EPILOG

Hobnob lag hundertvierzig Kilometer und drei Tage hinter ihnen. Sie waren jetzt in Arkansas. Weiter westlich war Dixie Clay nie gewesen. Jeder Schritt, den das Pferd machte, markierte eine neue Grenze. Weiter westlich war Dixie Clay nie gewesen. Doch, jetzt. Und jetzt.

Nachdem sie Greenville verlassen hatten, hätten sie mit dem Boot über das flache Delta bis nach Greenwood am Fuß der Hügel fahren können, achtzig Kilometer und vier Stunden entfernt, oder wenigstens behaupteten die Leute das. Stattdessen steuerte Ingersoll das Boot nach Westen. Sie überquerten den Fluss – soweit man eine hundertfünfzig Kilometer breite Wasserfläche noch einen Fluss nennen konnte.

Sie wussten, dass sich unter ihnen Häuser und Äcker befunden hatten. Jetzt war das Land unbehaust und unbestellt. Ohne Bäume. Ein Stück weiter westlich ragten ein paar Baumkronen aus dem Wasser, wie halb in Teig eingetauchter Brokkoli sahen sie aus. Dann erste Anzeichen von Häusern – Betonstufen, ein Schornstein aus Ziegeln. Später dann ein Wäldchen, wo quer liegende, ineinander verkeilte Äste wie die Netztasche eines Billardtischs das Wasser gefiltert hatten: ein Schulspind; zwei ertrunkene Schecken, noch vor ihren Karren gespannt; ein Sägebock; ein Briefkasten; ein Schild mit der Aufschrift Tallulah’s – weltbester Seewolf. Sie kreuzten durch eine apokalyptische Landschaft und mussten nicht fürchten, irgendjemandes Baumwolle zu zertrampeln, dafür hatte der Fluss gesorgt, und sie brauchten über keine Zäune zu springen, auch dafür hatte der Fluss gesorgt. Der Fluss hatte für alles Mögliche gesorgt.

Nach einer Weile entdeckten sie die ersten Höcker aus trockenem Boden. Irgendwo ragte eine Beinprothese aus dem Schlamm. Ein aufgedunsener Eselskadaver lag neben einer aufgequollenen Bibel, als hätte er vom Ende der Welt gelesen, während es über ihn kam. Verwilderte Hunde umkreisten einen Baum, in dessen hohen Zweigen ein Stall voller toter Hühner hing, und die Bussarde hüpften darauf herum, hackten mit dem Schnabel und zogen blutige Fleischschnüre heraus. Sie sahen eigenartige weiße Kuppeln aus einem Schlammhügel ragten. Wie die Zähne eines Babys, die durch das Zahnfleisch drücken, sagte Dixie Clay, aber Ingersoll schüttelte den Kopf. Grabsteine, sagte er, ein Friedhof. Gott wusste, wo die Kirche jetzt war.

Willy lag auf Dixie Clays Schoß und ließ sich vom Motorendröhnen einlullen wie früher vom rumpelnden Dampffass. Wenn er unruhig wurde, sang Ingersoll ihm etwas vor. Die ganze Zeit regnete es nicht, ein weiterer Rekord.

Am gegenüberliegenden Ufer tauschten sie das Boot gegen ein Pferd ein. Es fiel ihnen nicht schwer, sich davon zu trennen. Die Landschaft glich einem leer gefegten Watt oder erinnerte an minderwertige, rissige Keramik. In den Senken war die Schlammschicht dick und dunkelbraun, zu den Rändern hin hellte sie sich auf. Sie redeten nicht viel. Stumm betrachteten sie diese fremde Welt, durch die sie ritten. Ingersoll hatte die Arme um Dixie Clay gelegt, die wiederum Willy umarmte. Manchmal stützte sie das Kinn ganz leicht auf den Kopf des Babys, und Ingersoll stützte seins auf ihren Scheitel.

In einem Schlammgraben entdeckten sie ein Haus mit Holzschindelfassade, das sich stark nach rechts lehnte. Es stand so schräg, sagte Ingersoll, weil die Besitzer die Klugheit besessen hatten, Türen und Fenster offen zu lassen. Das Hochwasser war einfach hindurchgeströmt.

Sie ritten zur Tür, und Ingersoll machte sich bemerkbar, aber niemand erschien, also stiegen sie ab und gingen hinein. In der Küche fand Dixie Clay zwei Konservenbüchsen mit Karotten und zwei mit Spinat. Sie aßen jeweils eine und drückten etwas Gemüse für Willy mit der Gabel klein. Weil sie müde waren, zogen sie die Strohmatratze herunter, die jemand über den Schrank geklemmt hatte, um sie vor der Feuchtigkeit zu schützen. Das Ding roch nach Schimmel, aber sie waren froh, sich hinlegen und die sattelwunden Beine ausstrecken zu können.

