8
KAPITEL
»Du bist mein bester Freund.«
Seltsam, so etwas zu einem Baby zu sagen, aber genau das sagte Dixie Clay zu Willy. Sie hatte ihn nun seit fünf Tagen. Willy lag auf der Kuscheldecke zwischen ihren ausgestreckten Beinen. Sie hob die rechte Hand und wackelte mit den Fingern, und er schaute entzückt zu, und dann stieß sie ein helles Glucksen aus, das stetig lauter wurde, während ihre Finger sich seinem kleinen Kinn näherten und ihn schließlich kitzelten. »Du Süßer«, säuselte Dixie Clay. »Du süßer, süßer Kleiner.« Er konnte es kaum ertragen, zog die Knie an die Brust und schnaufte vor Glück. Nach einem Dutzend oder mehr Runden schaute er zur Seite statt auf ihre wackelnden Finger, was bedeutete, dass er müde wurde. Sie nahm ihn hoch. Normalerweise versteifte sich dabei sein ganzer Rücken, so angestrengt versuchte er, den großen Kopf auf dem spindeldürren Hals zu halten, aber nun ließ er sich mit einem kleinen Seufzer an ihre Schulter sinken. Sie lernte ihn immer besser kennen. Er unterrichtete sie. Erstaunlich, dachte sie, denn bislang hatten sie ja noch nicht einmal ein Wort gewechselt.
Als es Zeit wurde, ihn zu füttern, tat sie auch das auf der großen Kuscheldecke, die inzwischen dringend einmal gewaschen werden müsste. Am liebsten hätte Dixie Clay einen Hochstuhl aus dem Sears-Katalog bestellt. Überhaupt hatte sie im Sears-Katalog viele Artikel gesehen, die sie gern kaufen würde. Sie hätte genug Geld. Beziehungsweise gehörte es Jesse, doch sie hatte es für ihn verdient. In Gedanken richtete sie Zimmer ein, eines davon für Willy. Doch ihre Träumereien waren gefährlich; Jesse kam darin nicht vor.
Nachdem Willy gegessen hatte, wärmte sie ihm etwas Milch in der Flasche auf und trug ihn auf die Veranda. Sie verfiel in den federnden Gang und schaute nicht nach unten. Das musste sie gar nicht – sie wusste auch so, wo das kleine Loch in den Planken war, seit sie auf das Lucky-Strike-Päckchen der Agenten geschossen hatte. Lieber Gott, lass die Prohibitionsagenten wieder auftauchen, wohlbehalten und weit weg von hier.
Zum zweiten Mal an diesem Tag wunderte sie sich über ihre eigenen Worte. Eigentlich sprach sie seit Jacobs Tod nicht mehr mit Gott. Denn nach der Beerdigung, als sie und Jesse Mrs. Vatterott die geborgten Kleider zurückgegeben hatten, hatte die Wirtin gesagt: »Wirklich eine Schande, dass Ihr kleines Baby nicht getauft war. Nun kommt es nicht in den Himmel.« Dixie Clay war zu sehr außer – neben, unter – sich gewesen, um die Aussage zur Kenntnis zu nehmen, aber in den folgenden Tagen hatte sie oft darüber nachgedacht. Also gut – wenn mein Baby nicht in den Himmel kommt, dann will ich es auch nicht. Ohne Jacob wäre es nicht einmal der Himmel. Ich bleibe hier unten, bei ihm.
Damals hatte sie sich geschworen, nie wieder zu beten. Am Anfang war es ihr schwergefallen, weil es eine feste Gewohnheit war. Jedes Mal wenn sie sich doch dabei erwischte, hatte sie in Gedanken einen Wall aufgeschüttet. Aber nun, da Willy hier war, konnte sie den Fluss nicht mehr aufhalten, und sie wusste nicht, ob sie das überhaupt noch wollte. Dankedankedankedankedanke, Gott.
