13
KAPITEL
Ingersoll saß auf der Pritsche und sah in die andere Zelle hinüber. Es war, als würde man in einen Spiegel blicken und gleichzeitig abwesend sein. Captain Trudo saß am Schreibtisch, hackte auf der Schreibmaschine herum und ignorierte Ingersoll. Das Rauschen des Regens auf dem Dach hatte nachgelassen, durchs Fenster konnte Ingersoll einen kleinen Abschnitt des Dammes sehen, wo gebeugte Männer in Regenmänteln versuchten, das Wasser durch reine Willenskraft zu bändigen. Irgendwer war im Besitz des restlichen Dynamits. Was, wenn der Damm explodierte und er in dieser Zelle eingesperrt saß?
»Kann ich mal telefonieren?«
»Nicht bevor ich vom Sheriff gehört habe.«
Wann würde Ham sich denken, wo er jetzt war? Ingersoll hatte mindestens eine halbe Stunde lang vatterottsche Möbel geschleppt, anschließend hatte er eine weitere halbe Stunde damit verbracht, von dem Leichnam zu erfahren und ihn zu begutachten, und dann eine weitere mit Trudo. Sicher erwartete Ham ihn bald zurück. Andererseits wusste Ingersoll nicht mehr genau, was Ham noch von ihm erwartete.
Trudo holte die Blättchen aus der Schreibtischschublade und strich eines auf der Aktenmappe glatt.
»Darf ich rauchen?«
»Nicht bevor ich vom Sheriff gehört habe.«
Es war dumm, zu dumm.
Das Telefon klingelte. Der Captain hob den Hörer ab, warf Ingersoll einen flüchtigen Blick zu, schwang sich abermals herum und begann zu flüstern. »Nein«, sagte er, nachdem er eine Weile zugehört hatte, »ich sitze hier fest. Fangt ohne mich an.« Er legte auf und atmete geräuschvoll durch die Nasenlöcher aus. Er will mich genauso wenig hier haben, wie ich hier sein will, dachte Ingersoll, und da kam ihm eine Idee.
Er steckte eine Hand durch die Gitterstäbe und krallte die Finger in das zerknickte Stroh eines Besens, der neben seiner Zelle an der Wand lehnte. Er zog daran, der Besen kippte um und schlug mit einem lauten Knall auf dem Betonboden auf. Aber der Captain warf ihm nur einen bösen Blick zu und beugte sich dann wieder über die Schreibmaschine. Ingersoll versuchte, den Besen in seine Zelle zu ziehen. Als er es geschafft hatte, holte er sein Universalmesser heraus, klappte die Klinge auf, mit der er schon das Schloss von Dixie Clays Brennerei geknackt hatte, und schob es unter die Klammer an dem Draht, der das Besenstroh zusammenhielt. Er hebelte die Klammer ab und wickelte dann einen guten Meter Draht auf. Der Captain schien es zu sehen, gab sich aber betont desinteressiert. Ingersoll schlang ein Ende des Drahts um eine Gitterstange und das andere um das Bein der Pritsche, sodass er sich zu einer Diagonalen spannte.
Trudo hielt es nicht mehr aus und drückte das Blatt hinunter, das aus der Schreibmaschine ragte und ihm die Sicht nahm. »Wenn Sie sich aufhängen wollen, müssen Sie den Draht weiter oben anbringen.«
Ingersoll hockte sich hin, steckte einen Arm zwischen die Gitterstäbe und hangelte nach dem hölzernen Keil, der die Tür zum Flur offen hielt. Es griff zu, zog den Türstopper durch die Gitterstäbe in die Zelle und schob ihn dicht vor dem Pritschenbein unter den Draht, der sich noch stärker spannte.
»Was zum Teufel tun Sie da?«
Ingersoll holte die leere Black-Lightning-Flasche heraus, die er aus Dixie Clays Destille mitgenommen hatte. Er schlug sie auf den Draht, ein heller Ton ertönte. Und dann spielte er. Er schob die Flasche über den Draht, um die Tonhöhe zu ändern, und benutzte die andere Hand zum Zupfen. Er sang Gefängnislieder, ziemlich laut, und strich dabei über seinen selbst gebastelten Diddley Bow, während der Captain vorgab, zu tippen, zu lesen und nachzudenken.
