Kapitel 7
Technologie als Machtinstrument

Die beschriebenen ESG-Aufgaben werden den Einsatz erheblicher personeller und intellektueller Ressourcen und auch neuer automatisierter Methoden erfordern. Und erst recht gilt dies für die dritte Dimension, die wir betrachten: Technologie.

In einem Bloomberg-Artikel zum 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 schreibt der britische Historiker Niall Ferguson, dass die größten Veränderungen unserer Zeit nicht ideologischer oder geopolitischer Natur gewesen seien, sondern technologischer. Und weiter: »Sie waren auch die am schwierigsten zu prognostizierenden.« Technologische Entwicklungen sind oft exponentiell oder sogar sprunghaft. Sie beginnen zunächst langsam und es scheint, als ob sich nichts verändern würde – doch dann geht es los und wird immer schneller. Eine faszinierende Studie des Pew Research Center hat analysiert, wie lange es dauert, bis die amerikanische Bevölkerung eine neue (Basis-)Technologie angenommen hat. Heraus kam: Es dauerte rund 45 Jahre, bis 25 Prozent der US-Bevölkerung Elektrizität nutzte, 35 Jahre für die Nutzung des Telefons in gleichem Umfang, aber nur noch sieben Jahre für das Internet und fünf Jahre für das Smartphone. Unsere Kinder kennen kein Festnetztelefon mehr, aber sie beherrschen bereits mehr Funktionen auf dem iPad als wir. Und das ist erst der Anfang.

Mit anderen Worten: Die Fortschritte, die wir dank neuer Technologien in allen Lebensbereichen bereits erzielt haben, sind immens, und doch stehen uns noch Innovationssprünge bevor: Wenn wir mit Quantencomputern endlich komplexe Simulationen durchführen können, um neue Medikamente, Werkstoffe oder Chemikalien zu (er-)finden. Wenn wir mit lokalen KI-basierten Fabriken in Losgröße 1 mit 3-D-Druckern individuelle Bedarfe decken können, wenn wir mithilfe biotechnologischer Verfahren endlich Krankheiten heilen oder ihre genetische Entstehung vermeiden können. Wenn wir die mit Technologie stets verknüpfen Risiken managen können – die ethischen, die des Missbrauchs, die der Politisierung.

Womit wir bei der Macht von Technologien wären.

Mit Macht verbinden wir Militär und Politik. Doch im Hinblick auf die Entwicklung eines Landes etablieren sich immer mehr Technologie, technologische Innovationskraft und Finanzkraft als Machtfaktoren. Das ist im Grunde kein Wunder.

Wenn vor 20 Jahren geopolitische Themen diskutiert wurden, spielte Technologie noch eine untergeordnete Rolle. Es ging meist um Territorien und Rohstoffe. Heute dagegen ist der Einfluss von Staaten und Regierungen eng mit dem Technologisierungsgrad ihrer Wirtschaft verbunden. Wem es gelingt, bei Schlüsseltechnologien wie künstlicher Intelligenz oder Mikrochips weltweit führend zu sein, Standards zu setzen und durchzusetzen, wird seinen Einfluss politisch und wirtschaftlich weiter ausbauen können. Genau das ist einer der wesentlichen Treiber des USA-China-Konflikts. Die Formel der Zukunft heißt folgerichtig: Industriepolitik ist Technologiepolitik ist Sicherheitspolitik, und wer außenpolitisch gestalten will, braucht Kapital und Technologie statt Waffen.

Machtinstrumente in der globalen Zusammenarbeit

In Deutschland und Europa zeigt man sich in dieser Hinsicht noch zögerlich. Technologie wird noch zu wenig als Machtfaktor betrachtet; von einer technologischen Innen- und Außenpolitik ist selten die Rede – obwohl Investitionen in Technologie nicht nur zur Modernisierung von Staaten und Unternehmen führen, sondern darüber hinaus aufgrund ihrer wirtschaftlichen und handelspolitischen Bedeutung auch zu Machtinstrumenten in der globalen Zusammenarbeit mit anderen Staaten geworden sind. Zumindest Europa sollte dringend eine konsolidierte Technologie-, Wirtschafts- und Innovationspolitik entwickeln. Das legen jedenfalls folgende Zahlen nahe: Apple: 2,1 Billionen US-Dollar Bilanzsumme. Microsoft: 1,6 Billionen US-Dollar. Amazon: 1,5 Billionen US-Dollar. Tencent: 0,7 Billionen US-Dollar. Alibaba: 0,6 Billionen US-Dollar. Und so weiter.

Die wertvollsten Unternehmen, gleichzeitig die größten Plattformen, sind alle entweder amerikanisch oder chinesisch; das gilt gleichermaßen für B2B-Cloud-Anbieter, B2C-Konsum- und Kommunikationsplattformen. Wenn Europa, das heißt die EU, wirklich mehr Souveränität anstrebt, muss sie hier unbedingt zu einem selbstständigen Mitspieler werden, was sich in absehbarer Zeit als nicht leicht erweisen wird. Im Oktober 2021 war allein Apple so viel wert wie der gesamte DAX.

Die Unternehmenswerte der Technologiekonzerne schrauben sich in immer größere Höhen. Vor allem US-amerikanische und chinesische Firmen geben den Ton an – und schon die Aufzählung der größten Player macht eines deutlich: Europa wird immer mehr zum Zuschauer, zum Abnehmer und damit abhängig. Es hat den Anschluss verloren. Wir mögen von digitaler Souveränität sprechen, vom Plan namens Gaia-X, um endlich eigene, unabhängige, europäische Cloud-Angebote zu schaffen und damit mehr Unabhängigkeit von den US-Plattformen wie Google oder Amazon Web Services (AWS) zu erreichen. Diesen Bemühungen wird allerdings von Experten etwas spöttisch der Status »Jugend forscht« zugesprochen, das heißt ein Status, in dem ausprobiert wird, was andere längst anbieten.

Dieses gesamteuropäische Tüfteln an Gaia-X mag sinnvoll sein, um europäische Standards zu setzen, auch um wieder etwas mehr Hoheit über Daten und Services zu erlangen, und es könnte erfolgreich sein, wenn es uns gelingt, eine moderne, edge-basierte Architektur zu entwickeln. »Edge-basiert« bedeutet, dass die Rechenleistung dezentral organisiert ist. Heutige Cloud-Strukturen sind noch zentralisiert. Aber allein im Hinblick auf das autonome Fahren und vor allem im Hinblick auf das Internet of Things (IoT) werden wir mehr edge-basierte Strukturen benötigen. Da kann dann die Rechenleistung vor Ort, beispielsweise an einer Ampel, abgerufen werden.

Doch der reale Status quo ist ein anderer: Der Großteil der Datenspeicherung und -verarbeitung findet heute in China und in den USA statt. Und der Großteil der dafür notwendigen Chips wird in Taiwan und Südkorea produziert, das IP kommt aus den USA. Europa schaut mit ganz wenigen Ausnahmen wie ASML, Trumpf oder Zeiss zu – und zwar nicht nur, was die Unternehmensseite angeht (wir haben keine sogenannten Hyperscaler und auch kaum relevante Halbleiterunternehmen), sondern eben auch im Hinblick auf den machtpolitischen Aspekt. Das gilt insbesondere für Deutschland. Dazu Simone Menne von der American Chamber of Commerce in Germany: »Grenzübergreifender Datenaustausch spielt in allen Unternehmen eine entscheidende Rolle. Hier müssen sichere Standards entwickelt werden. Rechtsunsicherheit gefährdet unternehmerisches Handeln. Ein Decoupling wäre eine schwierige Entwicklung.«

Doch treten wir noch einmal einen Schritt zurück und widmen uns einigen grundliegenden Fragen. Warum ist Technologie so wichtig und zum Machtinstrument geworden? Welche Technologien stehen im Mittelpunkt und warum?

Digitaler durch die Pandemie

Digitalisierung ist wichtig, ja sogar überlebenswichtig – davon ist längst nicht mehr nur die Digitalbranche überzeugt. Nach einer Umfrage des Branchenverbands BITKOM sind 70 Prozent der Unternehmen, deren Geschäftsmodell bereits digitalisiert ist, dadurch besser durch die Corona-Pandemie gekommen, wie auch 65 Prozent der Unternehmen, deren Geschäftsprozesse bereits digitalisiert waren. Wenig überraschend gab kein einziges Unternehmen an, die Digitalisierung habe während der Pandemie an Bedeutung verloren. Immer mehr Unternehmen in Deutschland sind folglich bestrebt, ihren Rückstand aufzuholen. Doch nicht nur Unternehmen, wir alle haben durch die Pandemie ein neues Bewusstsein für die Bedeutung von Technologie gewonnen. Online-Konferenzen, das Homeoffice und digitale Tools haben innerhalb weniger Monate eine breite Akzeptanz gefunden und gehören heute für viele Menschen zum Alltag. Auch in das Bewusstsein etablierter Industrien und digitalferner Bevölkerungsgruppen ist eingedrungen, dass tatsächlich ein Wandel stattfindet – und dass von einem solchen Wandel nicht nur auf Digitalfachkonferenzen und in Start-Up-Zirkeln gesprochen wird.