Die langen Kiefernschatten krochen auf die Veranda zu. Dixie Clay schritt hindurch, den schlafenden Willy an der Schulter, und vermied es dabei, auf die Regenwürmer zu treten, die vom durchweichten Erdreich ausgestoßen wurden. Sie sah im Briefkasten nach, aber es gab keine Post. Von wem auch? Den wöchentlichen Brief von ihrem Vater hatte sie erst gestern bekommen. Der Cowboy geisterte immer noch durch ihre Gedanken. Sie drückte die Klappe des Briefkastens zu. Sie hatte Willy. Sie hatte alles, was sie brauchte. Auf der Veranda ließ sie sich in den Schaukelstuhl sinken und wartete auf die Dunkelheit. Bald würde sie zur Destille gehen, und Willy war ein wunderbarer Gefährte, egal, ob er schlief oder wach war.
Nur ein Mal zuvor hatte sie in der Destille Gesellschaft gehabt, doch es hatte nicht allzu gut funktioniert.
Vor zwei Jahren war das gewesen, kurz nach Jacobs Tod. Widerwillig hatte sie die Arbeit wieder aufgenommen, und eines frühen Morgens riss Jesse die Tür auf, nahm den beißenden Geruch und das Rumpeln der Fässer wahr und sah sie böse an.
»Da draußen ist heller Sonnenschein«, knurrte er. Er ging zu einem Karton, klappte den Deckel auf, nahm ein Einmachglas heraus, musterte den Inhalt mit zusammengekniffenen Augen und stellte es zurück. Er war nüchtern und gereizt, es machte sie nervös. Er hob den Deckel vom Maischefass ab, und der Dampf traf ihn wie ein Faustschlag. Er hustete und ließ den Deckel scheppernd wieder fallen.
Er schnappte sich ein leeres Einmachglas und ging zum Zapfhahn. Die letzten Whiskeytropfen krochen durch das Spiralrohr. Er probierte einen Schluck, beugte sich über das Fass mit der Buchweizenkleie und stieß die Schaufel hinein. Er wollte die Kleie gerade in den Whiskey kippen, als Dixie Clay dazwischenging: »Warte!«
»Was ist denn?« Er hielt inne, die Metallschaufel schwebte über dem Brei.
»Da ist schon Kleie drin.«
»Und Hefe?«
»Ja, Hefe auch.« Was sonst, hätte sie am liebsten hinzugefügt.
Sie starrten einander angriffslustig an. Dixie Clay erinnerte sich an die Sonntage nach der Kirche, wenn ihr Vater in die Küche kam, um herumzuschnüffeln. »Zu viele Köche verderben den Brei«, hatte ihre Mutter gesagt und ihn verscheucht, und manchmal war es ihm auf dem Weg nach draußen noch gelungen, sich ein Stückchen vom zarten Braten zu schnappen oder ihr einen übermütigen Klaps auf den Hintern zu geben, oder beides. »Jetzt verschwinde endlich«, hatte ihre Mutter geschimpft, aber wenn sie sich dann wieder der Soße zuwandte, konnte Dixie Clay ihr Lächeln sehen.
Jesse warf die Schaufel ins Fass zurück, drehte sich um und lehnte sich dagegen. »Ich ändere die Rezeptur.«
»Was? Warum?« Eine Strähne hatte sich aus ihrem Zopf gelöst, sie schob sie sich aus den Augen. »Hat sich jemand beschwert?«
»Nein, nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil. Die Leute belagern mich wie die Fliegen eine Kuh ohne Schwanz.«
»Wo liegt dann das Problem?«
»Wir kommen nicht hinterher. Deswegen werden wir von Mais auf Zucker umstellen und die Menge verdoppeln. Wir sind sowieso die Letzten im Washington County, die das noch nicht getan haben.«
»Aber dann schmeckt der Whiskey so bitter wie Knochenhechtbrühe.«
»Dixie Clay«, sagte Jesse und atmete resigniert aus. »Widersprich mir nicht. Siehst du nicht, dass ich müde bin?«
Er sah tatsächlich müde aus, trotz des neuen rosa Anzugs. Die Grün- und Blautöne, die er normalerweise trug, ließen die rosige Farbe seiner Wangen hervortreten und betonten das eine oder andere seiner Augen, aber neuerdings bevorzugte er Anzüge in Rosa und Gelb, wie Al Capone. Einmal hatte er ihr voller Bewunderung erzählt, Capone lasse die rechten Taschen seiner Anzüge verstärken, damit ein Revolver hineinpasste.
