammte Baby schuld, oder was?«, sagte Jesse.

»Nein, nein«, sagte Dixie Clay über Willys Schreie hinweg. »Jesse, bitte!« Sie versuchte, den Kopf zu drehen und Blickkontakt mit Jesse aufzunehmen. »Als Ingersoll …«

»Du sprichst seinen verdammten Namen aus?«

»Jesse«, sagte Dixie Clay. Sie wünschte sich, er würde sie ansehen. Konnten seine verschiedenfarbigen Augen Dixie Clay Murchinson aus Pine Grove, Alabama, nicht mehr erkennen?

Die Frau sank auf den Teppich, auf nackten Knien. Jesse sah auf sie hinab und schnurrte: »Jeannette, Jeannette, Jeannette.« Mit der freien Hand zog er eine Flasche aus der Tasche, steckte sie sich in seinen Mund und drehte sie, um den Verschluss zu öffnen. Whiskey spritzte auf seine Krawatte und auf Jeannettes Schulter, die es nicht zu bemerken schien. Er spuckte den Verschluss aus. »Verflucht«, sagte er und tupfte sich mit der Krawatte Schnurrbart und Kinn ab.

Sein Gesicht sah wächsern aus, und seine Hand wanderte zu dem langen Perlenstrang an seiner Brust, den er anhob und wieder fallen ließ. Dixie Clay hatte das Gefühl, diesen Mann nie zuvor gesehen zu haben. Was in gewisser Hinsicht auch stimmte. Denn obwohl sie wusste, dass er schlimme Dinge getan und vielleicht sogar die beiden Agenten ermordet hatte, hätte sie nie gedacht, dass er in der Lage wäre, seine Stadt zu überfluten. Nein, sie kannte diesen Mann nicht.

Jeannette griff nach Willys großem Zeh. »Dieses kleine Schweinchen geht auf den Markt«, sang sie kichernd, und dann: »Dieses kleine Schweinchen bleibt zu Hause, dieses kleine Schweinchen mag Roastbeef.« Dixie Clay spürte, wie Jesses Faust ihren Zopf losließ, und im selben Moment wäre sie geflüchtet, hätte Jeannette da nicht Willys kleinen Zeh verdreht. Dixie Clay ruckte zurück und verlor das Gleichgewicht, ihre Beine gaben nach. Sie kam hart auf dem Hintern auf und prallte vom Boden ab, schaffte es aber, sich Willy an die Brust zu drücken.

Jeannette rief: »Und dieses Schweinchen quiekt den ganzen Weg nach Haus!«, und kreischte vor Lachen.

Auch Willy kreischte – es war ein Laut, den sie nie gehört hatte und den kein Baby je von sich geben sollte. Dixie Clay hob seinen Fuß an und sah, dass Jeannettes Fingernägel blaue Halbmonde hineingedrückt hatten, die wie Klammern über dem Zehenballen saßen. Tränen schossen ihm in die Augen, er starrte sie schockiert an: Konnte mir das in deinen Armen passieren?

»Du bist verrückt!«, schrie sie Jeannette an. »Raus hier! Lass ihn in Ruhe!«

Jeannette hörte abrupt auf zu lachen und richtete sich im Knien auf. »Jesse, Baby«, sagte sie und legte den Kopf mit dem Glockenhut schief. »Hast du gehört, wie sie mich genannt hat? Diese Hure von Ehefrau. Verrückt hat sie mich genannt. Jesse, du weißt doch, wie ich mich dann fühle.«

Dixie Clay wand sich und versuchte, mit dem Baby im Arm auf die Beine zu kommen. Jesse stürzte sich auf sie, schlang einen Arm um ihre Taille und riss sie wieder auf die Knie. Sie versuchte, den Sturz mit der linken Hand abzufangen und nicht auf Willy zu landen, trotzdem spürte sie, wie etwas barst.

»Du wirst dem Baby wehtun«, schniefte Jeannette. »Du verdienst kein Baby.«

Dixie Clay dachte an das große Messer in der Küche, an die Winchester im Waffenständer an der Tür. An Ingersoll.