Offenbar hatten Expert:innen recht, die genau diesen Wandel prophezeiten. Dass es jedoch so rasch zu einem Digitalisierungsschub kommen und er so dynamisch ausfallen würde, war nicht zu erwarten, vor allem auch nicht, wie gnadenlos viele Prozesse in den Jahren 2020 und 2021 digitalisiert wurden. Etwa Meetings: Die Anzahl der monatlichen Aufrufe der Plattform Zoom lag nach Angaben des Statistischen Bundesamts im Februar 2020 noch bei 106 Millionen, bis Oktober 2020 hatte sich die Nutzung auf 2,8 Milliarden monatliche Aufrufe hinaufkatapultiert. Eine Plattform, die die meisten bis dahin nur halbherzig nutzten, wurde zu einem elementaren Bestandteil der Zusammenarbeit von Teams, Abteilungen und Unternehmen. Und Zoom ist nur eine Plattform eines Anbieters einer Kommunikationstechnologie.

Tatsächlich haben wir in den Jahren 2020 und 2021 fast schon so etwas wie eine Explosion der digitalen Interaktion erlebt. In der Hochphase der Pandemie hat laut Angabe des Statistischen Bundesamts die Zahl der Online-Transaktionen im Schnitt um 40 Prozent zugenommen. Unter diese Transaktionen fallen alle Versand-, Bezahl- und Streaming-Aktivitäten. Im B2C-Bereich ist der Trend überdeutlich, doch auch hier gilt, dass die meisten dieser Transaktionen nicht unter Beteiligung deutscher oder europäischer Plattformen stattfinden. Gerne würde man sagen: noch nicht. Doch dafür müsste sich irgendwo am Horizont eine europäische Internetplattform abzeichnen. Das erscheint jedoch allzu optimistisch.

Die Herausforderung für das gesamte kommende Jahrzehnt wird darin liegen, bei aller Erkenntnis und Einsicht das Thema wirklich ernsthaft anzugehen. Noch immer fehlt es an Strategien, um die Kernbranchen in Deutschland zu transformieren. Das gilt auch und gerade für die Politik – sowohl als Branche als auch als Impulsgeber und Gestalter für andere Branchen.

Die Bedeutung des Themas hat die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zweifellos erkannt. Im August 2018 wurde per Kabinettsbeschluss der Digitalrat der Bundesregierung eingesetzt; ihm gehörten Chris Boos, Urs Gasser, Stephanie Kaiser, Ijad Madisch, Viktor Mayer-Schönberger, Beth Simone Noveck, Peter Parycek, Ada Pellert und Katrin Suder als Vorsitzende an. Seitdem haben wir neunmal mit der Regierung getagt, haben Themen auf die politische Agenda gesetzt, über 50 Umsetzungsempfehlungen gegeben und zahlreiche konkrete Projekte und Vorhaben aktiv unterstützt. Sieben Themenfelder standen im Zentrum: digitaler Staat, Daten und Gesellschaft, digitale Transformation von Wirtschaft und Arbeitswelt, Bildung und Lernen, Gründungen, digitaler Mindset und Kultur sowie Geopolitik von Tech und digitale Souveränität.

Vieles am Digitalrat war neu. Unsere Zusammensetzung war von tiefer Expertise und hoher Diversität geprägt und unsere Vorgehensweise ungewöhnlich für Gremien: Wir haben keine langen Papiere geschrieben, wir hatten keine Geschäftsstelle und wir haben keinen Schwerpunkt auf Pressearbeit gelegt. Wir glauben, dass all dies Voraussetzungen für die erfolgreiche Arbeit des Rats waren.

Auch wenn einiges in den letzten drei Jahren erreicht wurde, so gibt es doch noch viel zu tun, und der weiter dringend notwendige Fortschritt der Digitalisierung liegt uns am Herzen. Politik und Verwaltung kann das nicht allein, es braucht die Unternehmen.

Und viel zu viele Unternehmen erkennen noch nicht das Potenzial einer grundlegenden Neugestaltung, sondern verwenden einen Großteil des durchaus erheblichen Digitalisierungsbudgets für Effizienzinnovationen oder sogar für den Transfer alter Methoden auf neue technische Grundlagen. Dabei könnten Investitionen in Digitalisierung so viel mehr sein. Um das zu verdeutlichen, betrachten wir zunächst zwei Dinge, die wenig miteinander gemein zu haben scheinen: einen alten Zehn-Mark-Schein und eine Hühnerfarm.

Die Grenzen der Glockenkurve

Mit einem Zehn-Mark-Schein ließ sich einst die Welt erklären. Um etwas genauer zu sein, tat dies Carl Friedrich Gauß (1777–1855), der berühmte Mathematiker, der die Normalverteilung und die Glockenkurve entdeckte. Beides wird heute noch mit seinem Namen verbunden. Und Gauß zierte die letzte Zehn-Mark-Note in Deutschland. Was im Gegensatz zur D-Mark allerdings geblieben ist, ist die Gaußsche Erkenntnis, dass statistische Wahrscheinlichkeiten normal verteilt sind, wenn sie sich um ihren Mittelwert drängen. Wir sprechen hierbei von der Gaußschen Normalverteilungskurve oder eben der Glockenkurve. Ein Beispiel: Durchschnittsbürger:innen in Deutschland haben einen IQ von 100, und je größer beziehungsweise kleiner der IQ-Wert, desto seltener tritt er auf – das gibt der Glockenkurve ihre charakteristische Form.

Wie Wahrscheinlichkeiten verteilt sind, zeigt sich auch bei Würfelspielen mit zwei Würfeln: Die Zwei, die Drei, auch die Elf oder die Zwölf werden seltener geworfen als Vieren, Fünfen oder Neunen – und besonders oft fallen Sechsen und Achten. Sie bilden um die Spitze mit der Sieben sozusagen den oberen Bogen der Glocke. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele für die Normalverteilung, etwa die Körpergröße aller 18-jährigen Männer in Deutschland. Auch hier gilt: Es gibt zwar kleinere und größere Männer, aber nur sehr wenige extrem kleine oder extrem große.

Das Gesetz dahinter, die sogenannte Normalverteilung, wird durch jene Glockenkurve beschrieben, die zu den Seiten hin steil abfällt. Zwar erreicht sie nie die Nulllinie, doch ihre Enden sind so nahe bei der Zahl Null, dass das Extrem immer die Ausnahme bleibt. Diese Normalverteilung hat lange unser Denken und Handeln bestimmt. Irgendwie sind die meisten Werte mittig; ein einzelner Aussetzer, ein einzelnes Ereignis kann das Gesamtergebnis nicht beeinflussen. Das scheint beruhigend. Und auch deswegen bestimmt die Glockenkurve beispielsweise die Finanzökonomie. Doch nicht zuletzt durch die Pandemieerfahrung wissen wir: So einfach ist es nicht.

Die beiden Finanzstatistiker Pasquale Cirillo von der Technischen Universität Delft und Nassim Nicholas Taleb von der New York University haben 2020 angesichts der COVID-19-Pandemie eine Studie erstellt, in der sie 72 Epidemien in der Geschichte der Menschheit mit jeweils mehr als 1 000 Todesopfern verglichen, wie die FAZ berichtete. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass die Opferzahlen großer Epidemien einer Verteilung mit dickem Ende folgen. Nicht »in der Mitte« sind die hohen Opferzahlen zu finden, sondern erst gegen Ende.

Weit mehr als ein Abschied

Man unterschätzt allzu leicht das Potenzial, das darin liegt, nicht mehr nur den Mittelwert im Blick zu haben. Um es deutlich zu sagen: Wir sind dabei, Gauß und seine Mittelwert-Verteilungskurve zu schlagen. Das lehrt etwa das faszinierende Beispiel der Hühnerfarm. Auf diesen Farmen orientiert man sich bis heute an Gauß und seiner Verteilungskurve, die letztlich die Grundlage der industrialisierten Produktion im Allgemeinen bildet. Übertragen auf die Hühnerfarm bedeutet das: Alle Hühner werden gleichbehandelt, das heißt, sie bekommen eine mittlere Menge Futter, Wasser und Nahrungsergänzungsmittel, wie das eben im Industriezeitalter so gehandhabt wird. Im Ergebnis werden dabei rund ein Drittel beste Hühner gezüchtet, ein Drittel weniger gute, die man später beispielsweise als Suppenhühner verwenden kann, und ein Drittel, das nicht den Anforderungen entspricht. Das nimmt man in Kauf, weil die Kurve angeblich aussagt, was die Hühner wollen, weil es um Skaleneffekte geht, weil alles andere nicht finanzierbar ist.