Dixie Clay presste die Lippen aufeinander und machte sich daran, den Whiskey zu filtern.
Jesse sprach weiter: »Von nun an verwenden wir nur noch Zucker. Wir lassen die Maische drei Tage gären statt einer Woche. Und wir verzichten auf übertriebene Reinlichkeit«, sagte er und zeigte auf das Sieb in Dixie Clays Hand.
Dixie Clay filterte weiter.
»Da ist noch etwas. Ich habe einen Helfer für dich.«
Jetzt sah sie auf. »Einen Helfer?«
»Ich habe Onkel Mookey herbestellt. Er wird morgen hier eintreffen. So kannst du schneller arbeiten.« Jesse stieß sich vom Fass ab und rieb sich die Hände. Kleiestaub sank zu Boden.
»Onkel Mookey? Aus Louisiana? Aber hast du nicht gesagt, er sei nicht ganz richtig im Kopf?«
»Ist er auch nicht. Aber er ist ein guter Arbeiter. Er tut alles, was ich ihm sage. Alles.« Jesse öffnete die Tür.
»Jesse …«, sagte sie, aber er war schon weg, und die Tür fiel mit einem solchen Knall zu, dass die Eichen- und Weidenäste, die sie zur Tarnung auf dem Wellblechdach verteilt hatte, ins Rutschen gerieten. Es klang, als würde eine Kette über ein Dollbord gezogen.
Mookey war nicht wirklich Jesses Onkel. Die Zwillingsbrüder Mookey und Burl hatten in der Gemeinde von Concordia neben Jesses Vater Julius gewohnt. Sie waren zusammen mit ihm zur Schule gegangen, und später dann hatten sie zusammen als Fußvolk in der Ersten US-Infanteriedivision gedient, Vorhut der amerikanischen Expansionsstreitkräfte an der Westfront. Sie hatten ihren Müttern geschworen, aufeinander aufzupassen.
So, wie Jesse die Geschichte erzählte – damals, als er ihr noch Geschichten erzählt hatte –, hatten Julius, Mookey und Burl den Einsatz in Frankreich unbeschadet überstanden, aber dann brauchte es nur ein Wochenende in Louisiana, um sie alle zugrunde zu richten. Es war im Frühjahr 1918, die deutschen Truppen standen vor der Niederlage, und die drei Freunde waren im Wald von Belleau stationiert, als sie ein Telegramm aus der Heimat erreichte: Ihre Väter hatten sich mit der Spanischen Grippe angesteckt. Die drei wurden beurlaubt und nach Hause geschickt.
Doch als sie in New Orleans ankamen, waren die Väter bereits gestorben, und Julius, geschwächt vom Kampfgas an der Front, fing sich ebenfalls die Grippe ein. Er wurde direkt in ihr Ausbildungscamp Beauregard in Louisiana geschickt, um von einem Arzt des Allgemeinen Krankenhauses untersucht zu werden. Sobald er dort eingetroffen war, wurde das gesamte Lager unter Quarantäne gestellt. Keine vierundzwanzig Stunden nach seiner Ankunft auf amerikanischem Boden war Julius tot. Jesse, damals noch ein Teenager, hatte seinen Vater seit zwei Jahren nicht gesehen, und nun sah er ihn in einem mit Gladiolen geschmückten Sarg.
