PROLOG

4. April 1927

Dixie Clay stapfte am Ufer des angeschwollenen Bachs durch den schmatzenden Schlamm und verscheuchte mit ihrem Hut die Mücken, als sie einen Kindersarg im Wasser dümpeln sah. Er hatte sich an einem Platanenstumpf verfangen. Bei dem Gedanken, ihr Sohn Jacob, den sie vor zwei Jahren begraben hatten, könnte zurückgekehrt sein, gaben ganz kurz ihre Knie nach. Aber dann ließ sie Hut und Gewehr fallen und warf sich in den Bach.

Sie kam erst wieder zu Sinnen, als sie schon hüfttief im schäumenden kaffeebraunen Wasser stand. Das war nicht Jacob in dem Sarg. Genau genommen war es nicht einmal ein Sarg. Dixie Clay stutzte, watete näher heran und sah, dass die hölzerne Kiste von Nieten und Metallbändern zusammengehalten wurde. Sie hatte einen Schiffskoffer für Hüte vor sich.

In den dicht bewaldeten Schluchten trug der Schall manchmal kilometerweit und erzeugte das seltsamste Echo, doch niemals hätte sie hier mit Männerstimmen gerechnet. Sie waren über das Rauschen und Brodeln hinweg zu hören, was bedeutete, dass irgendwo in der Nähe herumgebrüllt wurde. Eigentlich war Dixie Clays Mann Jesse heute Nachmittag gar nicht zu Hause. Sie machte kehrt, kämpfte sich ans Ufer zurück und kletterte aus dem wirbelnden Bach, die Watstiefel voll Wasser.

Das Haus war etwa einen halben Kilometer entfernt. Dixie Clay legte die Strecke im Laufschritt zurück und war froh, ausgerechnet heute eine von Jesses alten Hosen zu tragen und die Winchester dabeizuhaben. Sie war eine leichtfüßige Frau, aber der Regen hatte ihre vierzig Hektar Land überflutet, und der knöcheltiefe, schlürfende Schlamm zerrte schmatzend an ihren Stiefeln. Sie duckte sich unter Kiefernästen durch und schlug einen Bogen um ein Brombeergestrüpp, als sie plötzlich Jesse hörte. Was er sagte, konnte sie nicht verstehen, aber da waren auch noch fremde Stimmen, mindestens zwei. Bis vor ein paar Jahren waren die Kunden zu ihnen nach Hause gekommen, aber Jesse wollte das nicht mehr. Er hatte etwas dagegen, dass sie mit anderen Männern sprach. Doch diese Fremden klangen ohnehin nicht wie Kunden.

Sie erreichte die Hügelkuppe und ließ sich auf den Bauch fallen. An der Hintertür war niemand zu sehen – die Männer mussten irgendwo vor dem Haus sein. Dixie Clay machte sich an den Abstieg und schreckte zusammen, als sie im nassen Laub ausrutschte und eine kleine Lawine aus Geröll und Kiefernzapfen lostrat. Mit mehr Vorsicht schlich sie im dunklen Baumschatten zur Hausecke. Die Stimmen waren jetzt deutlicher zu hören, die Männer aber immer noch außer Sicht. Sie war jetzt noch etwa zweihundert Meter entfernt. Um näher heranzukommen, würde sie ihre Deckung verlassen und hinter die Tulpenbäume am Ende der Wäscheleine laufen müssen. Sie duckte sich, rannte los und hatte schon den halben Weg geschafft, als ein Schuss fiel.

Sie warf sich hinter die Bäume und kauerte atemlos im Gras.

Eine fremde Stimme ertönte. »Du willst wohl, dass ich dich einfach erschieße?«

Die Antwort war nur ein Murmeln.

»Dann halt das Maul.«

Dixie Clay musste unbedingt näher heran. Sie hörte ein ratterndes Stakkato – eine Klapperschlange? Doch es war Anfang April und die Klapperschlangen noch unter der Erde. Es sei denn, der Regen hätte sie herausgespült? Sie atmete tief durch und zwang sich, nach unten zu schauen. An ihren zitternden Fingern schlug der Ehering gegen den Lauf der Winchester. Dix, sagte sie zu sich selbst. Dixie Clay Holliver. Immer mit der Ruhe.