»Gib mir das Baby«, sagte Jeannette. »Jesse, Baby, ich will das Baby.« Ungeschickt schwang sie einen Arm auf den Couchtisch und zog sich auf die Füße.

»Hure von einer Ehefrau«, wiederholte Jesse und rammte ihr einen Ellenbogen zwischen die Schulterblätter. Der Schmerz schoss aus ihrem linken Handgelenk bis hinauf in den Arm. Sie fiel auf die Seite und drückte Willy mit der rechten Hand an sich. Jesse packte ihre Hand und bog die Finger zurück, bis Dixie Clay fürchtete, sie könnten brechen, und im nächsten Moment war Jeannette vor ihr und wand Willy aus ihrem Arm, und Jesse stürzte sich auf sie und drückte ihre Arme zu Boden, und dann entdeckte er die geöffnete Speisekammer und den Sackleinenbeutel auf der Schwelle. Und daneben die leere Hafermehlbüchse.

»Was ist das? Was hast du getan, du kleine …« Jesse stolperte zur Speisekammer, lehnte sich mit einer Schulter in den Türrahmen und bückte sich nach dem Sack. Er schüttelte ihn, die Patronen klirrten.

Bitte, lieber Gott, er soll den Sack einfach fallen lassen, dachte Dixie Clay und versuchte, Jesse abzulenken, indem sie sich in die Höhe stemmte. »Jesse, ich bin ja so froh, dass du nach Hause gekommen bist, ich …«

Aber Jesse hob eine Ecke des Sacks an, und heraus fielen die Patronen und die zerknitterten Dollarscheine und noch ein paar andere Sachen aus seiner Schreibtischschublade – ein Stift, rote Pokerchips und ein Reifendruckmessgerät, und alles fiel klappernd zu Boden. Er stand da und sah sie an, den entleerten Beutel in der Hand, und dann sprang er auf sie zu, zog ein Bein zurück und trat sie mit aller Kraft. Sie hörte ihre Rippen knirschen, die Luft entwich aus ihrem Brustkorb, und ihr Gesicht kam hart auf dem Boden auf.

»Dem armen Baby ist kalt«, sagte Jeannette, hielt sich den immer noch brüllenden Willy dicht vors Gesicht und rümpfte die Nase. »Jesse, hast du nicht gesagt, er ist ein Waisenkind?«

Jesse gab Dixie Clay einen weiteren Tritt. Sie versuchte, von ihm wegzukriechen.

»Hure!«, schrie Jesse. »Verräterin!« Jesse trat Dixie Clay ein drittes Mal, sein Stiefel traf ihre Schulter, und ihre Arme knickten ein.

»Vielleicht könnte ich deine neue Mama sein«, sagte Jeannette zu Willy.

Jesse zog Dixie Clay an ihrem Zopf auf die Beine. »Du wolltest mich wohl sitzen lassen. Und mich bestehlen.«

»Wie wäre das?«, fuhr Jeannette fort. »Hm?«

Jesse schleifte Dixie Clay in die Küche, stieß sie auf einen Stuhl, stemmte ihr einen Stiefel in den Bauch und angelte nach der Wäscheleine über der Spüle. Als er den Arm danach reckte, verfing sich die Halskette an der Stuhllehne, straffte sich und explodierte zu einem Schauer aus springenden Perlen.

Jeannette war ihnen mit Willy gefolgt. »Oje! Die gehört Mama! Jesse, jetzt musst du mir eine neue kaufen!«

Jesse antwortete nicht und bog Dixie Clay die Arme hinter den Rücken. Sie schrie auf, als er ihr linkes Handgelenk verdrehte und ihre Hände mit der Wäscheleine fesselte.

»Du hast wohl gedacht, du könntest einfach abhauen! Undankbare Schlampe!«

Vor dem Fenster zuckte ein Blitz, und auf einmal fühlte Dixie Clay sich wie in einem Kinofilm. Wie in einer Horrorshow. Warum spielte niemand Klavier, warum schaltete niemand das Licht ein, warum war der Film von der Spule gerutscht?