Inzwischen sind wir aber in der Lage, präzise und individuelle Daten zu sammeln und auch die Hühner individuell besser kennenzulernen. Mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz auf Hühnerfarmen lassen sich heute weit bessere Ergebnisse erzielen. So können bereits heute Hühnerställe mit Sensoren ausgestattet werden, die laufend Daten liefern. Die Gesundheit der Tiere wird überwacht, man kann Körpertemperaturen messen, sogar das Gegacker auswerten und natürlich präzise beobachten, ob die Tiere normal fressen und trinken. Eine Fülle von wichtigen Informationen über Haltung, Aufzucht und Schlachtung der Tiere wird transparent und hilft unter anderem dabei, Krankheiten und Ansteckungen zu vermeiden und vor allem Ressourcen zu steuern. Erste Versuche haben bereits gezeigt, dass mithilfe von Sensortechnik und KI statt 30 Prozent beste Hühner bis zu 80 Prozent beste Hühner erzeugt werden können, dazu 20 Prozent Suppenhühner – bei rund 40 Prozent weniger Nahrungsergänzungsmitteln. Das heißt: Einfach nach Maßgabe der Gaußschen Normalverteilung die Hühnerzucht zu betreiben, scheint weder angebracht noch zukunftsfähig, auch im Hinblick auf das Wohl der Tiere. Vielmehr gilt: Im Wandel vom Ungefähren zum sehr Präzisen liegt eine große Chance.

Von Medikamenten bis zum Energieverbrauch

Das Beispiel der Hühnerfarm lässt sich auf so ziemlich alles übertragen, das mit Ressourcen zu tun hat. Noch immer orientiert man sich an Gauß, steuert anhand des Mittelwerts und nicht anhand der konkreten, spezifischen Lage. Immer wieder blicken wir auf die Glocke, und das ist ein großes Versäumnis. Ob bei Medikamentendosierung oder -design, ob es Schnittmuster sind oder die Steuerung von Pumpen, ob die Aussaat von Saatgut oder die Bewässerung von Feldern und Treibhäusern, der Energieverbrauch in Gebäuden und vieles andere mehr: Alles wird noch immer nach Mittelwert errechnet, mal mit zu viel, mal mit zu wenig Ressourceneinsatz, aber nie passend. Es war bislang einfach nicht kosteneffizient möglich. Das ist jetzt anders. Das Potenzial ist nahezu unendlich. Weil es alle Industrien betrifft.

Deshalb bezeichnen wir Digitalisierung – insbesondere unter Einschluss von KI – als Basistechnologie, die wie Elektrizität unser gesamtes Leben verändert. Weil sich nach Lage der Dinge alles verändern wird, sprechen wir auch von der Vierten Industriellen Revolution. KI wird nicht nur Problemlösungen bereitstellen, sondern auch zu einem völlig neuen Grad an Automatisierung führen. Anders als bei vergangenen industriellen Transformationen werden durch Digitalisierung nicht mehr vor allem körperliche, sondern hauptsächlich geistige repetitive Aufgaben automatisiert, beispielsweise Tätigkeiten in Banken, Versicherungen oder Anwaltskanzleien. Der Automatisierungsgrad beträgt heute, nach rund 150 Jahre Industrialisierung, 30 Prozent. Studien sagen voraus, dass er 2025 bei 55 Prozent liegen wird. Das hat enorme Auswirkungen auf Unternehmen: Es winken mehr Effizienz und Effektivität sowie ganz neue Produkte und Dienstleistungen.

Wir sind alle sprungdigitalisiert

Wir leben in einer Zeit großer gesellschaftlicher Herausforderungen: die Pandemie, der Klimawandel, Naturkatastrophen, gesellschaftliche Polarisierungen, die mangelnde Nachhaltigkeit unseres Handelns, die rasche Veränderung der Arbeitswelt durch Digitalisierung. Die COVID-19-Pandemie hat die digitale Transformation massiv beschleunigt. Wir alle sind sprungdigitalisiert, weil wir es mussten. Und ein Zurück gibt es nicht, im Gegenteil: Die Automatisierung von Prozessen wird radikal weitergehen, auch weil sie die Virusanfälligkeit reduziert.

Die erhöhte Geschwindigkeit der Transformation erfordert eine sehr bewusste Auseinandersetzung mit ihren Folgen. Die Digitalisierung wird Jobs kosten, aber zugleich auch neue schaffen – das war immer klar. Aber wir sind davon ausgegangen, dass wir für diesen schwierigen Übergang mehr Zeit haben, sodass wir die Folgen für den Einzelnen besser abfedern können. Eine Fehleinschätzung.

Die Zeit läuft uns davon. Und das sorgt für große Unsicherheit – auch weil nicht klar ist, welche Lösungen sich finden lassen, um Arbeitsplätze, um unseren Wohlstand, ja unsere Zukunft zu sichern. Viele reagieren auf Unsicherheit mit angstvoller Starre. Was wir aber brauchen, ist das Gegenteil, ist Ausprobieren, Innovation – und was wir vor allem brauchen, ist eine Offenheit für die Welt da draußen.

Daten sind der Nährboden

Der Rohstoff jeder Digitalisierung sind Daten. Wo immer von ihnen die Rede ist, heißt es oft, Daten seien das Öl des 21. Jahrhunderts. Das jedoch ist ein schiefes Bild. Denn wenn Öl verbraucht wird, ist es weg, maximal noch als Emission in der Atmosphäre vorhanden. Daten sind aber nicht weg, sie sind es niemals. Daten sind immer nutzbar. Wir sammeln Daten nicht, um sie durch den Schornstein zu jagen oder in Rechenzentren zu horten. Schätzungen zufolge werden 85 Prozent aller in Europa gesammelten Daten kein einziges Mal genutzt; wir nennen solche Daten auch Dark Data, brachliegende Daten. Eine Verschwendung, denn Daten sind ein elementares Informationsgut. Sie sind letztendlich der Nährboden, auf dem etwas Neues wachsen kann. Oder wie der Datenexperte Viktor Mayer-Schönberger es formuliert: Der Mehrwert durch Daten entsteht dadurch, dass ich sie nutze, nicht, indem ich sie sammle. Das ist ein entscheidender Unterschied, ist doch die Furcht vor dem Datensammeln recht ausgeprägt. Wichtiger wäre die Forderung nach einer verantwortungsvollen Datennutzung. Dabei müssen wir zwischen personenbezogenen und nicht personenbezogenen Daten unterscheiden.

Denn Letztere, also Sachdaten, machen einen großen Teil unserer Welt aus. Es handelt sich dabei um Daten von Industrieanlagen oder Maschinen. Maschinendaten, die nicht bei den jeweiligen Maschinen bleiben, sondern mit anderen Maschinen und Rechnern vernetzt werden. Dieses Zusammenzuführen der Daten, um sie zu analysieren und daraus etwas entstehen zu lassen, wird der Weg zu Wertschöpfung und Innovation sein. Innovationen werden immer weniger aus der Gedankenkraft eines einzelnen Menschen entstehen und immer mehr durch die Nutzung von Daten. Daten ermöglichen es uns, bessere Entscheidungen zu treffen. Dazu müssen Politik und Unternehmen rasch offene Fragen klären: Wie sollen Daten geteilt werden können? Wer darf welche Daten besitzen – oder sollte es vielleicht gar nicht um Besitz gehen? Und wie kann verantwortungsvolle Datennutzung gestaltet werden?

Es fehlen einheitliche Standards

Komplizierter zu regeln ist die Verarbeitung von personenbezogenen Daten. Beispielsweise böten Gesundheitsdaten eine Vielzahl an Nutzungsmöglichkeiten, beispielsweise bei der Vorsorge oder der Risikobewertung von Krankheiten. Doch hier geraten wir schnell in Konflikt mit der Datenschutzgrundverordnung. Wir haben das nicht zuletzt bei der sogenannten Corona-Warn-App erlebt: Weil entscheidende Daten zur Rückverfolgung nicht erhoben werden durften, erwies sich die App als nicht besonders wirkungsvoll. Tatsächlich steht uns Datenschutz, so wichtig er ist, bei Innovationen nicht selten im Weg – oft aufgrund der Unsicherheit in Bezug auf die konkrete Anwendung und der stark ideologisierten Debatte. Dabei zeigt sich eine erstaunliche Divergenz: Was wir Staaten und Regierungen strikt verweigern, scheinen wir Unternehmen bereitwillig zuzugestehen. Die Menge an Daten, die Google, Amazon oder Facebook über uns gesammelt haben, ist gigantisch, und alles erfolgt mit unserer Zustimmung zu den eigentlich nie gelesenen AGBs. Hinzu kommt, dass es in Europa keine einheitliche Datenschutzregelung gibt. Fast jedes Land geht mit dem Thema anders um. Um als Wirtschaftsmacht konkurrenzfähig zu bleiben, müssten wir zumindest in Europa einheitliche Standards einführen. Zumal wir wissen, wie unerschrocken die USA und China mit Daten umgehen oder zumindest in der Vergangenheit umgegangen sind.