Sie schob sich zwischen den glatten Baumstämmen durch und duckte sich wieder. Ihr Blick wanderte zu dem Graben, wo die mickrigen Rosensträucher ertrunken waren, und weiter bis zur Veranda. Und da war Jesse. Er saß im Schaukelstuhl, neben ihm standen zwei Männer. Der eine war Anfang zwanzig, glatt rasiert und gerade dabei, seine Pistole ins Schulterhalfter zurückzustecken. Der andere, älter und mit Vollbart, trug einen Homburger und lehnte am Handwagen, auf dem sich die Whiskeykisten stapelten.

Zuerst erkannte sie die Männer nicht wieder, aber dann fiel ihr ein, wie sie vor ein paar Tagen am Tresen von Amitys Laden die Stärke der verschiedenen Seile geprüft hatte, als neben ihr ein Mann aufgetaucht war. Sie hatte ihn gar nicht beachtet. »Ich frage mich, ob man damit eine kaputte Reisetasche verschnüren könnte«, sagte er und ließ ein Stück Seil zwischen den Händen schnappen. Sie tat so, als fühlte sie sich nicht angesprochen, ging zu den Angelködern weiter und überließ Amity das Reden. Trotzdem hatte sie die Blicke des Fremden auf sich gespürt. Sie war eine kleine Frau, das mochten die Männer. Sie mochten auch ihre braunen Locken und das Sternbild aus Sommersprossen auf ihrer Nase. Doch Dixie Clay konnte sich nicht darüber freuen. Lange war es her, dass sie ihre Beine zu etwas anderem gebraucht hatte, als zur Destille zu laufen, oder ihre Arme zu etwas anderem als zum Rühren von Maische.

Als sie an jenem Tag aus dem Laden auf die Straße getreten war, hatte sie den Fremden noch einmal gesehen. Er hatte an einem Auto gelehnt und sich mit einem zweiten Mann unterhalten – über sie, das war offensichtlich. Vielleicht wäre ihr, wenn sie – statt davonzueilen – einen zweiten Blick riskiert hätte, klar geworden, wer diese Männer wirklich waren. Aber Dixie Clay hatte keinen zweiten Blick riskiert. Der Regen hatte viele seltsame Typen in die Stadt gespült. Manche schleppten Sandsäcke, andere waren Ingenieure oder Reporter, wieder andere patrouillierten als Nationalgardisten auf den Deichen und hielten die Saboteure fern.

Und jetzt hatte der Regen ihnen also diese beiden Prohibitionsagenten gebracht. Dixie Clay hockte mit klopfendem Herz im Gras und spähte durch die kümmerlichen Azaleen am Fuß der Tulpenbäume. Jesse wirkte sehr klein, wie ein ungezogener Schuljunge. Seine Arme waren auf den Rücken gebogen und steckten zwischen den Streben der Schaukelstuhllehne. Vermutlich trug er Handschellen. Sie hatten ihn gefesselt, aber nicht erschossen. Sein zitronengelbes Hemd steckte noch im Hosenbund.

»Wie wäre es«, sagte der jüngere Agent und klopfte eine Lucky Strike aus dem Päckchen, »wenn wir später wiederkommen und einen Reporter von der Zeitung mitbringen?« Der ältere Mann schüttelte den Kopf, doch der jüngere sprach weiter. »Wie haben diese Typen aus Jackson es denn angestellt, dass ihr Foto in der Zeitung abgedruckt wurde? Hast du dich das mal gefragt?« Er hielt inne, schob sich die Zigarette zwischen die Lippen und entzündete ein Streichholz. »Sie haben vorher bei der verdammten Zeitung angerufen. So läuft das nämlich.« Er blies den Rauch aus und ließ das Streichholz auf die Holzplanken der Veranda fallen. »Sie fahren nicht in die Pampa und hacken auf Fässer voller Feuerwasser ein, ohne dass jemand danebensteht. Nein, Sir. Vorher rufen sie bei der Zeitung an, binden sich eine Krawatte um und schmieren sich Pomade ins Haar. Und erst wenn das Stativ steht, machen sie einen auf Jack Dempsey.«

Dixie Clay hoffte, Jesse würde in ihre Richtung sehen und ihr irgendwie vermitteln, was sie jetzt tun sollte. Aber falls er ahnte, dass sie in der Nähe war, ließ er sich nichts anmerken. Er starrte stur geradeaus, mit erhobenem Kinn. Aus dieser Entfernung wirkten seine Augen schwarz, ganz anders, als sie eigentlich waren: das rechte blau und das linke grün.