Zufrieden lagen sie da, das schlafende Baby zwischen sich, und unterhielten sich leise. Dann schob Ingersoll die Füße zwischen die von Dixie Clay, stützte sich auf einen Ellenbogen, um sie über das Baby hinweg zu küssen, und dann rollte er sich hinüber, und sie liebten sich, und es war nicht die wilde, hektische Liebe wie im Schlamm des Indianerhügels, sondern weich wie Melasse. Trotzdem konnte Dixie Clay einen Schrei nicht unterdrücken, der Willy aufweckte. Ingersoll nahm ihn auf den Arm und drückte ihn sich an die nackte Brust und machte weiter. Willy wurde in den Schlaf geschaukelt, und kurz danach schlief Ingersoll ein.

Dixie Clay dachte: Ich nicht, ich bin zu glücklich zum Schlafen, ich werde die ganze Nacht aufbleiben und sie im Schlaf beobachten. Es war der letzte Gedanke, an den sie sich beim Aufwachen erinnern konnte.

Sie brachen im Morgengrauen auf, als die Sonne hauchdünne Nebelfahnen aus den Pfützen aufsteigen ließ. Der Rhythmus der Hufe ließ Dixie Clays Gedanken frei treiben, und alle waren unbelastet. Sie fühlte sich ruhig, und keine Fragen quälten sie, nicht einmal die nach ihrem Ziel. Sie hatten nur kurz darüber gesprochen, in der ersten Nacht, als sie eine Art Hügel gefunden und ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie hatten die Trümmer einer Scheune als Brennholz verwendet. Dixie Clay legte ein Reisigbündel neben Ingersoll hin, der damit beschäftigt war, den Zunder zu entflammen, streckte die vom Reiten müden Beine aus und sagte mit einem Blick in die dunkle Wolkendecke: »Ich vermisse die Sterne.«

Ingersoll hatte aufgeschaut und genickt. »Wir reiten weiter, bis wir im Land der Sterne sind.«

»Ja?«

»Ja. In den Ozarks. Ich kenne da einen Kerl namens Jim, wir waren zusammen im Krieg.« Ingersoll ließ das Rädchen seines Feuerzeuges schnippen und brachte eine kleine bläuliche Flamme zustande. Er hielt sie an den Zunder. »Halbindianer. Als er nach Hause kam, hatte er Schrapnellsplitter im Kopf. Niemand glaubte, dass er überleben würde. Aber er hat überlebt.« Sie hörten, wie der Zunder zu knistern begann.

»Woher weißt du, dass er uns helfen wird?«

»Ich weiß es einfach.« Ingersoll stocherte im Feuer und lächelte. »Die Ozarks, Dixie Clay, sind so alte Berge, dass sie jetzt nur noch Hügel sind.«

Das gefiel ihr, sie wiederholte es. »Die Berge sind so alt, dass sie jetzt nur noch Hügel sind.«

Mehr brauchte sie vorläufig nicht zu wissen.

Sie wünschte sich ein einfaches Leben. Ein kleines Haus. Bücher. Einen gepflegten Garten, lange Reihen mit Erbsen, Mais und Tomaten. Blumen, wenn Ingersoll es wollte. Was sie selbst betraf, so bevorzugte sie Gemüse, denn sie war praktisch veranlagt und ihre Blüten die einer Kürbispflanze, in deren seidigen Schlund die Honigbienen mit dem pelzigen Hinterteil eintauchen und dann trunken davontaumeln, um ihren Goldsaft herzustellen. Vielleicht ein Bach irgendwo, wo sie zu dritt angeln könnten. Oh, und sie wollte einen Hund. Einen großen Hund mit dichtem Fell. Jeder Junge sollte einen Hund haben. Auch hätte sie gern wieder Hühner, denn sie mochte das tägliche Tauschgeschäft von füttern und gefüttert werden. Sie wollte ehrliche Arbeit. Sie wollte müde und mit der Dunkelheit ins Bett sinken und mit der Sonne aufstehen, wach und ausgeruht. Sie wollte Rührkuchen backen, Brombeeren pflücken und Marmelade einkochen, und wenn ihr Junge hungrig von der Schule kam, würde sie das warme Brot aus dem Ofen holen, er würde einen dampfenden, fluffigen Brocken abreißen und dick mit Brombeermarmelade bestreichen. Der reife Juni in seinem roten Oktobermund. Ja, sie würde ihre Männer versorgen.

Sie wollte mit Ingersoll alt werden. Abends nach dem Essen mit ihm auf der Veranda sitzen, wenn Willy längst ein Mann war – an den Gedanken würde sie sich gewöhnen müssen –, ein Buch aus dem Regal ziehen, das Ingersoll gebaut hatte. Ihm zuhören, wie er Gitarre spielt und mit Cowboystimme singt, während sie kleinere Arbeiten im Haus erledigt. Pekannüsse knacken beispielsweise, die sie tagsüber in ihrer Schürze gesammelt hat.