Ingersoll konnte den ganzen Tag lang Gefängnislieder spielen, er hatte sie in Frankreich von den schwarzen Soldaten gelernt. Dort drüben hatte er die Überraschung seines Lebens erlebt. Er und ein Kumpel hatten übers Wochenende Ausgang bekommen und waren ins Pariser Le Grand Duc gestürmt, wo es angeblich die beste Musik von Montmartre zu hören gab. Sie hatten es sich gerade mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern gemütlich gemacht, als Ingersoll ein vertrautes Gitarrenriff hörte, und bei Gott, wenn das nicht Skinny Nellie war, der ihm – in einem anderen Leben, im Chicago von Lizzie Looey – das Gitarrespielen beigebracht hatte. In der Pause fielen sie einander um den Hals, was sie im Lantern nie getan hatten. In Frankreich war alles einfacher. Das erklärte Skinny ihm, als sie später hinter dem Club standen.
Sie lehnten an der Backsteinmauer und teilten sich eine Zigarette mit Cannabis, das Skinny »Teeblätter« nannte. Nach einem tiefen Zug blies er den Rauch aus und zuckte mit den Achseln. »Hier drüben scheinen die Weißen uns zu mögen. Wenn ich mein Solo spiele und zwischen den Tischen rumgehe«, sagte er grinsend, »schieben die weißen Frauen ihre dünnen Ärsche beiseite, um mir Platz zu machen. Die hoffen wohl, der alte Skinny würde bei ihnen mal kurz die Beine hochlegen.«
Sie hatten zusammen gelacht, alles hatte sich so leicht angefühlt. Zu ihren Füßen lag ein kaputtes Fahrrad. Skinny zog den Reifen ab, und während sie sich unterhielten, schnitt er den Draht heraus und fixierte ihn an einem Nagel in der Hintertür. Ingersoll hatte auf einer Saite gespielt, bevor er seine erste Gitarre bekam, aber das war Jahre her, deswegen schaute er sehr genau hin. Skinny musste geahnt haben, dass er seinem ehemaligen Schüler die letzte Lektion erteilte, denn seine Bewegungen waren präzise. Er spannte den Draht, befestigte das andere Ende und verkeilte eine leere Schnupftabakdose darunter, und dann zupfte er auf seinem Diddley Bow herum, während sie Anekdoten über Paris und die Musikszene austauschten und in Erinnerungen an Chicago schwelgten. Lizzie erwähnten sie mit keinem Wort. Ingersoll fragte nicht nach ihr und wollte auch gar nichts wissen. Als es Zeit für das zweite Set wurde, bot Skinny Ingersoll an, ihm noch ein paar Teeblätter zu rollen, aber Ingersoll lehnte dankend ab. Skinny boxte ihn sanft in den Oberarm und ging hinein, und Ingersoll blieb noch eine Weile in der Gasse stehen und wunderte sich darüber, dass die Welt so groß war und doch so klein.
Jetzt spielte er eines von Skinnys Liedern, »Set Me Free«, und jaulte zum Captain hinüber:
Well, I was a good man and should be free
State made a prisoner out of me.
Der Captain nahm einen weiteren Anruf entgegen und musste schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Ingersoll spielte noch lauter und wünschte sich, er hätte eine Farbdose als Resonanzkörper zur Hand.
Er erinnerte sich an das einsaitige Banjo, das er in Frankreich aus einer Keksdose und einem Fahrradreifen gebastelt hatte, gefunden im Keller eines ausgebombten Hauses. Ein Bo-jo, so hatte er es genannt. Meine Güte, was war das Ding laut gewesen. Laut und durchdringend. Er hatte sich nie entscheiden können, ob es wunderbar oder schrecklich klang. Einmal spielte er es nachts für seine Kameraden, während sie beschossen wurden, er spielte und sang, so laut er konnte, um den kreischenden Himmel zu übertönen, der sich anscheinend die Haare ausriss. Lauter, schrie einer der Männer, und er spielte immer lauter.
Als der Morgen endlich dämmerte, waren sie immer noch am Leben, jeder Einzelne von ihnen, wenn auch mit Ohrenschmerzen. Er hatte zwei Tage lang keine Stimme mehr gehabt.
»Oh, Rosie«, heulte er jetzt aufsteigend, geradezu betrunken vor Erschöpfung – wann hatte er zuletzt geschlafen? Der Damm, das kranke Baby, der Knast … »Whoa, Rosie!« Seinen Lieblingsvers sang er gleich zweimal, immer in Richtung des Captains:
Stick to the promise, gal, you made me
Wasn’t gonna marry till I go free – Whoa, Rosie –
When she walks she reels and rocks behind
Ain’t that enough to worry a convict’s mind.