Der ältere Mann verschränkte die Arme, stützte sie auf den Griff des Handwagens und stellte einen Fuß auf die Metallstange. Er trug Brogans, keine Stiefel, was bedeutete, dass er keine Waffen an den Knöcheln trug, und ein Schulterhalfter konnte Dixie Clay auch nicht erkennen. Neben der Haustür lehnte eine Schrotflinte – möglicherweise seine einzige Waffe. »Warum willst du deine Visage unbedingt in der Zeitung sehen?«

»Du denn nicht?«, fragte der jüngere Agent zurück. »Möchtest du denn nicht, dass deine Frau bei den Abstinenzlerinnen was zum Prahlen hat? Außerdem wäre es gut für den Wahlkampf. Und wir kriegen eine Gehaltserhöhung, jede Wette.« Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und sah seinen Partner fragend an. »Stell dir doch mal vor, wie wir da hinten stehen« – er wedelte mit der Zigarette zur Brennerei hinüber – »und die Axt schwingen, dass der Whiskey nur so aus den Fässern spritzt. Die Destille ist groß, noch größer als die, die sie neulich in Sumner hochgenommen haben, das garantiere ich dir. Und im letzten Monat hatten wir so wenige Verhaftungen, dass wir uns nicht mal ein Steak im Restaurant leisten konnten.«

»Hier draußen gibt es kein Telefon. Wir müssten in die Stadt zurückfahren, die Zeitung anrufen und wieder herkommen. Das würde fast eine Stunde dauern.«

»Dann sollten wir uns auf den Weg machen, bevor es dunkel wird. Ich hole das Auto.«

Zum ersten Mal sagte Jesse etwas. »Meine Herren …«

Der ältere Mann wirbelte augenblicklich herum und versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht, so heftig, dass der Schaukelstuhl sich auf den Kufen wiegte, für eine Sekunde auf der gebogenen Spitze innehielt und dann wieder nach vorn kippte.

Dixie Clay hatte nicht gezielt, sie hatte nicht einmal schießen wollen, aber plötzlich zischte eine Gewehrkugel über das Hausdach hinweg. Die Männer zuckten zusammen und warfen sich zu Boden, so wie Dixie Clay selbst. Der Bärtige kroch hinter die Whiskeykisten, der andere hinter Jesses Schaukelstuhl. Dixie Clay starrte erschreckt nach unten, auf die Winchester. Nun würden sie bestimmt noch größeren Ärger bekommen, denn auf keinen Fall würde sie zwei Prohibitionsagenten erschießen, nur um Jesse zu retten. Ehrlich gesagt träumte sie manchmal davon, Jesse zu erschießen. Nun ja, vielleicht nicht gerade zu erschießen, aber loszuwerden. Er sollte einfach so verschwinden, unblutig und in weite Ferne.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, brüllte Jesse plötzlich in die unheimliche Stille – selbst die Vögel waren verstummt – hinaus:

»Jungs! Noch nicht schießen! Ich weiß, ihr habt sie im Fadenkreuz« – Dixie Clay sah, wie die beiden Agenten einen Blick tauschten – »aber tötet sie erst, wenn sich die Angelegenheit nicht friedlich klären lässt.« Er drehte den Kopf zu dem Mann um, der ihn als Deckung benutzte. »Wenn Sie Ihr Foto wirklich jemals im Delta Democrat sehen wollen, sollten Sie jetzt die Waffe hinlegen und meine Handschellen aufschließen. Es sei denn, Sie sind mit einem Nachruf zufrieden.«

Der ältere Mann lag am anderen Ende der Veranda und beäugte die Schrotflinte neben der Tür. Sie war vielleicht zwei Meter von den Whiskeykisten entfernt, hinter denen er sich verschanzt hatte.