Die Frau setzte Willy auf den Küchentresen und klatschte seine Hände zusammen und sang: »Ei-ne neu-e! Ei-ne neu-e! Ei-ne neu-e!« Willy schniefte, aber das Klatschen fand er interessant. Er beruhigte sich. Jeannette ließ seine Hände los, und so saß er auf der Tresenkante, während sie das Bein hinaufschwang, einen silbernen Flachmann aus dem Strumpfband zog, ihn aufschraubte, den Kopf in den Nacken legte und trank.

Willy konnte nur eine kurze Zeit allein sitzen. Er würde fallen und sich den Kopf aufschlagen. Dixie Clay verdrehte den Kopf: »Jesse, bitte, komm zur Besinnung.« Er atmete schwer in ihrem Rücken, verknotete die Leine und richtete sich auf. Noch vor fast einem Monat hatte der Prohibitionsagent ihn genau so an einen Stuhl gefesselt. Wenn sie ihn doch nur erschossen hätten. Wenn sie es doch nur zugelassen hätte.

»Jeannette«, sagte er. »Hol das Geld.«

Er blieb am Stuhlbein hängen, stolperte und schlitterte über die Perlen und den regennassen Boden, fing sich aber wieder. »Jesse«, sagte sie noch einmal, aber er drehte sich nicht um. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Irgendwas ist außer Kontrolle geraten.

Jeannette kam aus dem Schlafzimmer zurück in die Küche und stopfte sich die gerollten Dollarscheine in die Handtasche. Es war mehr Geld, als Dixie Clay je gesehen hatte – sie fragte sich, wo es versteckt gewesen war. Die Bündel wurden von Gummibändern zusammengehalten, mehrere fielen zu Boden, und als Jeannette sich bückte, um sie aufzulesen, fielen die in ihrer offenen Tasche wieder heraus.

»Gib her«, sagte Jesse, bückte sich, sammelte die Rollen auf und steckte sie ein. Jeannette wandte sich an Willy auf dem Tresen, stellte die Flasche ab und nahm ihn hoch.

»Dem Baby ist kalt!«, rief sie. »Dipsie Dirt fehlt wohl der Mutterinstinkt.«

Jesse richtete sich mühevoll auf, ging mit ausgebeulten Taschen zur Abstellkammer und hielt vor der Nische inne, wo das Bügelbrett hing. Er hob es an und ließ es mit einem Klappern fallen.

Jeannette hielt sich das Baby vors Gesicht und küsste seinen Hals. »Du schmeckst so gut. Wie ein Baby!«

Jesse kehrte ihnen den Rücken zu und hantierte am Schaltkasten für die elektrischen Leitungen herum. Vor Dixie Clays Augen warf Jeannette Willy in die Höhe und fing ihn wieder. Willy starrte auf ihre rot bemalten Lippen und streckte die Ärmchen danach aus. »Luftkuss!«, sagte sie, ruckelte mit dem Kopf und prustete in die zarte Mitte seiner Handfläche. Wenn sie den Kopf hob, zog er die Hand weg und schlug sie ihr dann wieder an den Mund, um sich weiter liebkosen zu lassen. Sein Lachen klang wie ein Schluckauf.

»Sieh mal«, sagte sie. »Er liebt mich!« Sie prustete immer wieder in seine Hand, und jedes Mal stieß er dasselbe Geräusch aus, einen zweisilbigen fröhlichen Schluckauf. »Jesse, er liebt mich.«

Jesse jubelte, die Klappe des Schaltkastens schwang auf.

»Jesse, du hast gesagt, dass wir später ein Baby bekommen könnten.«

»Klar doch, Baby. Aber nicht jetzt.« Jesse steckte den Arm in den Kasten, immer tiefer.

»Aber vielleicht kann ich das auf natürlichem Wege nicht mehr … nach der Operation. Du weißt doch, was der Arzt gesagt hat. Lass mich das hier behalten. Er mag mich. Siehst du?« Wieder prustete sie in Willys Hand, und wieder gurgelte er und streckte die Arme aus.