Weder Mookey noch Burl erkrankten. Sie nahmen an der Beerdigung ihres Vaters teil, und dann an der von Julius’ Vater, und dann an der von Julius. Sie mussten beim Ausheben der Gräber helfen, weil die Totengräber mit der Arbeit nicht hinterherkamen. Fünf Tage später waren sie bereit, an die Front zurückzukehren. Sie warteten am Bahnhof von New Orleans. Mookey trug Julius’ Sam-Browne-Gürtel, sie schulterten ihre Seesäcke und küssten zum Abschied ihre Mutter, die in ein Taschentuch weinte. Als die Lokomotive in den Bahnhof stampfte und einen gellenden Pfiff ausstieß, wurde Mookey ohnmächtig. Einfach so, anscheinend ohne Grund – und als er wieder zu sich kam, gestützt von Burl, konnte er nicht mehr sprechen. Verdammt, sagte Jesse, sein Mund konnte kein einziges Wort mehr bilden, derselbe Mund, den er bis heute zum Atmen und zum Essen braucht. Außerdem war sein Gehirn verändert. Er war jetzt, tuschelten die Leute, ein Idiot. Mookey wurde von einem Militärarzt untersucht, der ihm ein Kriegstrauma attestierte und ihm sechs Monate Ruhe und körperliche Arbeit in den Wäldern rund um das Camp verschrieb.
Burl kehrte für die Aisne-Offensive nach Frankreich zurück. Am ersten Abend in der Messe behaupteten einige der anderen, Mookey sei ein Feigling und simuliere bloß, damit er nicht an die Front zurückmüsse.
»Also, wenigstens wurde es mir so erzählt«, sagte Jesse. Sie lagen im Bett, und Dixie Clays Kopf ruhte auf Jesses Brust. Das musste in ihrem ersten Ehejahr gewesen sein, in den allerersten Monaten. Jesse fuhr mit den Händen durch Dixie Clays zerwühlte Locken, und wann immer er auf einen Knoten stieß, spreizte er die Finger und kämmte ihn heraus. »Burl hat sich also über den Tisch gelehnt und gesagt: ›Wenn du meinen Bruder noch einmal einen Feigling nennst, schneide ich dir die Zunge ab.‹ Die Jungs haben sich angeschaut, es wurde ganz still. Und dann verschränkt ein riesiger Kerl aus Upstate New York – er hieß Otis und war richtig gut aussehend – die Arme vor der Brust, schaut sich um und sagt: ›Feigling.‹ Und da hat Burl seine Drohung wahr gemacht.«
Jesse lachte, doch Dixie Clay schwieg. Im Zimmer war es kalt geworden, sie zog sich die Decke bis ans Kinn. »Was ist mit Burl passiert?«
Jesse lächelte immer noch. »Hat sich nach Angola abgesetzt.«
»Nach Angola? Du meine Güte, Jesse.«
»Nach dem Zungenvorfall wurde er unehrenhaft aus der Armee entlassen, und später dann hatte er Schwierigkeiten, sich im zivilen Leben zurechtzufinden.«
»Und Mookey? Was ist mit Mookey passiert?«
»Onkel Mookey blieb im Camp Beauregard. Er hat nie wieder ein Wort gesprochen. Als seine Krankschreibung auslief, hat er als Nachtwächter angefangen. Das macht er bis heute.«
Bis Jesse ihn zu einer anderen Art von Nachtarbeit verpflichtete.
Als sie am nächsten Abend zur Destille kam, trat Mookey hinter den Bäumen hervor. Jesse hatte ihn zutreffend beschrieben – »kahl, fett und weiß, wie etwas, das man zu sehen bekommt, wenn man im Wald einen Baumstamm anhebt«. Mookey trug Latzhosen mit zum Bersten gespannten Nähten, zwischen den seitlichen Knöpfen quollen Halbmonde aus weißem Fleisch hervor, und der Latz wurde von seinem enormen Bauch heruntergezogen.
»Hallo?«, sagte sie unsicher.
Er rührte sich nicht. Er hielt den Kopf gesenkt, das Mondlicht schimmerte auf seiner blanken Glatze.
»Äh … Onkel Mookey?« Sie wartete kurz ab und ging dann zur Tür, den Schlüssel in der Faust. Sie kehrte ihm keine Sekunde den Rücken zu, während sie das Schloss öffnete und in die Destille eilte, um die Laterne anzuzünden.
Er folgte ihr hinein. Jesse musste ihm konkrete Anweisungen gegeben haben, denn er fing sofort an, sich die fünfzig Pfund schweren Zuckersäcke auf den Rücken zu werfen, ganz anders als Dixie Clay, die immer erst das eine Ende des Sacks auf den Handwagen zerrte und dann das andere. Die Kartons mit den Einmachgläsern stapelte er übereinander und trug vier auf einmal. Als sie den Whiskey abfüllte, hob er ein leeres Glas aus dem Kartonfach und reichte es ihr, sobald das in ihrer Hand voll war, und mit der anderen Hand nahm er ihr das volle ab und verschüttete dabei keinen Tropfen.