Ingersoll begann wieder mit dem »Oh, oh, Rosie«, als er bemerkte, dass die Tür zum Flur einen Spaltbreit geöffnet war und die Polizisten im Takt nickten. »Oh, Rosie, oh.« Der Captain warf den Telefonhörer auf die Gabel, riss das Blatt aus der Schreibmaschine und zerknüllte es. Ingersoll hatte inzwischen »Early in the Morning« angestimmt und war gerade bei der besten Stelle angekommen, »Eagle on a dollar quarter, gonna rise and fly«, als der Captain etwas aus der Schublade schnappte, von seinem Sessel aufsprang und zu Ingersolls Zelle stampfte. Endlich, dachte Ingersoll. Aber das glitzernde Metall war kein Schlüssel. Es war eine Zange. Der Captain kappte den Besendraht, der wie eine Wassermokassinotter auf Ingersolls Kopf zuschoss.
Jetzt saß er auf der Pritsche und stützte mürrisch das Kinn in die Hände. Die Müdigkeit drückte auf seine Schultern wie Mrs. Vatterotts Schrank. Er war nicht bloß erschöpft vom Möbelschleppen oder von der schlaflosen Nacht, als er wie ein dunkles, sternenloses Firmament über dem kranken Baby geschwebt hatte, oder vor Ratlosigkeit, weil er nicht wusste, was er mit Dixie Clay machen sollte, oder von seinen gescheiterten Bemühungen, die vermissten Prohibitionsagenten zu finden – sondern auch von dem Gefühl, dass er den Mississippi mit eigenen Armen in sein Bett zurückdrücken musste, falls das von ihm erwartet wurde, und anscheinend wurde es erwartet. Vage erinnerte er sich an die Geschichte von dem Jungen, der einen Finger auf einen Riss in einem Damm gelegt hatte, aber er war zu müde, um sich an das Ende der Geschichte zu erinnern. Eine Welle der Erschöpfung überkam ihn wie Übelkeit, und er dachte: Wenn ich die Augen schließe und mich hinlege, fällt es mir wieder ein.
Als er aufwachte, war es draußen vor dem Fenster dunkel und drinnen im Gefängnis sehr hell. Und Hams wütende graue Augen zwischen den wutroten Koteletten waren dunkel und hell zugleich. »Hier bist du gewesen? Die ganze Zeit?«
Ingersoll schwang die Beine von der Pritsche, und der seltsame Traum von Dixie Clay verflüchtigte sich wie Rauch. In dem Traum hatte sie ihn gebeten, Willy festzuhalten, während sie die Hände in den Fluss tauchte und das Wasser in Whiskey verwandelte, und die Stadtbewohner tranken davon und waren in Sicherheit.
»Ham«, krächzte Ingersoll. »Du bist da!«
Ham wandte sich an den Captain, der Solitär spielte. »Wie lange hat er geschlafen?«
Trudo beugte sich vor, als müsse er das Blatt konsultieren. »Sechs, sieben Stunden.«
»Lassen Sie ihn raus, damit ich ihn umbringen kann. Und dann können Sie mich einsperren.«
»Suchen Sie sich eine andere Zelle aus«, sagte Trudo und legte eine Karte ab. »Er bleibt da drin, bis ich vom Sheriff höre, dass die Prohibitionsbehörde für ihn bürgt.«
»Geben Sie den verdammten Telefonhörer her«, sagte Ham, und als er ihn hatte, brüllte er die örtliche Vermittlung an, er wolle mit der Fernvermittlung verbunden werden, und noch in seiner Zelle konnte Ingersoll ein kühles »Bitte warten Sie« hören. Während des Telefonats ließ Ingersoll den Kopf hängen und schob die Stiefelspitze durch den losen Haufen Besenstroh. Jemand sollte es zu Gold spinnen.
Der Commissioner nahm den Anruf entgegen und bestätigte Ingersolls Identität ohne Weiteres. Der Captain legte die Karten hin, fischte den Schlüssel heraus und gab ihn an Ham weiter, der die Gittertür aufschloss. Ingersoll trat heraus.
»Ihr Revolver«, rief der Captain Ingersoll nach, der schon fast aus der Tür war.
Ingersoll kehrte um, nahm die Waffe vom Schreibtisch, schnappte sich zwei der selbst gedrehten Zigaretten des Captains und gab eine an Ham weiter. Noch im Flur hörte er, wie Trudo den Hörer von der Gabel hob. Ingersoll konnte sich denken, wen der Captain anrief würde. Jesse würde wütend sein, keine Frage, aber Trudo hatte Ingersoll so lange festgehalten wie möglich. Das würde sogar Jesse einsehen.