Jesse bemerkte seinen Blick und redete schnell weiter. »Von euch ist nur einer bewaffnet, aber ich habe vier gottlose Schnapsbrenner, die jetzt, in diesem Augenblick, auf eure Kronjuwelen zielen. Also lasst die Waffe fallen und macht mich los.«

Stattdessen tauchte hinter dem Schaukelstuhl der Ellenbogen des jüngeren Agenten auf, eine Pistole wurde in die Höhe geschoben und von unten in Jesses Kiefer gedrückt. Der Agent brüllte:

»Ergebt euch! Sonst schicke ich ihn zur Hölle, denn ehrlich gesagt steht mir genau danach der Sinn. Wir werden euch jetzt alle festnehmen, schön langsam und einen nach dem anderen.«

Jesse warf den Kopf in den Nacken. Anscheinend fand er die Vorstellung zu komisch. »Na los doch«, gluckste er. »Eure Drohungen sind weniger wert als ein Köttel Waschbärenscheiße. Den Kerlen ist doch egal, ob ihr mich erschießt. Damit würde ihr Stück vom Kuchen nur noch größer. Und ihr …« Jesse schnalzte dreimal in schneller Folge mit der Zunge. »… ihr seid für sie doch nur eine willkommene Schießübung.«

Er begann zu schaukeln, als wäre heute ein friedlicher Sonntagnachmittag und als hätte er nichts Besseres zu tun, als ein paar Erbsen zu pulen. Hinter ihm flog eine Faust in die Höhe und hielt den Schaukelstuhl fest. Die Bewegung war unterbrochen, aber Jesse wirkte trotzdem gelöst und schlug die Füße in den zweifarbigen Stiefeln übereinander.

»Jawohl«, fuhr er fort, streckte einen Fuß aus und ließ ihn im Sprunggelenk kreisen. »Die langweilen sich, außerdem sind sie von der streitlustigen Sorte. Ehemalige Scharfschützen aus dem Krieg, jawohl, die sind hier und arbeiten für mich. Wahrscheinlich juckt es sie geradezu in den Fingern, ein bisschen Blei zu verspritzen.« Jesse hob das Kinn und rief in den Wald: »Hey, Clay! Zeig ihnen, wie du den deutschen Kaiser besiegt hast!« Er hielt inne und sah sich auf der Veranda um. »Ziel auf den Kuchenteller!«

Vom Verandadach hing ein Kuchenteller aus Blech an einer Schnur. Dixie Clay hatte ihn mit Vogelfutter gefüllt. Nun hob sie die Winchester und zielte.

Clay. Dixie Clay. Du schaffst das. Bist du nicht das Mädchen, das beim Tontaubenschießen das Blaue Band gewonnen hat, damals, als du noch Zöpfe getragen hast? Sie erinnerte sich an die vielen Jahre, in denen sie mit ihrem Vater auf die Jagd gegangen war, und daran, wie sie einmal aus einem Eichenwäldchen heraus einen Puma erlegt hatte. Sie besann sich auf jenen Schuss, und dann besann sie sich auf diesen und drückte den Abzug. Der Kuchenteller schepperte und zappelte an der Schnur, das Vogelfutter zerstob in der Luft und regnete prasselnd zu Boden.

Dixie Clay nutzte die Ablenkung und krabbelte hinter den Sassafrasbaum, die letzte Deckung auf der abschüssigen Böschung. Nun trennten sie noch zehn, zwölf Meter von der Veranda.

»Ha!«, rief Jesse und schaute zu, wie der Kuchenteller an der Schnur schwankte. »Jetzt wird es lustig. Ich sag euch was«, wandte er sich an die Prohibitionsagenten und fing erneut zu schaukeln an, »wie wäre es mit einer kleinen Vorführung? Hurra! Als Nächstes ist Vier-Finger-Fred an der Reihe.« Eine Sekunde lang war Dixie Clay von Jesses Gerede so gefesselt, dass sie erwartete, Freds Phantom neben sich zu sehen.