Sie arbeiteten sehr gut zusammen, aber Dixie Clay war dennoch in Sorge. Mookey sah ihr niemals in die Augen, aber sobald sie nach unten schaute, spürte sie seinen Blick. Wenn sie das Gesicht wieder hob, starrte er die Wand an. Als im Morgengrauen ein Eichhörnchen mit lautem Knall auf dem Blechdach landete, zuckte sie zusammen und stieß ein unverschraubtes Glas um. Noch bevor sie sich einen Lappen schnappen konnte, hatte Mookey den Whiskey mit seinem Halstuch aufgewischt.
Sie war erleichtert, als unter der Tür ein Lichtstreifen zu erkennen war. Dixie Clay stand auf und streckte ihren Rücken. »Tja«, sagte sie. »Zeit, sich aufs Ohr zu hauen.«
Er ging zur Wand, wo zwei Besen hingen, ein alter aus Maisstroh und ein neuer aus Kunststoff, an dessen Griff eine Kehrschaufel klemmte. Mookey nahm den Maisstrohbesen und ein altes, verbeultes Kehrblech herunter.
»Das ist nicht nötig«, sagte sie.
Er stand da und sah zu Boden.
»Sicher bist du müde.«
Wortlos begann er, die Destille zu fegen. Sie beobachtete, wie der Besen kleine Staubwolken aufwirbelte, und nach einer Weile drehte sie sich um und trat in die Morgendämmerung hinaus.
Als Dixie Clay an dem Abend einen mit Aprikosen gespickten Schinkenbraten servierte, sagte Jesse: »Mach einen Teller für deinen Onkel Mookey fertig. Er wohnt jetzt in der Destille.«
»Jesse«, sagte sie, »bitte nicht. Er macht mich ganz nervös. Ich arbeite lieber allein. Bitte, Jesse, ich …«
»Verdammt nochmal, Dixie Clay. Er gehört zur Familie.«
Wenn er zur Familie gehört, wollte sie sagen, warum muss er dann wie ein Hund in der Destille schlafen? Stattdessen holte sie tief Luft und sagte: »Ich habe darüber nachgedacht, wie wir mit weniger Whiskey mehr Geld verdienen können. Wenn wir …«
»Du verdienst mehr Geld, indem du mehr Whiskey brennst. Außerdem wolltest du keine Helfer, weil die angeblich irgendwann plaudern. Nun, ich habe dir einen gefunden, der nichts ausplaudern kann.« Jesse wählte einen Apfel aus der Obstschale, biss hinein, schob sich rückwärts durch die Schwingtür und rief aus dem Wohnzimmer herüber: »Und jetzt bring dem Mann sein verdammtes Essen.«
Sie säbelte ein Stück Schinken ab, legte auf Zahnstocher aufgespießte Aprikosen und ein paar gefüllte Eier darauf und löffelte etwas Kartoffelsalat daneben.
Sie ging zur Destille und hielt Mookey den vollen Teller hin. Er nahm ihn entgegen, ließ sich an der Wand hinunterrutschen, kauerte sich auf die Fersen und aß – wie ein Hund, dachte Dixie Clay zuerst, aber dann bewies er Manieren. Er benutzte sogar sein Halstuch als Serviette, weil sie vergessen hatte, ihm eine mitzubringen. Sie wartete mit verschränkten Armen, und als auf dem Teller nichts mehr lag als ein winziger Lattenzaun aus Zahnstochern, streckte sie die Hand danach aus. Doch Mookey erhob sich und ging durch die blinkenden Glühwürmchen zum Bach hinunter, wo er den Teller abspülte und trocknete, bevor er ihn Dixie Clay zurückgab.