Sicher, das sind abschreckende Beispiele, insbesondere da personenbezogene Daten in China und in Belt-and-Road-Staaten zur Überwachung und Steuerung der Bevölkerung eingesetzt werden. Aber die Tatsache, dass Daten in Ländern wie China missbräuchlich genutzt werden, sollte nicht dazu führen, dass Daten überhaupt nicht mehr genutzt werden, will man nicht in weitere Abhängigkeiten geraten. Vielmehr müssen wir ein eigenes, europäisches Datennutzungsmodell entwickeln, eines, das in der Tradition der Aufklärung steht, in dem es um bessere Erkenntnisse und – darauf aufbauend – um bessere Entscheidungen geht für unseren Wohlstand, für unsere Gesellschaft, für unsere Umwelt. Oder, um Marie Curies Zitat aus Kapitel 3 weiterzuführen: »Jetzt ist die Zeit, mehr zu verstehen, damit wir weniger Angst haben.«

Software auf Rädern

Neben der Frage, wer zu welchen Konditionen welche Daten nutzen darf, geht es darum, mit welcher Hardware die Daten genutzt werden. Hier kommen Abhängigkeiten ins Spiel, denn letztlich braucht es Rechenleistung – also Mikrochips, mehr oder weniger kleine Prozessoren. Und ohne Halbleiter, ohne Mikrochips geht gar nichts mehr. Allein im ersten Halbjahr 2021 konnten bis zu vier Millionen Autos nicht gebaut werden, weil Mikrochips fehlten, oft infolge geopolitischer Spannungen. Sicher ist: Diese Abhängigkeit wird zunehmen, zumal Autos inzwischen vor allem fahrbare Software sind.

»Ein Auto hat heute mehr Software als ein Flugzeug«, sagte der Autoanalyst Arndt Ellinghorst von Bernstein Research in London gegenüber dem Deutschlandfunk. Und VW-Chef Herbert Diess beschrieb seine Vision 2020 in einer Rede vor Führungskräften wie folgt: »Das Automobil wird in Zukunft das komplexeste, wertvollste massentaugliche Internet-Device.« Software und Halbleiter sind fast überall: in Fahrassistenzsystemen, automatischen Bremsen, Kommunikationsfunktionen, Sicherheitssystemen. Ohne Halbleiter wäre ein Auto deutlich weniger sicher und weniger komfortabel. Und dies gilt inzwischen eigentlich für alle technischen Fortbewegungsmittel, auch für ein Kampfflugzeug – der Eurofighter könnte ohne Software und Computer nicht stabil fliegen. Auch könnten die meisten Schiffe nicht mehr sicher in einen Hafen einlaufen.

Die dunkle Seite

Wenn alles miteinander verbunden ist, steigt die Gefahr, dass alles auch gehackt werden kann. Die immer weiter zunehmende Bedrohung durch Cyber-Angriffe gehört untrennbar zur fortschreitenden Digitalisierung, sie ist so etwas wie ihre dunkle Seite. Dabei spielt es für das betroffene Unternehmen keine Rolle, ob der Angriff aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität oder der Spionage kommt – der Schaden ist immens. Das Thema kann nicht ernst genug genommen werden, insbesondere auch hinsichtlich der geopolitischen Dimension, wenn nämlich Cyber gezielt genutzt wird, um machtpolitische Interessen durchzusetzen. Doch wirkliche Macht hat, wer über Halbleiter verfügt.

Das Wasser kommt mit dem Lastwagen: Die Abhängigkeit vom Halbleiter

Mit einem Thema hatte sich der uns gegenübersitzende CEO noch nie so richtig beschäftigt: Halbleitern. Die waren immer da, wurden immer geliefert, ganz gleich, ob es sich um große und günstige Chips handelte oder um die kleinen und komplizierten, die für die Produktionsteuerung benötigt wurden. Chips waren schlicht und einfach kein großes Thema. Überhaupt würde man das Unternehmen nicht mit Chips in Verbindung bringen. Es ist ein Spielzeughersteller, dessen Produkte sehr haptisch sind. Sie sind bunt, werden zusammengesetzt, sie sind etwas zum Anfassen. In den Gesprächen mit dem CEO geht es sonst überwiegend um ESG-Themen wie Diversität und Nachhaltigkeit. Doch diesmal fragte er: »Was ist los mit den Halbleitern? Wir brauchen dringend welche, bekommen aber keine, warum nicht und was können wir tun?«

Der Mangel an Mikrochips hatte sich 2021 tatsächlich zu einem dramatischen Problem ausgeweitet. Vor allem der Automobilindustrie machte die Lieferkrise zu schaffen. Wegen des Chipmangels mussten Produktionen teilweise gestoppt werden, es kam zu Kurzarbeit wegen fehlender Lieferungen. Oft wurde »auf Halde produziert«, das heißt, man baute die Fahrzeuge zunächst unfertig, um sie dann so schnell wie möglich nachzurüsten, wenn wieder Halbleiter verfügbar sind. Experten gingen im Herbst 2021 davon aus, dass wegen der Engpässe bis zu vier Millionen Autos weniger produziert würden.

Herzstück der Industrieproduktion

Chips sind allerdings auch für andere Branchen elementar: natürlich im kompletten Elektroniksektor, für Laptops, Tablets, Kameras und TV-Geräte, auch bei Spielekonsolen und im Medizin-Hightech-Bereich. Eben in jenen Branchen, in denen die Corona-Krise die Nachfrage noch einmal befeuert hat. Chips sind so etwas wie das Herzstück moderner Industrieproduktion. Und das betraf auch unseren Spielzeughersteller.

Wie ernst die Lage war, bewiesen schon der Teilnehmerkreis des Meetings und die etwas angespannte Stimmung. Im Raum saß jemand vom Einkauf, natürlich der Vorstand, Leute aus der Produktion und auch Kolleg:innen aus der Public-Affairs-Abteilung. Die Zusammensetzung war neu – aber genau so, wie wir sie uns immer wünschen, wie wir sie empfehlen: Alle müssen an einen Tisch. Denn die Halbleiterkrise ist weder ein reines Technologiethema noch ein rein geopolitisches Problem. Nein, die Halbleiterkrise ist das alles zusammen, sie vereint viele Aspekte – und genau deshalb ist sie nicht einfach zu lösen.

War die Produktion in Gefahr?

Groß daher auch der Druck bei der Spielzeugfirma. Sie sagten: »Wir haben uns nie intensiv mit den Halbleitern beschäftigt, was sollen wir jetzt tun? Wie kommen wir kurzfristig an Chips?« Denn natürlich brauchen sie solche für die automatisierten Prozesse in ihren Fertigungshallen. Zudem entwickelten sie seit geraumer Zeit auf Basis ihrer Produkte auch elektronische Spiele, PC-Games und Online-Spiele. Jetzt waren sie zwar nicht unmittelbar in Not, sahen aber ihre Produktion in Gefahr.

Das Problem: Sie hatten versäumt, sich rechtzeitig mit Halbleitern einzudecken. Und sie hatten gerade 2021 kaum Chancen, dieses Versäumnis aufzuholen. Denn an den globalen Halbleiterbörsen geht es zu, wie es eben zugeht, wenn ein Produkt knapp ist. Diejenigen, die am meisten Geld bieten, bekommen Chips, die anderen gehen leer aus. Wenn aber selbst die Großen, die finanzstarken Automobilhersteller und Elektronikhersteller nicht zum Zuge kommen, sieht es auch für einen Spielzeughersteller nicht gut aus, auch wenn er keine großen Mengen benötigt. So steckten nun auch sie mittendrin in dieser fast schon exemplarischen Krise. Denn wie engmaschig Geopolitik, Klimaschutz und Technologie heute miteinander verwoben sind, zeigt sich eben auch, wenn ein an sich selbstverständliches Produkt wie der Halbleiter ausfällt.

Ein ausgetrockneter See

Zum Verständnis der Lage trägt zunächst ein Blick auf den Wassermangel in Taiwan bei: Im März 2021 wurde Taiwan von der schlimmsten Dürre seit Jahrzehnten heimgesucht. Im Jahr zuvor war zum ersten Mal seit 56 Jahren kein Taifun über das Land gezogen. Deshalb fiel der Wasserstand im Tsengwen, dem größten Speichersee der Insel, nach Behördenangaben auf weniger als 12 Prozent. In mehreren Stauseen in der Mitte und im Süden der Insel sank der Wasserstand ebenfalls unter 20 Prozent, ein See trocknete komplett aus. Und dann mussten die Lastwagen kommen.

Taiwan ist, wie bereits an andere Stelle erwähnt, Sitz der Taiwan Semiconductor Manufacturing Co Ltd (TSMC), einer der weltgrößten Hersteller von Chips. Die Insel ist der Knotenpunkt in der globalen Technologielieferkette für Giganten wie Apple. Und wenn zur Produktion von Chips etwas benötigt wird, dann ist es Wasser. Gigantische Mengen an Wasser. Nach Angaben von Greenpeace verbraucht TSMC nicht nur fast 5 Prozent der gesamten taiwanesischen Elektrizität, auch der Wasserverbrauch des Unternehmens lag schon 2019 bei etwa 63 Millionen Tonnen. In Zeiten der Dürre schwer vertretbar, zumal in der Landwirtschaft ebenfalls Wasser fehlte und auch die Versorgung mit Lebensmitteln knapp zu werden drohte.