Jesse sprach weiter: »Freddie, du Spatzenhirn! Versuch mal, die Lucky Strikes da hinten zu treffen.«

Die Prohibitionsagenten starrten auf die Zigaretten, die immer noch dort lagen, wo der jüngere sie fallen gelassen hatte. Dixie Clay zielte auf den roten Kreis in der Mitte des grünen Päckchens. Sie wurde ganz ruhig und spürte abermals die elektrisierende Verschmelzung von Blick und Ziel, gerade so, als feuerte ihr Auge den Schuss ab, nicht ihr Finger am Abzug. Sie schoss, aber die Konfettiwolke blieb aus. Sie hatte zu tief gezielt. Immerhin war das Einschussloch in den Holzplanken kaum zwei Fingerbreit von dem Päckchen entfernt. Kein übler Schuss, alles in allem.

»Fred, Fred, Fred. Ich schätze, für den Schuss hättest du wohl einen fünften Finger gebraucht. Ziemlich schlampig, Fred. Das war wohl eher ein unlucky strike. Tja, Bill, jetzt liegt es an dir.« Jesse hielt demonstrativ nach möglichen Zielen Ausschau. »Ich sag dir was, Bill. Ich sage dir, was ich will. Ich kann diesen Homburg nicht leiden.«

Dixie Clay hielt nach dem Hut des älteren Agenten Ausschau, der knapp über die gestapelten Whiskeykisten ragte. Jesse fuhr fort: »Also, dieser Knick in der Mitte gefällt mir gar nicht. Heutzutage sind weiche, runde Bowlerhüte in Mode, das weiß doch jeder. Bill, tu unserem Freund einen Gefallen und schieß ihm die Falte aus dem Hut.«

Dixie Clay hinter dem Sassafrasbaum rührte sich nicht. Dem Mann den Hut vom Kopf schießen? Sicherlich wollte Jesse nicht, dass …

Doch Jesse redete schon weiter, immer noch in belustigtem Tonfall. Seine Anspannung konnte Dixie Clay nur heraushören, weil sie seit sechs Jahren mit ihm verheiratet war.

»Jawohl, dieser Gentleman, der die Mode der letzten Saison trägt und zitternd hinter dem von uns so mühselig gebrannten Fusel hockt, braucht Hilfe vom Herrenausstatter. Tu es für mich, Bill, und anschließend könnte dein Bruder Joe ihm vielleicht noch ein bisschen den Bart stutzen.« Jesse verzog den Mund und flüsterte dem jüngeren Agenten, der ihm noch immer die Pistole in den Unterkiefer drückte, theatralisch laut zu: »Ein gepflegtes Erscheinungsbild ist für einen Prohibitionsagenten unheimlich wichtig.« Dann wandte er sich wieder dem Wald zu: »Jetzt, Bill!«

»In Ordnung!«, knurrte der Bärtige. »Du hast gewonnen.« Er nickte seinem Partner zu.

Der junge Agent warf seine Waffe weg, sodass sie über die Holzplanken schlitterte. Dann rief er in Dixies Richtung: »Ich hole nur die Schlüssel raus, okay?«, und beugte sich zu Jesses gefesselten Händen hinter der Lehne hinunter.

Jesse sprang auf, bückte sich nach der Pistole, ging zur Tür und nahm die Schrotflinte an sich. Er richtete die Waffen auf ihre Besitzer. Einen Moment lang standen die drei so reglos da wie Schauspieler, die darauf warten, dass der Vorhang fällt.

»Tja, dann.« Jesse grinste, die weißen Zähne unter den Flügeln seines schwarzen Schnurrbarts blitzten. »Ich bringe die Agenten in die Stadt zurück. Mal sehen, ob wir uns einigen können. Falls es hier irgendwelche Scherereien gibt, habt ihr meine Erlaubnis zu schießen. Abgesehen davon läuft alles weiter wie gehabt.«

Er setzte einen Fuß auf den Getreidebehälter neben der Tür und verstaute die Pistole in seinem Stiefelschaft. Dann richtete er die Schrotflinte auf die beiden Agenten und deutete zur Verandatreppe. Sie stiegen hinunter, während Jesse hinter den Schaukelstuhl trat, wo die Handschellen immer noch von den Streben der Rückenlehne baumelten. Er zog sie heraus, steckte sie ein und folgte den Männern.