Der nächste Abend sah genauso aus. Es kam ihr vor, als wäre Mookeys Schweigen ansteckend. Natürlich schwieg Dixie Clay bei der Arbeit, aber in Mookeys Gegenwart fühlte sich die Stille unangenehm an. Wie viel von dem, was sie sagte, konnte er verstehen? Während sie darüber nachdachte, arbeiteten die beiden emsig vor sich hin, Schulter an Schulter, während der Frühjahrsmond über das Blechdach glitt. Obwohl Mookey riesig war und die Hütte klein, stand er ihr nie im Weg. Er bewegte sich leichtfüßig, wie ein Boxer oder ein Tänzer.
Gegen Morgen stattete Jesse ihnen einen seiner seltenen Besuche ab. Dixie Clay vermutete, dass er gerade erst nach Hause gekommen war. Er öffnete die Tür und stand blinzelnd in der hell erleuchteten, aufgeräumten Destille. Dass Mookey jetzt hier wohnte, verrieten nur der stramm aufgerollte Schlafsack in der Ecke und die Zahnbürste in einem Einmachglas.
»Na so was«, sagte er. »Wie zwei kleine Schuster! Ich meinte natürlich, wie zwei Elfen, die die Schuhe gemacht haben, während der Schuster geschlafen hat. Was auch immer.« Dixie Clay schaute zu, wie er die vollen Kartons zählte, zweieinhalb bis an die Decke reichende Stapel. Er lächelte. »Komm, Dix«, sagte er. »Das reicht. Ich bringe dich nach Hause.« Er reckte einen angewinkelten Arm vor, damit sie die Hand hineinschieben konnte.
Während sie sich entfernten, hörten sie das Rascheln des Strohbesens. Er klingt viel schöner als der Kunststoffbesen, dachte Dixie Clay. Der Holzgriff war angenehm abgegriffen, ihre Finger hatten Vertiefungen hinterlassen.
Am dritten Abend dasselbe Spiel. Sie brannten in aller Stille den Schnaps.
Am vierten Abend schob sie mit einer Hand die Tür auf, in der anderen hielt sie den Teller mit Mookeys Abendessen. Die Hütte war dunkel. Im fahlen Licht des abnehmenden Mondes, das über ihre Schulter hineinfiel, konnte sie Mookey erkennen. Er hockte vor einem der Fässer und schenkte sich offenbar ein Glas Whiskey ein. Er richtete sich auf, ohne den Hahn zu schließen, und stolperte auf sie zu. Sein Gesicht war nass von Tränen. Dixie Clay war so überrascht, dass sie sich zuerst nicht vom Fleck bewegte. Aber dann merkte sie, dass er sie angriff. Sie ließ den Teller fallen, drehte sich um und wollte losrennen, aber da spürte sie schon seine Hände an ihrer Taille und auf ihrem Rücken. Er vergrub sein Gesicht an ihrem Hals, sie spürte seine nassen Tränen und seinen heißen, keuchenden Atem, wie er schaudernd die dicken Lippen auf ihre Haut drückte. Sie schrie, er hob den Kopf, und sie rammte ihm einen Ellenbogen gegen den Kiefer. Er ließ los, sie wirbelte herum und rannte zum Haus.
Sie stürzte atemlos hinein, und als Jesse sie fragte, was passiert sei, erzählte sie es ihm.
Jetzt war es Jesse, dem die Worte fehlten. Er zog sich die Serviette aus dem Kragen, marschierte zum Waffenständer, hob die Winchester heraus und machte sich auf den Weg zur Destille. Auf einmal bekam Dixie Clay Angst, sie tänzelte um Jesse herum und flehte ihn an, nachzudenken, vernünftig zu sein. Der Mann gehörte zur Familie, er war nicht ganz richtig im Kopf, er war betrunken. Als die Destille in Sichtweite kam, hängte sie sich an Jesses Arm, und da fuhr er herum, hob die Winchester in die Höhe und ließ den Kolben auf Dixie Clays Schulter niedergehen. Sie taumelte rückwärts und landete auf dem Steißbein.
Jesse riss die Tür auf, doch die Hütte war leer. Mookey war weggelaufen.
Jesse ging hinein und zeigte auf das Dampffass. »Siehst du das?«, fragte er.