Also begann TSMC Lastwagen loszuschicken, die Wasser holen sollten, um ein Stocken der Produktion zu verhindern. Taiwans Wirtschaftsminister Wang Mei-hua sagte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, man hoffe, »dass die Unternehmen den Wasserverbrauch um 7 bis 11 Prozent senken können.« Doch Unternehmen wie TCMC begannen vielmehr, im Norden des Landes nach Wasser zu bohren und das Wasser per Lastwagen in die Fabriken zu fahren. Aber nicht nur der Wasserverbrauch, auch der anfallende Müll ist eine Herausforderung bei der sehr aufwendigen Herstellung von Chips.

Halbleiter schaden dem Klima

Die Nachrichtenplattform Heise berichtete unlängst davon, dass eine einzige Intel-Fabrik in Ocotillo im US-Bundesstaat Arizona allein in drei Monaten fast 15 000 Tonnen Abfall produziert hatte, von denen etwa 60 Prozent als gefährlich gelten. Zudem verbrauchte die Fabrik rund 927 Millionen Gallonen (4,2 Milliarden Liter) Frischwasser, womit man rund 1400 Schwimmbecken von Olympia-Format hätte füllen können. Und vor allem ist die Produktion ein Energiefresser: Der Stromverbrauch belief sich in derselben Zeit auf 561 Millionen Kilowattstunden.

Die Produktion von Halbleitern ist also alles andere als klimafreundlich. Heise zitiert in besagtem Text zudem den Harvard-Forscher und Energieexperten Udit Gupta, der mit seinem Forschungsteam zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der größte Teil des Kohlenstoffausstoßes elektronischer Geräte auf die Chipherstellung und nicht auf den Energieverbrauch zurückzuführen sei.

Der hohe Wasserverbrauch ist übrigens auch ein Grund für die Kritik am Aufbau von Chipfabriken an deutschen oder europäischen Standorten. Dass Millionen Tonnen an Wasser abgepumpt werden, ist in Zeiten zunehmender Hitze- und Dürrephasen auch auf der Nordhalbkugel ein schwerwiegendes Argument gegen eine Produktionsstätte. Was den Energieverbrauch angeht, kommt jedoch Bewegung in die Chipherstellung. Der Druck vonseiten der Investoren und auch von Firmen wie Apple, die ihren Kunden umweltfreundlichere Lieferketten bieten wollen, nimmt weiter zu. Das Thema Verantwortung und Ressourcenschonung wird zentraler, und auch die Halbleiterindustrie wird noch intensiver klimafreundliche Maßnahmen entwickeln und umsetzen müssen.

Das Hamstern von Chips

Doch die Halbleiterkrise hat neben dem ESG-Aspekt auch geopolitische Relevanz: Der Konflikt zwischen den USA und China offenbart sich auch hier, beim Thema Chipmangel, denn aus Taiwan stammt jeder fünfte Chip weltweit. Auf der Insel werden die modernsten Halbleiter hergestellt. Und wenn Chinas Staatschef Xi Jinping die Wiedervereinigung mit Taiwan fordert, droht ein folgenreicher Konflikt. Taiwan widerspricht zwar vehement der Führung in Peking, will Stärke und Unabhängigkeit zeigen, doch die Kriegsgefahr ist virulent, und sollte es im südchinesischen Meer zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommen, hätte das dramatische Folgen: nicht nur für Taiwans Bevölkerung, sondern auch für die Chipbranche des Landes – und damit für die ganze Welt.

Es steht aber noch ein anderer Verdacht im Raum: Aus Angst vor den Auswirkungen des Handelskonflikts zwischen den USA und China, so vermuten manche Beobachter, würden Chips einfach nur gehortet. Und dieses Hamstern würde den globalen Chipmangel weiter verschärfen. Das glaubt zumindest Mark Liu, Vorsitzender des Verwaltungsrats von TSMC. Gegenüber dem amerikanischen Magazin Time sagte Liu: »Es gibt definitiv Leute, die wer weiß wo in der Lieferkette Chips anhäufen.« Man habe bei TSMC, so Liu, begonnen zu untersuchen, welche Kunden wirklich Chips benötigen und welche sie möglicherweise nur bevorraten. Diese Untersuchungen hätten zu schwierigen Entscheidungen bei der Priorisierung von Aufträgen geführt, also bei der Frage, wer Chips bekommt und wer nicht. Auch für den Konzern ein Novum. »Wir lernen ebenfalls, denn so etwas haben wir zuvor noch nie machen müssen«, sagte Liu. Wer genau hortet, wo gehortet und welches Ziel damit verfolgt wird, ist offenbar unklar – oder wird öffentlich nicht kommuniziert. Aber auch die US-Regierung vermutet, dass die Chip-Hortung eine der Ursachen des Chipmangels ist.

Und mittendrin unser Spielzeughersteller, der für die Produktion Chips benötigt und keine bekommt. Zunächst galt es, ihm umfassend aufzuzeigen, worauf der Chipmangel beruht. Wir zogen unsere Experten in Asien zu Rate, befragten Technologieexperten, nutzten langjährige Kontakte, um zu erfahren, ob gehortet wird, wo gehortet wird, ob es noch Möglichkeiten gibt, an Chips zu kommen. Alles wurde in Betracht gezogen. Im nächsten Schritt versuchten wir die Frage zu beantworten, wie sich die Lage entwickeln wird – ob sie sich jemals wieder entspannen wird, wie man frühzeitig seinen Bedarf decken kann und was Europa plant. So hat die EU im Mai 2021 angekündigt, ihre Mitgliedsstaaten und die Industrie zu einer europäischen Halbleiterallianz zusammenzubringen. EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton will den Anteil europäischer Firmen an der Halbleiterfertigung bis zum Jahr 2030 von 10 auf 20 Prozent verdoppeln, um die Abhängigkeit von den amerikanischen und asiatischen Herstellern zu senken. Und TSMC möchte laut Verwaltungsrats-Chef Liu in den nächsten drei Jahren allein 100 Milliarden US-Dollar in die Fertigungskapazitäten investieren. Das sei zwar eine enorme Summe, sagte Liu gegenüber Time: »Aber je mehr ich es mir anschaue, es wird nicht ausreichen.«

Unser Spielzeughersteller wird nun in jedem Fall seine Strategie der Chipbeschaffung anpassen – und das Thema an prominenter Stelle auf die Unternehmensagenda setzen.

Warum Europa sich so schwertut

Die Herstellung von Mikrochips ist äußerst anspruchsvoll. Mehr als 1000 Prozessschritte werden benötigt, um die hauchdünnen Siliziumscheiben herzustellen. Dazu bedarf es spezieller, nahezu staubfreier Fabriken. Hinzu kommt, dass Silizium zwar kein Mangelrohstoff auf der Erde ist, von den weltweit rund acht Millionen Tonnen jährlich aber 2020 mehr als fünf Millionen Tonnen in China gewonnen wurden. Die wichtigsten Abnehmer sind die großen Tech-Konzerne: Allein das Unternehmen Apple benötigt so viele Halbleiter wie die gesamte Autobranche. Deren Anteil liegt bei 12 Prozent, und eigentlich sollte man annehmen, ein für die deutsche Industrie zentrales Vorprodukt müsste auch in Deutschland hergestellt werden.

Doch weil die Produktion so aufwendig und sehr teuer ist, gibt es kaum Halbleiterunternehmen in Europa. Deutsche und europäische Unternehmen spielen global gesehen kaum eine Rolle. Weltweit führend in der Produktion von Halbleitern ist die oben erwähnte Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC) mit rund 90 Prozent Marktanteil im High-Performance-Computing. Der nach Umsatz zweitgrößte Fertiger ist die Foundry-Tochter des südkoreanischen Samsung-Konzerns. Design und Entwicklung erfolgen jedoch überwiegend im Silicon Valley. Und in Europa? Weder noch.

Um technologisch mithalten zu können, müssten in Europa zum einen Lieferketten unabhängiger gestaltet werden, und zum anderen müssten die EU-Länder im Bereich Mikroelektronik viel stärker zusammenarbeiten. So haben sich 19 EU-Staaten, darunter auch Deutschland, im Dezember 2020 in einer gemeinsamen Erklärung verpflichtet, eine europäische Allianz für Mikroelektronik und Prozessoren aufzubauen. Das wird aber nicht reichen, wir brauchen auch Produktion und Designfähigkeiten, wir benötigen über die ganze Wertschöpfung hinweg ein Ökosystem für das Internet of things. Wir sollten hier in Europa aufzeigen, wie Hardware und Software zusammengehen können; wir sollten die Zukunft des Maschinenbaus, der Autoindustrie aufzeigen. Doch auch hier gilt: Der Begriff »Nachholbedarf« ist eher ein Euphemismus.