Jesse presste Schulter und Wange gegen die Wand. »Unmöglich. Du weißt, wohin wir als Nächstes fahren … Oh! Ich glaube, ich habe es gefunden.«

»Wir nehmen ihn mit!«

»Liebling, das geht nicht. Jetzt, da Mookey tot ist, muss ich mich ranhalten. Warte … ich habs!« Jesse schrie auf, ein lang gezogenes Sauggeräusch war zu hören, und als er den Arm aus dem Kasten zog, hielt er etwas in der Hand, das aussah wie ein Bücherpaket mit einem langen Schwanz aus Klebeband.

»Er ist so süß. Eine Schande, dass er sterben muss.«

Dixie Clay stöhnte auf, ein Wehklagen, was Jesse daran erinnerte, dass sie auch noch da war.

»Halts Maul!«, schrie er, und dann drehte er sich um und schrie Jeannette ebenfalls an. »Du hättest im verdammten Auto warten sollen!«

»Spielt doch keine Rolle, was sie weiß. Was kümmert es uns. Bei Sonnenaufgang ist sie tot.«

Jesse hob sich das Paket an den Mund, biss hinein und zerrte das Klebeband mit den Zähnen ab, und heraus fielen weitere Dollarbündel. Bei dem Anblick lachte er.

Jeannette setzte Willy auf den Boden, hob Dixie Clays Weidenkorb vom Tresen und trug ihn zu Jesse, der jetzt vor dem Geld kniete. Er harkte die Päckchen mit den Händen zusammen und warf sie in den Korb. »Wir sollten ihn mitnehmen«, sagte Jeannette. »Wenn wir in New Orleans sind, können wir sagen, wir hätten ihn vor der Flut gerettet. Denk mal daran, wie gut das in deiner Wahlkampfrede klingen würde. Du wirst ein Held sein. Ein Baby vor einer Flut zu retten! Und wenn wir dann verheiratet sind, können wir ihn ganz offiziell adoptieren.«

Er hielt inne und lächelte schief, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, kein Baby. Zu kompliziert.«

»Ich könnte ihn nehmen und nach Greenville fahren. Daddy hat mir so viele Fahrstunden bezahlt, da will ich doch zeigen, was ich gelernt habe, hm? Du kriegst Burls Auto, und wir treffen uns dort.«

Jesse schüttelte nur den Kopf und griff nach einem weiteren Geldbündel.

Jeannette trat hinter ihn und schlang ihm beide Arme um den Hals. »Bitte! Bittebittebitte!«, flötete sie ihm ins Ohr. »Ich werde gaanz, gaaanz dankbar sein.«

Jesse ließ den Kopf an ihre Schulter sinken.

»Du weißt, dass man mir nichts abschlagen kann«, gurrte sie und schnüffelte an seinem Hals.

Er wandte sich benommen lächelnd ab und hob ungelenk die Hand, um die Spitzen seines zerknitterten Schnurrbarts in die Höhe zu schnippen. »Nein, ich kann dir nichts abschlagen.«

Jeannette sprang in die Luft, klatschte in die Hände und stürzte sich auf Willy.

Dixie Clay schrie: »Du kannst ihn nicht haben! Er gehört mir … du bist ja verrückt … du …«

Beide bauten sich bedrohlich vor ihr auf.

»Ich rette dieses Baby«, kreischte Jeannette. »Wenn ich nicht wäre, würde es hier mit dir sterben …«

Jesse trat vor und nahm Dixie Clay den Blick auf Willy. »Du weißt ja nicht mal, was ich jetzt tun werde. Was ich tun muss, um hier rauszukommen. Einen gottverdammten Prohibitionsagenten zu ficken, in meiner Destille!« Er hob die gusseiserne Pfanne aus dem Waschbecken und zischte: »Du hast ja keine Ahnung.«

Er schlug ihr die Pfanne gegen den Schädel, der Stuhl krachte zu Boden, und das Letzte, was Dixie Clay sah, war eine Perle, die in die Dunkelheit davonkullerte.