Dixie Clay rappelte sich auf die Knie. Jesse hielt ein Einmachglas voller Blumen in der Hand, rosa geäderte Damaszenerrosen von dem Busch vor der Veranda. »Deshalb haben wir ihn damals in Concordia Gaga-Mookey genannt«, sagte Jesse. Er nahm das Glas, drehte sich wie ein Pitcher beim Baseball um die eigene Achse und schleuderte es gegen die Wand. Das Einmachglas zerplatzte, der dicke Boden rollte durch die Hütte wie ein verrücktes Monokel. Jesse kickte ihn zur Seite, dann drehte er sich um und marschierte an Dixie Clay vorbei, die sich an einem Eschenstamm in die Höhe zog. Seine Stimme scholl über die Kuppe:
»Eine verheiratete Frau zu umwerben, und das mit ihren eigenen gottverdammten Rosen!«
Dixie Clay blieb nichts weiter zu tun, als den Strohbesen vom Haken zu nehmen und den Teller, den Braten, die grünen Bohnen, die Scherben und die Rosen zu einem traurigen Haufen zusammenzukehren. Dann lehnte sie den Besen an die Wand und trat mit aller Kraft auf den Stiel. Die beiden Hälften warf sie ins Feuer.
Sie ging zum Haus zurück. Jesse war verschwunden. Sie ließ sich ins Bett fallen und blieb bis zum nächsten Morgen dort liegen, auf der Seite, weil ihr Steißbein und ihre Schulter lila angelaufen waren. Sie hatte Glück, dass das Schlüsselbein nicht gebrochen war. Sie lächelte verbittert über das, was sie inzwischen als Glück bezeichnete. Jesse blieb fort. Sie hoffte, dass Mookey ihm entkommen war, dass er sich im Wald versteckte oder dass er den Rückweg zum Camp Beauregard gefunden hatte.
Am nächsten Tag faltete sie eine Decke zusammen, legte sie auf den Sattel, setzte sich behutsam darauf und ritt in die Stadt. Als Chester über die Eisenbahnschwellen stieg, musste sie die Zähne zusammenbeißen. Im Schreibwarenladen versuchte der Verkäufer, sie zu etwas Ausgefallenerem zu überreden, doch zu seinem Unmut hielt Dixie Clay stand. Am Freitag ritt sie wieder hin (sie hatte Jesse immer noch nicht gesehen) und holte die bestellten Etiketten ab. Sie waren grau mit schwarzem Rand, in der Mitte prangte ein kleiner schwarzer Blitz. Sie ging auch zum Gemischtwarenladen und holte die Flaschen mit dem kurzen Hals ab, die sie geordert hatte, ganze acht Kisten. Sie bezahlte mit Geld aus einer Hafermehlbüchse, die sie in der Speisekammer entdeckt hatte und die voller Zehner und Zwanziger war. Wenn ihr Plan aufging, würde sie das Geld zurückzahlen. Wenn nicht – nun, das könnte sie sich später immer noch überlegen.
Sie ritt nach Hause, rührte Kleister aus Mehl und Wasser an und zog ein Etikett hindurch, wie man eine Hühnerbrust durch Paniermehl zieht, und dann klebte sie es an eine Flasche und strich die Luftblasen heraus. Sie machte immer weiter, bis alle Flaschen beklebt waren. Sie füllte die Flaschen mit Whiskey und verschloss sie, und dann wartete sie auf Kunden. Als einer vorbeikam – Ron Shap, ein Lokalpolitiker –, zeigte sie ihm eine Flasche und schüttelte sie ein wenig, um die Qualität des Whiskeys zu beweisen: Die Blasen waren klein und lösten sich nur langsam wieder auf. Sie öffnete die Flasche, goss einen winzigen Schluck in ein geschliffenes Glas und beobachtete, wie Ron es leerte, ohne mit der Wimper zu zucken. Er strich sich einen Tropfen aus dem grauen Schnurrbart und leckte sich den Finger ab.
»Wissen Sie«, sagte er, lehnte sich im Sitzen zurück und hakte die Daumen unter die roten Hosenträger. »Ich stehe kurz vor der Wiederwahl. Ich nehme alles, was Sie haben.«
»Das können Sie nicht bezahlen«, sagte sie.