»Da kommen wir nicht hin«

Wolf-Henning Schneider, CEO des Automobilzulieferers ZF Friedrichshafen, zeigte sich im Gespräch mit dem Deutschlandfunk im Februar 2021 wenig optimistisch: »Bei den Hochleistungsrechnern sind wir so weit hinten dran – da gibt es momentan kein einziges europäisches Unternehmen, das auch nur annähernd in die Nähe der Vorreiter hier in der Welt kommt – da sehe ich das über die nächsten paar Jahre als absolut nicht realistisch an, dass wir dahin kommen.« Vielmehr sei wohl zu befürchten, dass asiatische Chiphersteller und -zulieferer in Europa auf Einkaufstour gingen, um sich auch die zartesten Pflänzchen einzuverleiben. Vor allem China hat Nachholbedarf und will sich ebenfalls unabhängig von ausländischer Chiptechnologie machen.

Die kleine Welt der Mikrochips ist Schauplatz für große Weltpolitik geworden. Und Europa und gerade Deutschland, das stark von seiner Autoindustrie abhängt, ist besonders betroffen. Die Verfügbarkeit von Chips wird immer wichtiger. In diese Technologien muss in Europa viel stärker investiert werden, um die derzeitige extreme Abhängigkeit zu schmälern. Die USA haben unter Präsident Biden 2021 ein neues Innovations- und Wettbewerbsgesetz mit einem Gesamtvolumen von rund 120 Milliarden US-Dollar auf den Weg gebracht. Dazu gehört auch der Aufbau von konkurrenzfähigen Halbleiterfabriken in den USA, unterstützt durch die amerikanische Regierung, indem 30 Prozent der Kosten vom Staat übernommen werden. Das alles eingebettet in Investitionen in Universitäten und Forschungszentren und flankiert durch Sanktionen und Maßnahmen, die auch außerhalb der USA angewendet werden. Dahinter steckt eine umfassende Strategie, und in der Tat gilt: Industriestrategie ist Technologiestrategie ist Sicherheitsstrategie. Genau davon sind wir in Europa, vor allem aber in Deutschland, allerdings noch weit entfernt.

Die militärische Komponente

Wie wir gesehen haben, ist die Sicherung von Lieferketten in erster Linie ein geopolitisches Thema – und eben auch ein militärisches. Denn wir sollten nicht außer Acht lassen, dass die Verfügbarkeit von Halbleitern enormen Einfluss auf die Produktion moderner Waffensysteme hat. Es gibt in diesem Wettrüsten auf Tech-Ebene eine eindeutige militärische Komponente, denn Fakt ist: Wer die Chips hat, hat die Macht und kontrolliert andere, abhängige Spieler. Und eine Abhängigkeit ist sehr real: Keine Chips zu haben heißt, keine Computer, keine Digitalisierung, keine KI zu haben, kein gar nichts.

Wer die Chips liefert, kann zudem neben den zugesicherten Spezifikationen noch unbeschriebene weitere, nicht erkennbare Funktionen integrieren, die dem Lieferanten unerlaubten Zugriff auf die im Chip verarbeiteten Daten eröffnen. Dem Chip sieht man das nicht an. Sicherheit können da nur aufwendige und umfangreiche Tests liefern – und um wirklich Sicherheit zu erlangen, müsste jeder einzelne Chip solchen Tests unterworfen werden. Wenn wir der Vorherrschaft der führenden Digitalnationen nicht nur staunend zusehen wollen, wenn wir in der Autoindustrie unsere Vorherrschaft verteidigen wollen und wenn wir den Slogan von mehr Souveränität für Europa ernst nehmen, sollten wir uns rasch aus der Abhängigkeit insbesondere von der asiatischen Halbleiterindustrie lösen.

»Standardisiert, gesund und nachhaltig«

Die Chipproduktion ist die eine Baustelle. Die andere technologische Herausforderung liegt in den Plattformen. Auch hier haben wir in Europa keine vergleichbaren Anbieter. Weder gibt es Unternehmens-Cloud-Angebote zum Steuern von Prozessen und Datenverarbeitung noch Endkundenplattformen zum Einkaufen, Kommunizieren oder Suchen. Was uns nicht davon abhält, zu regulieren. Mit dem Digital Market Act sollen auf europäischer Ebene die Monopolstrukturen aufgebrochen, mit dem Digital Service Act Inhalte stärker reguliert werden. Beides sind gute und richtige Absichten, deren Umsetzung im Detail aber unglaublich kompliziert ist – und häufig wird bereits gefragt, ob wir uns damit nicht selbst von Innovationen abschneiden. Noch umstrittener ist das Thema Datentransfers und die Frage, welche Unternehmen und vor allem welche staatlichen Behörden welches Landes auf welche Daten zugreifen dürfen. Dabei ist das ein zentraler Punkt, der enorme Konsequenzen für Geschäftsmodelle hat.

Nichts gegen Plattformregulierungen – sie können, sofern überhaupt vorhanden, durchaus Sinn ergeben. Welchen Effekt eine Plattformregulierung allerdings haben kann, zeigt ein Beispiel aus Indien. Die beiden US-amerikanischen Handelsgiganten Amazon und Walmart erlitten 2019 auf dem indischen Markt einen Rückschlag. Zum damaligen Zeitpunkt hatten sie 16 Milliarden US-Dollar (Walmart) beziehungsweise 5,5 Milliarden US-Dollar (Amazon) im Subkontinent investiert, und zwar in den dort gleichermaßen boomenden Internethandel. Doch dann trat in Indien etwas überraschend eine neue Plattformregelung in Kraft, die die beiden Konzerne empfindlich ausbremste. Sie durften ab sofort in Indien nur noch Produkte von Firmen verkaufen, an denen sie nicht beteiligt sind. So sollte sichergestellt werden, dass die großen E-Commerce-Firmen als neutrale Handelsplattformen agieren, die jedem Verkäufer in Indien die gleichen Bedingungen einräumen.

Auch China bemüht sich seit geraumer Zeit, Online-Händler zu bändigen, nicht zuletzt die eigenen Online-Giganten wie beispielsweise Alibaba. Mit der Regulierung von Internetplattformen sollen in China Marktanteile festgestellt und damit monopolistische Strukturen ermittelt werden, mit dem Ziel, Transaktionsvolumen zu begrenzen. China geht es darum, die Plattformwirtschaft »standardisiert, gesund und nachhaltig weiterzuentwickeln«, so Staatspräsident Xi Jinping im Frühjahr 2021. Und das klingt nicht nur nach Kontrolle, das ist Kontrolle, und zwar politische Kontrolle der Partei über Geschäftsmodelle, Inhalte und Marktmacht von Internetgiganten.

Technologiegetriebene Geopolitik

Fassen wir zusammen: So viel Technologie war noch nie. Noch nie bestimmten technologische Sprünge in so rascher Folge das Handeln von Wirtschaft und Industrie. Technologie gerät unter geopolitischen Einfluss und verteilt ihrerseits die Karten im geopolitischen Pokerspiel. Man könnte sagen: Den Nerds war das schon immer klar. Die haben das längst vorhergesagt. Wie sie auch seit geraumer Zeit betonen, dass Deutschland und Europa mächtig hinterherhinkten. Die fünf größten amerikanischen Tech-Riesen investieren gemeinsam mehr in wegweisende Technologien als alle deutschen Unternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen zusammen. Da droht ein enormer Rückstand. Man nehme nur das Beispiel Quantencomputing.

Mithilfe von Quantencomputern sollen sich künftig mathematische Probleme einige Zehntausend Mal schneller lösen lassen als mit einem normalen PC. Mit dem Quantencomputer werden große Zukunftshoffnungen verknüpft, sowohl was die nächste Verschlüsselungsgeneration anbelangt als auch in Bezug auf Innovationen, zum Beispiel in der Medizin, oder auf die Entwicklung völlig neuer Materialien bis hin zu Optimierungen in der Logistik. Und es war das Forschungsteam von Google, das im Herbst 2019 ein Papier zum Thema Quantencomputer im Fachblatt Nature veröffentlichte. Das Unternehmen verkündete, einen funktionierenden Quantencomputer bauen zu wollen. Auch wenn sicher viel PR dabei war, hat ein Konzern doch zumindest starke Hinweise auf die Funktionsfähigkeit von Quantencomputing erbracht. Nicht die Forscher:innen eines Universitätsinstituts oder einer staatlichen Forschungseinrichtung. Man könnte sicher noch weitere Beispiele dafür aufzählen, wie wir in Europa staunend auf die Sprunginnovationen in anderen Teilen der Welt blicken – statt selbst welche hervorzubringen.