»Also dann«, sagte er, während sie durch den Matsch vor dem Haus wateten. »Wo habt ihr eure Klapperkiste versteckt?«

Dixie Clay konnte die Antwort nicht hören, aber sie sah, dass Jesses dunkel glänzender Haarschopf sich neigte wie bei einem Nicken, und dann wandte er sich nach Westen und trieb die Männer auf der Straße nach Seven Hills vor sich her. Die Sonne stand als orangegrauer Schmierfleck hinter den Wolken über dem Bergrücken, und Dixie Clay blickte dem Trio nach, bis es ebenso verschwunden war wie die Farben am Himmel. Dann würde Jesse sie also bestechen, und damit wäre die Sache erledigt. Nichts würde sich ändern. Sie lehnte die Stirn an die schuppige Rinde des Sassafrasbaums und stieß einen langen, zittrigen Atemzug aus. Die feuchte Borke roch nach Root Beer – Dixie Clay hatte es ganz vergessen. Eine Schweißperle lief ihr zwischen den Schulterblättern durch und an der Wirbelsäule hinunter. Sie lehnte dort an dem Baum, bis die Laubfrösche ringsum ihr Abendlied anstimmten.

Dann stieß sie sich vom Baumstamm ab und beschloss, noch einmal zum Bach zurückzukehren, um ihren Hut zu holen und nach dem Schiffskoffer zu sehen. Halb stolpernd, halb rutschend legte sie die restlichen Meter zum Haus zurück, setzte sich auf die Verandastufen und zog sich die Watstiefel von den Beinen. Sie stand auf und drehte den Schaukelstuhl, bis er wieder im richtigen Winkel zur Hauswand stand. Dann ging sie hinein und holte eine Laterne, jeden Schlüssel, den sie finden konnte, die kleine Fuchsschwanzsäge von Disston und eine Kneifzange. Sie aß einen Brotkanten und ein hart gekochtes Ei, und nachdem sie das Maultier gefüttert hatte, erklomm sie abermals den Hang, schlug sich zum Bach durch und suchte ihren Hut.

Der Koffer hing immer noch an dem Platanenstumpf fest. Sie zerrte ihn ans Ufer, wobei sie sich die Oberschenkel stieß und abermals vollkommen nass wurde. Inzwischen war es dunkel. Sie stellte die Laterne auf den Koffer und probierte alle mitgebrachten Schlüssel aus in der Hoffnung, einer davon könnte die magische Silhouette haben, doch Schlüssel für Schlüssel versagte. Genauso wenig gelang es ihr, das Schloss mit der Zange zu knacken. Sie wollte fast schon zur Säge greifen, als sie einen letzten Schlüssel ganz unten im Beutel bemerkte, ihn ins Schloss schob und die Riegel schnappen hörte.

In dem Koffer lag ein trockener Sack aus Gämsenleder. Dixie Clay lockerte den Kordelzug, und zum Vorschein kam eine Mandoline. Ein Prachtstück aus Mahagoni mit gerundetem Korpus.

Sie ließ den geöffneten Schiffskoffer im Uferschlamm stehen und nahm nur die Mandoline mit. Beim Gehen zupfte sie die Saiten und fragte sich, wie viel das Ding wohl wert wäre. Doch in Wahrheit hatte sie gar nicht vor, es zu verkaufen, obwohl weder sie noch Jesse spielen konnten.

Sie wünschte sich, Jesse würde nach Hause kommen und ihr erzählen, dass er die Angelegenheit mit den beiden Prohibitionsagenten einvernehmlich geregelt hatte. Dass sie Angst haben könnte, kam ihm wahrscheinlich nicht einmal in den Sinn. Alles, hatte er gesagt, solle weiterlaufen wie gehabt. Und weil ihr Geschäft das nächtliche Schnapsbrennen war und die Nacht gerade anbrach, war es wohl an der Zeit, zur Destille zu gehen.