Er lachte, sah sie über die Brille hinweg an und fragte: »Wetten?«
»Vier fünfzig pro Flasche.«
»Vier fünfzig?!«
»Ist das zu wenig?« Sie legte den Kopf schief und tippte sich mit dem Finger an die Wange. »Sollte ich fünf verlangen?«
»Wissen Sie denn nicht, dass ich das Zeug bei Ihrem Nachbarn Skipper Hays für einen Dollar kaufen kann?«
»Doch, das weiß ich. Und ich weiß noch mehr: Hays verarbeitet denaturierten Alkohol, den er mit Balsamierextrakten verschneidet. In seiner Badewanne, die seit Erfindung der Seife nicht mehr geputzt wurde. Man wird blind davon, oder man stirbt, oder beides, und das alles für nur einen Dollar.«
»Missy, nun kommen Sie schon.«
Dixie Clay machte den Mund zu, und die Flasche.
Er sprach mit weicher Stimme: »Hat Jesse gesagt, dass Sie so viel verlangen sollen? Sicherlich können wir zwei uns irgendwo in der Mitte treffen, Sie und ich? Wie wäre es, wenn ich Ihnen zwei Dollar gebe? Dann könnten Sie die ganze Woche ins Kino gehen. Oder lassen Sie sich die hübschen Locken zu einem Bob schneiden.«
»Vier fünfzig pro Flasche, und wenn Sie den Whiskey nicht kaufen wollen, wird Wright Thomas« – der Gegenkandidat – »es vielleicht tun.«
Ron Shap zögerte. Dixie Clay stellte die Flasche zurück in den Karton und stand auf. »Viel Glück bei der Wiederwahl.«
Er ließ die Hosenträger schnappen, erhob sich und stampfte hinaus zu seinem Lieferwagen, wo der Fahrer an der offenen Heckklappe wartete. Vom Fenster aus sah sie, wie Shap gegen die Reifen trat, auf den Beifahrersitz kletterte und die Tür zuschlug, und dann stieg er wieder aus, schlug die Tür abermals zu, trat noch einmal gegen den Reifen, reckte die Fäuste gen Himmel und brüllte: »Der verfluchte Wright Thomas!« Dann stampfte er die Verandatreppe hinauf und kaufte alle acht Kartons.
Er wurde wiedergewählt.
Von dem Tag an brannte Dixie Clay kleinere Chargen, und sie konnte jeden beliebigen Preis verlangen. Anscheinend war den Leuten nichts zu teuer. Jesse sprach nie wieder davon, die Rezeptur zu ändern oder einen Helfer einzustellen, und der Black Lightning wurde so berühmt, dass der schwarze Blitz sogar Einladungen zu Hochzeiten, Tagungen und Treffen des Ku-Klux-Klans zierte. Die Kunden prahlten damit, dass sie keine Kosten gescheut hatten.
Was Onkel Mookey betraf, so wurde er nie wieder gesehen und nie wieder erwähnt, obwohl Dixie Clay oft an ihn dachte. Und in den folgenden Jahren begann sie, sein Verhalten und ihr Verhalten anders zu bewerten. Sie war nicht mehr das stolze Mädchen von damals, die Hübscheste weit und breit, wie die Leute sagten, die mit dem attraktivsten Kerl verlobt war. Sie musste sich eingestehen, dass sie Jesse geheiratet hatte, obwohl sie nur seine angenehme Seite gekannt hatte. Sie hatte so viele Bücher gelesen, dass sie sich den Rest einfach zusammengeträumt hatte.
Und dafür hatte sie bezahlt, dafür würde sie ihr Leben lang bezahlen. Die Einsamkeit hatte sie geschult und Demut gelehrt. Wenn sie jetzt an Mookey dachte, wünschte sie sich, sie hätte über seine Kauzigkeit hinwegsehen und seine Freundin sein können. Sie wünschte, sie wäre weniger schreckhaft gewesen und stattdessen reifer, weiser und freundlicher. Sie wünschte, sie hätte sich für die Rosen bedankt.