Ich, Katrin Suder, sitze seit mehr als drei Jahren im oben erwähnten Digitalrat der Bundesregierung. In diesem Gremium haben wir der Politik regelmäßig genau diese Entwicklung aufgezeigt. Der Tenor war dabei immer: Zwar sind wir in Deutschland immer noch führend im Ingenieurwesen, im Maschinenbau, aber entscheidend ist eben, ob es uns gelingt, diese Hardware mit der Datenwelt, der Software zusammenzuführen. Es ist ein bisschen wie ein Wettrennen: Gelingt es den Unternehmen im Silicon Valley schneller, die Hardware zu adaptieren, als unserer Hardware-basierten Wirtschaft, die Software zu adaptieren? Anders gefragt: Baut Apple – oder Tesla – das Auto der Zukunft? Oder doch Audi? Vorsprung durch Technik? Und wenn ja, durch welche und wer kontrolliert sie?

Neuer geopolitischer Rohstoff

Zwar steht Deutschland gemessen an Macht, Einfluss und auch am Bruttoinlandsprodukt nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) jeweils auf einem vierten Platz in der Welt. In der Machtfrage hinter den USA, Russland und China, beim BIP hinter den USA, China und Japan. Deutschland als alleiniges Zugpferd in Europa ist jedoch zu schwach; es fehlen Verbündete, es fehlt der digitale Binnenmarkt, die digitale Wirtschaftsleistung. Der Grad der Digitalisierung, oder besser: das Ausmaß der Verbreitung und die Nutzung digitaler Technologien ist ein Gradmesser für die Wirtschafts- und Innovationskraft und daher von geopolitischer Bedeutung, sozusagen ein neuer geopolitischer Rohstoff.

Die beiden Supermächte USA und China – man kann bei der Digitalisierung beim besten Willen nicht von einem Dreieck einschließlich Europas sprechen – sind dabei, im Zuge der Digitalisierung den freien Markt und den multilateralen Handel weiter zu beeinflussen, zu beschränken, zu regulieren oder gar umzulenken mit dem klaren Ziel einer weltweiten Vormachtstellung. Jede derartige Vormachtstellung muss auf zwei soliden Beinen stehen: Zum einen bedarf es einer starken Wirtschaft, gestützt auf technologische Innovationsfähigkeit und vernünftige Regulierung sowie auf ausreichende Finanzressourcen, und zum anderen bedarf es der klassischen militärischen Machtmittel. Langfristig entscheidender werden Wirtschaft, Innovation und Finanzmittel sein, weil nur sie positive neue Werte schaffen können. Militärische Machtmittel können drohen, abschrecken, aber im schlimmsten Fall nur zerstören und vernichten.

Für die künftige Weltordnung wird rein militärische Überlegenheit immer weniger ins Gewicht fallen, vielmehr werden Wirtschafts-, Innovations- und Finanzkraft darüber entscheiden, wer welche Ziele vorgeben und erreichen kann. Aufgrund der Bedeutung von Digitalisierung und Technologie sind Technologiethemen nicht mehr nur Wirtschaftsthemen, sondern sie haben geopolitische Bedeutung. Die Frage, wie sich Unternehmen verhalten, insbesondere deutsche, die bislang Globalisierungsgewinner waren, hat daher weit mehr als nur eine wirtschaftliche Dimension. Wie schon ausgeführt wird Amerika auch unter Präsident Joe Biden den Druck auf Deutschland und Europa, sich gemeinsam mit den USA gegen China zu stellen, aufrecht erhalten.

Nichts wurde zurückgenommen

Der vormalige US-Präsident Donald Trump war für seine lautstarken, plakativen und drastischen Ankündigungen bekannt. So verkündete er beispielsweise, dass chinesische Technologiekonzerne wie Alibaba und Tencent auf schwarzen Listen platziert würden, vor allem weil sie Verbindung zum chinesischen Militär hätten. Im ersten Jahr der Biden-Administration ist der Ton leiser, verbindlicher und auch partnerschaftlicher geworden, aber inhaltlich hat sich wenig geändert. Wie in der Geopolitik wurde auch in puncto Technologie nichts zurückgenommen. Trump hatte während seiner Amtszeit immer wieder chinesische Apps mit Verweis auf die nationale Sicherheit und auf möglichen Datendiebstahl ins Visier genommen und unter anderem Transaktionen mit dem beliebten Kurzvideodienst TikTok und dem Chat- und Bezahlanbieter WeChat von Tencent untersagt. Da er jede dieser Entscheidungen zur Selbstdarstellung nutzte, verbindet man diese Maßnahmen eng mit den Namen Trump, und so ist im vergangenen Jahr ein wenig aus dem Blick geraten, dass sie weiterhin Bestand haben.

Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die Strafmaßnahmen gegen Anwendungen wie den Bezahldienst Alipay von der Ant Group, QQ Wallet von Tencent Holdings sowie WeChat Pay und die Büro-Software WPS Office von Kingsoft Office Software. Sie alle stehen im Verdacht, Peking und dem chinesischen Militär zu dienen. Zu den Sanktionen von amerikanischer Seite gehört auch das bereits beschriebene Delisting, wonach bestimmte chinesische Aktien nicht mehr an US-amerikanischen Handelsplätzen gehandelt werden dürfen, darunter fast schon erwartungsgemäß Aktien chinesischer Halbleiter- und Rüstungsfirmen. Damit werden gezielt Investitionen oder sonstige Geldzuflüsse an Technologiefirmen beeinflusst.

Es heißt heute nicht mehr »America first«, sondern »America best« – oder noch eindeutiger: »China second!« Nochmals: China ist der erklärte strategische Rivale und eindeutiges Top-Thema der Biden-Administration. China soll (vor allem) technologisch abgekoppelt werden, die USA hingegen die einflussreichste Weltmacht sein und bleiben – der beste Hebel dazu ist eben Technologie.

Technologische Autonomie erreichen

Wer was warum verbietet, das entscheiden in erster Linie die USA. Deutschland und Europa sind dabei meist außen vor. Und das aus einem einfachen Grund: Wir haben nicht genug des neuen »Rohstoffs«, um mitreden zu können. Die Daten, die Chips, die Plattformen sind woanders. Das gilt auch für militärische Operationen. Trump hat zum großen Schrecken der westlichen Alliierten angekündigt, die NATO sei obsolet. Dennoch hat seine Administration engen Kontakt zu den Verbündeten in Brüssel gehalten. Biden spricht verbindlicher und kollegialer, aber er kann durchaus unilateral handeln, zuletzt beim Abzug aus Afghanistan, als es zu wenig Abstimmung mit den Verbündeten gab.

Und China? Seit dem sogenannten Ausbruch der US-Sanktionen hat sich ein Muster ergeben: Wenn der eine etwas verbietet, zieht der andere nach, und die internen Investitionsprogramme streben an, sich gegenseitig zu überbieten. Gleiches wird mit Gleichem vergolten.

So hat China beispielsweise jüngst allen seinen Beamten verboten, Hardware und Software aus den USA zu nutzen. Das hat zu einem riesigen staatlichen Austauschprogramm geführt. Insgesamt mussten nahezu 30 Millionen Geräte ersetzt werden. Es zeigt einmal mehr, dass in China politische Erwägungen, vor allem solche der Herrschaftssicherung der Partei, unbedingten Vorrang vor wirtschaftlichen Aspekten haben. 2019 lag der Marktanteil von amerikanischen Geräteherstellern in China bei 22,2 Prozent (HP), 16,9 (Dell) beziehungsweise 5,9 Prozent (Apple). Marktführer war im selben Jahr der chinesische Hersteller Lenovo (25 Prozent), doch diese Anteile haben sich bereits im Jahr 2021 massiv zugunsten der heimischen Marken verschoben.

Chinas Ziel ist dabei klar: Es will nicht nur technologische Autonomie, sondern globale Vorherrschaft im Tech-Sektor erreichen, und das ganz selbstverständlich auch durch Druck auf ausländische Hersteller, gleich wie zukunftsweisend deren Produkte sind. Und da zeigt sich das Dilemma: China ist zwar führend in etlichen Zukunftstechnologien, beispielsweise bei Gesichtserkennung und gezielter Auswertung von Big Data, aber eben noch nicht in puncto »Basistechnologien«.

Und genau das wird nun nachgeholt.

Gemäß dem aktuellen Fünfjahresplan wird die Technologieindustrie von Peking künftig massiv gefördert, vor allem im Bereich Blockchain, künstliche Intelligenz und 5G. China will hier neue Standards setzen, und das eindeutig mit politischen Regulierungen, die im besten Fall zu innovativen Lösungen und damit nachhaltigem Wachstum führen sollen. Gleichzeitig – und diese Entwicklung ist neu – engagiert sich China zunehmend in den weltweiten Standardisierungsgremien, will dort seine eigenen Technologiestandards durchsetzen, im Wettstreit mit der anderen Technologiegroßmacht, die aber nicht Europa heißt. Was uns bleibt, ist die Zuschauerrolle. Im besten Fall können wir Schlüsse aus der Entwicklung ziehen.