Sie schwelgte in der Vision und merkte, dass sie für die Nüsse den Klauenhammer mit Walnussholzgriff benutzte, den sie aus Alabama nach Hobnob mitgebracht hatte. Doch der Hammer, von Hand gemacht und so schwer, der Zehntausende Pekannüsse auf dem Gewissen hatte, lag jetzt am Grund eines Sees, in der Schlucht, wo früher ihr Haus gestanden hatte. Der treue kleine Hammer würde nichts anderes mehr spüren als die Flossen der Fische und das unablässige Streicheln der langen Gräser. Hatte sie etwa Mitleid? Mit einem Hammer? Mit sich selbst? Aber das Gefühl verblasste, so wie ein unangenehmer Gedanke verblasst, sobald er sich als Traum entpuppt hat.

Es gab die Welt davor und die danach. Es war eine Art von Freiheit. Sie würde noch einmal von vorn anfangen. So wie Ingersoll, der jetzt sogar vom silbernen Gewicht seines Berufes befreit war und von der bronzenen Last seines Heldenmutes. Sie konnten jetzt sein, wer immer sie wollten.

Sie würde ihr Leben in dem Raum verbringen, den seine Arme umschlossen.

Die Ereignisse, die immer die größte Geschichte ihres Lebens bleiben würden, näherten sich dem Ende, und sie war froh darüber. Sie hatte keinen Hang zur Dramatik, aber ein Drama war passiert, und sie hatte es ertragen, weil sie keine andere Wahl gehabt hatte. Aber jetzt war sie bereit für etwas Neues. Für die Normalität.

Irgendwann würde eine Zeit kommen, in der Willy alt genug für ihre Geschichte wäre. Sicher würde sie ihm das eine oder andere schon erzählt haben, er würde wissen, dass es eine Geschichte gibt. Auch dass sie nicht seine leibliche Mutter war, würde sie ihm von Anfang an sagen und ihm den Schock ersparen, wenn er älter war und die schamvoll verschwiegene Wahrheit ihn dann treffen würde wie ein Schlag. Nein, er würde von Anfang an Bescheid wissen, das war sehr wichtig. Er würde begreifen, dass sie hart arbeiten hatte müssen, bevor sie für ihn bereit war, für dieses Geschenk. Sie hatte gearbeitet und gewartet, gewartet und gearbeitet.

Bis sie ihm die Geschichte erzählte, würde sie erfahren haben, was ihre Rolle in dem großen Ganzen gewesen war. Historiker würden ihr erklärt haben, was ihr widerfahren war. Später, wenn es so weit wäre, würde sie sagen können: Mein Sohn, es war die größte Naturkatastrophe, die unser Land je getroffen hatte. Wie groß, Willy, war die überflutete Fläche? Ungefähr so groß wie Connecticut, New Hampshire, Massachusetts und Vermont zusammen. Ja, wenn diese Staaten betroffen gewesen wären, hätten wir schneller Hilfe bekommen. Und Lebensmittel. Und Geld. Und später dann Kapitel in den Geschichtsbüchern. Überall würde es Denkmäler geben. Aber wir lebten im Dreck des Deltas, im fruchtbarsten Dreck der Nation, der allerdings unter den Stiefelsohlen der Ärmsten klebte. Die offizielle Zahl der Todesopfer wurde mit dreihundertdreizehn angegeben, doch alle wussten, dass sie in Wahrheit höher war, Willy, viel höher. Coolidge hat die leidenden Menschen nie besucht. In den folgenden Monaten baten ihn vier Gouverneure und acht Senatoren, hinzureisen und den Blick der Nation endlich auf den Süden zu lenken. Aber Coolidge kam nicht. Und wurde nicht wiedergewählt. Dafür wurde Hoover, Liebling der Wochenschau und Star der Sonntagsbeilagen, von der Flut ins Präsidentenamt gespült, genau so, wie er es vorhergesagt hatte. Diese Flut, von unserer Nation größtenteils vergessen, hat das Schicksal unserer Nation geprägt.

All das würde Dixie Clay irgendwann wissen, aber noch nicht jetzt. Jetzt, drei Tage nach ihrer Flucht, ist es noch nicht die Geschichte der Großen Flut oder des Großen Flusses. Es ist nur ihre Geschichte. Und wenn sie sich vorstellt, sie zu erzählen, beginnt sie so:

Es ist an der Zeit, dir eine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, die dich überraschen wird. Wir schrieben das Jahr 1927, und, Herr im Himmel, was hat es geregnet! Deine Mutter hat illegal Whiskey gebrannt, und dein Vater war ein Agent der Prohibition, was sie zu Feinden machte, zu natürlichen Feinden, wie die Eule und die Maus. Aber stattdessen verliebten sie sich ineinander.

In dieser Geschichte kommen Waffen und Whiskey vor, Sandsäcke und Saboteure, Dynamit und Desaster. Ein gewissenloser Ehemann, ein verrückter Onkel, eine gefährliche Geliebte, ein loyaler Partner. Eine Frau, die mit dem falschen Mann verheiratet war und jeden Tag ein kleines bisschen starb. Und ein Mann, der sich unsichtbar fühlte.

Aber vor allem ist es eine Liebesgeschichte. Dies ist die Geschichte, wie aus uns eine Familie wurde.