Eine Frage der Spielregeln

Die Industriepolitik in den 2020er-Jahren wird weniger vom Automobil, von Stahl oder Maschinenbau bestimmt als vielmehr vom Besitz und der Steuerung von Technologien und Technologieunternehmen. Das heißt: Der Einfluss von staatlicher Seite auf den Technologiesektor wird zunehmen; er ist bereits heute immens, nicht nur in China, sondern auch in den USA und ebenso in den europäischen Ländern. Das ist nicht zuletzt auf die Pandemie zurückzuführen. Das Problem liegt darin, dass China und die USA mit einem stark gebündelten zentralen Willen agieren können, während sich in der EU immer 27 (höchst unterschiedlich leistungsfähige) Akteure einigen müssen und eines der wichtigsten und leistungsfähigsten Länder Europas, das Vereinigte Königreich, aus der EU ausgetreten ist.

Die Welt ist seit Corona stärker auf Technologien angewiesen denn je. Und die bittere Erkenntnis für Europa lautet: Wir sind enorm abhängig von den großen Playern. Wir sprechen von digitaler Souveränität, entwerfen Gaia-X und kaufen dann, selbst wenn es immer wieder andere Bemühungen gibt, bei den großen Plattformen ein oder machen uns weiter von deren Ökosystemen abhängig. Welche Konsequenzen hat das für deutsche Firmen? Wie sollen sich Unternehmen in Europa und Deutschland in diesem Technologiewettstreit verhalten? Gibt es überhaupt noch Chancen, technologisch wenigstens halbwegs mitzuhalten, oder ist der Zug längst abgefahren?

Das ist letztlich alles eine Frage der Spielregeln. Deutsche Unternehmen, die in China als zentralem Wachstumsmarkt (weiterhin) vertreten sein wollen, die aber gleichzeitig auf die von den USA dominierten Cloud-Dienste und Halbleiter angewiesen sind, sollten sich eher früher als später damit beschäftigen, was die neuen Regeln und geopolitischen Aktivitäten konkret für sie bedeuten. Das beginnt mit praktischen Fragen, die gestellt werden müssen, um sich im schnell verändernden Wirrwarr von lokal unterschiedlichen Gesetzen zurechtzufinden: Worin genau bestehen die neuen Regelungen? Was droht bei einem Vergehen? Gibt es jemanden im Umfeld, der Mandarin ebenso gut wie Englisch spricht, um die Regelungen im Detail zu verstehen und dann auf ihre Auswirkungen hin zu übersetzen? Noch viel wichtiger, als die Regelungen im Wortlaut zu verstehen, wird sein, abschätzen zu können, wie sie tatsächlich umgesetzt werden. Wir kennen zahllose Länder, in denen detailliert ausformulierte Vorschriften bestehen, die von der Exekutive jedoch, wenn überhaupt, nur sehr lax und selektiv angewandt werden.

Aber es geht auch um größere strategische Fragen: Hilft die Tatsache, ein deutsches Unternehmen zu sein, oder schadet sie eher? Braucht es neue juristische Einheiten? Das bedeutet so viel wie: Sollten Unternehmen in den jeweiligen Ländern eine neue juristische Person installieren, eine neue GmbH, eine neue Firma, um nicht mehr ein deutsches Unternehmen zu sein? Apple oder auch Microsoft haben es vorgemacht und sich mit neuen Unternehmensgründungen als juristische Person »verändert«. Darüber hinaus lautet die Frage mit Blick auf Technologie: Geht man Partnerschaften ein? Man kann sich dieses Wissen einkaufen, es sich selbst aufbauen oder, sofern vorhanden, auf das eigene Netzwerk zurückgreifen. Was nicht geht: untätig bleiben.

Eine IT für die ganze Welt

Ein Beispiel: Eine weltweit tätige Bank stand vor einer großen Herausforderung. Es ging um globale Finanzdienstleistungen, um Datenflüsse und Datenströme, die über Landesgrenzen hinaus abrufbar sein und auf einer globalen IT zusammenkommen sollten. Diese globalen Strukturen waren mühsam und mit erheblichen Investitionen aufgebaut worden, um Skaleneffekte zu heben und Standardisierung sowie Effizienz zu treiben. Doch zunehmende Regulierungen in einzelnen Ländern und Bestimmungen darüber, welche Daten das Land nicht verlassen dürfen, wurden zum Problem. Konnten Datenströme und Datenspeicherung bis dahin zentral organisiert werden, stieß die IT nun im wahrsten Sinne des Wortes an ihre Grenzen. Natürlich wollte man seine Märkte nicht aufgeben.

Auf der anderen Seite konnte ein problemfreier Datenfluss nicht mehr gewährleistet werden. Eine Lösung wäre gewesen, in dem jeweiligen Land ein neues Rechenzentrum, ja teilweise eigene Software und spezifische Hardware-Komponenten aufzubauen, nur für das jeweilige Land, gemäß den dort geltenden Richtlinien und den geopolitischen Technologievorgaben. Das geht allerdings ins Geld; Kosten in Millionenhöhe und aufwendige Migrationen mit erheblichen Risiken sind hier normal. In der Konsequenz bedeutet das: Sollten weitere Regulierungen in anderen Ländern in Kraft treten, müssten weitere Rechenzentren errichtet werden, die Kosten würden ins Unermessliche steigen. Also begann man, eine dezentrale IT für die ganze Welt aufzubauen – eine flexibel handhabbare IT, die agil Regulierungen miteinbeziehen kann, die das sogenannte geopolitics by design berücksichtigt. Auch das kostet Zeit und Geld, aber eben nur einen Bruchteil dessen, was eine starre, weniger agile Lösung erfordert hätte.

Deshalb der Rat: Man muss sich darauf vorbereiten.

Technologie: Was ist zu tun? Handlungsempfehlungen

Wie sollen sich deutsche Unternehmen also angesichts der wachsenden Bedeutung und Politisierung von Technologien verhalten?

Agenda-Setting

Es muss darüber gesprochen werden. Geopolitische Technologiethemen sind von nun an Vorstandsthemen – und müssen mit Kompetenz und breitem Wissen diskutiert werden. Nur wenn geopolitische Technologiethemen regelmäßig auf der Agenda stehen, gelingt es, Risiken im Blick zu halten und gemeinschaftlich anzugehen.

Status-Assessment

Woher kommen unsere eingesetzten Technologien? Als Basis für Entscheidungen gilt es von nun an, eine geopolitische Technologie-Exposure-Analyse durchzuführen und diese regelmäßig zu aktualisieren. Exposure-Analyse bedeutet, sich ein genaues Bild davon zu machen, welche Technologien von welchen Herstellern wo gebaut und in welchen Ländern eingesetzt werden. Dazu gehört auch, zu analysieren, welche Daten wo erhoben und wo verarbeitet werden. Diese geografische Dimension war bislang in der Regel nicht relevant, nun ist sie es umso mehr. Das Status-Assessment, also die genaue Analyse des Ist-Zustands, bildet die Basis, auf der das jeweilige geopolitische Risiko bewertet werden kann.

Strategie und Governance

Mithilfe des Status-Assessments lassen sich nun Strategien zur Mitigation der Risiken entwickeln. Technologie muss dazu ebenso wie Geopolitik gleichermaßen in die Unternehmensstrategie eingebunden werden. An welchem Standort Investitionen getätigt werden oder auch, wie Architektur, Datenstrategie und Providermanagement definiert werden, sind eben nicht mehr nur technologisch relevante Fragen, sondern auch geopolitische. Dazu gilt es eine entsprechende Governance, ein Regelwerk, zu schaffen, damit Geopolitik und Technologie zusammengedacht werden, im Hinblick auf strategische Entscheidungen und deren Umsetzungen.

Risikomanagement

Es braucht eine präzise Vorbereitung. Dazu sollten Unternehmen Notfallpläne entwickeln, um schnell reagieren zu können. Die Erfahrung zeigt, dass eine Regulierung rasend schnell kommen kann. Urplötzlich kann eine Regierung entscheiden, dass Daten das Land nicht mehr verlassen dürfen oder eine bestimmte Technologie nicht mehr verwendet werden darf. In diesem Fall muss ein Unternehmen wissen, was zu tun ist. Wir leben in der »Archipelago-Welt« – einer zunehmend fragmentierten Inselwelt, wie es Nader Mousavizadeh, der Gründer und CEO von Macro Advisory Partners, so treffend bereits vor fast zehn Jahren vorhersagte. Das bedeutet auch: Sicherheit und Vorhersagbarkeit gibt es in altbekannter Form nicht mehr, eine Notfallsituation kann jederzeit eintreten.

Cyber

Kennen Sie den CISO Ihres Unternehmens, also den oder die Verantwortliche:n für Informationssicherheit? Nein? Dann lernen Sie ihn oder sie schnellstmöglich kennen! Unter Umständen ist das eine:r Ihrer wichtigsten Mitarbeiter:innen. Und falls IT-Sicherheit in Ihren Augen auf den ersten Blick keine geopolitische Dimension besitzt, so bedenken Sie: Cyber-Angriffe haben immer häufiger einen hochpolitischen Hintergrund. Darauf müssen Sie vorbereitet sein. Entwickeln Sie daher ein Playbook oder auch mehrere, in denen Sie festlegen, was im Falle eines Angriffs getan werden muss – und wie groß Ihr Risiko ist.