Kapitel 9

Emmett deckte Jojo in der unteren Koje des Stockbetts in Daisys und Rileys Gästezimmer zu. Daisys Bruder Sam und seine Frau Harper kamen oft mit Daisys Nichten und ihrem Neffen aus Kanada zu Besuch, weswegen sie extra das Stockbett ins Gästezimmer gestellt hatte.

»Wieso musste Nolan schon nach Hause gehen?«, fragte Jojo und gähnte zum hundertsten Mal, seit Emmett sie den Flur entlang zum Gästezimmer geführt hatte. Davor hatte er im Badezimmer gewartet, bis er sicher sein konnte, dass Nolan und Zara gegangen waren.

Er war so ein verdammter Feigling.

Emmett strich Jojo ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und beugte sich vor, um sie auf die Nasenspitze zu küssen. »Seine Mommy hat sich Sorgen gemacht wegen seines Sturzes und dachte, dass er sich zu Hause in seinem eigenen Bett wohler fühlt.«

Seine Tochter zog die Mundwinkel nach unten. »Hast du dich mit seiner Mommy gestritten?«

Emmett richtete sich auf und sah über seine Nase auf seine scharfsinnige und viel zu erwachsene Tochter hinab. »Wie kommst du darauf?«

Sie gähnte wieder, ihre Augen waren schon halb geschlossen. »Ihr habt euch gar nicht mehr angelächelt. Genauso wie du und Mommy, bevor sie ausgezogen ist.«

Oh, verdammt.

Er legte seiner Tochter eine Hand an die Wange, beugte sich wieder vor und drückte ihr diesmal einen Kuss auf die Stirn. »Wir haben uns nicht gestritten, Süße. Ich glaube, wir sind alle einfach sehr müde.«

Als er sich wieder aufrichtete, sah er, dass seine Tochter ihn wütend anfunkelte. Sie glaubte ihm kein Wort.

»Ich mag Nolan. Ich mag seine Mommy. Ich will mit ihm spielen. Er war mein Freund, als diese Mädchen gemein zu mir waren.« Sie drückte die frisch zusammengeflickte Zelda an ihre Brust. Emmett hatte sich Daisys Nähkästchen geliehen und eine schnelle doppelte Replantations-OP an dem amputierten Vierfüßer durchgeführt. »Er hat mir seine …« Plötzlich setzte sie sich auf, ihre Augen wurden groß. »Er hat Ziggy vergessen!« Sie warf die Decke zurück und schob Emmett aus dem Weg. Im nächsten Moment war sie auch schon aus der Tür und rannte den Flur hinunter. Emmett folgte ihr, war aber gerade erst am Ende des Flurs angelangt, als seine schnaufende Tochter schon wieder auf ihn zugerannt kam. Sie musste kurz unten gewesen sein.

Sie hielt nun nicht nur Zelda, ihre eigene Giraffe, sondern auch Nolans Giraffe Ziggy im Arm.

»Er hat Ziggy vergessen«, wiederholte sie und zeigte ihm die abgeknuddelte Giraffe.

Emmett hob eine Braue. »Ah, das ist wohl so. Wir werden es Tanta Daisy sagen, damit sie Nolan sein Kuscheltier zurückgeben kann.«

Jojo schüttelte den Kopf und unterdrückte ein weiteres Gähnen. »Nein. Er hat mir gesagt, dass er ohne Ziggy nicht schlafen kann. Du musst ihm sein Kuscheltier bringen, Daddy. Bitte!«

Sie war so müde. Ihre roten Augen, ihre kraftlosen Schultern. Sein kleines Mädchen konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

Emmett legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie zurück Richtung Gästezimmers. »Ich überlege mir was, Jojo-Maus. Du machst jetzt einfach die Augen zu.« Er half ihr dabei, ins Bett zu klettern, und ihre Augen fielen zu, kaum dass ihr Kopf das Kopfkissen berührt hatte.

»Du darfst nicht böse auf Nolan sein oder auf seine Mommy«, sagte Jojo schlaftrunken, ohne die Augen zu öffnen. Sie gähnte wieder. »Frohes neues Jahr, Daddy.«

Er beugte sich vor, drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe und strich ihr das lange blonde Haar hinters Ohr. »Frohes neues Jahr, Josephine.«

***

Zaras Kehle schmerzte von der Anstrengung, die Tränen zurückzuhalten. Sie zog Nolans Decke zurück und wartete darauf, dass er sich auf sein Kissen mit Weltraum-Motiv legte.

»Du siehst traurig aus, Mommy«, sagte Nolan, setzte sich auf und legte Zara eine Hand an die Wange.

Sie konnte sich nicht länger beherrschen, erst fand eine, dann die zweite heiße Träne ihren Weg nach draußen und lief ihre Wangen hinunter. Sie gab ein hicksendes Schluchzen von sich und schmiegte sich an die kleine warme Hand ihres Sohnes, bedeckte sie mit ihrer eigenen. »Es geht mir gut, Liebling. Ich bin nur müde.«

Ich bin es leid, wie eine unfähige Mutter behandelt zu werden. Erst Marcello – der wollte nicht mal Kinder mit mir haben – und jetzt Emmett. Er wollte, dass ich mich so weit wie möglich von seiner Tochter fernhalte.

Nolan sah sie aus seinen blauen Augen verständnisvoll an. Stellte etwa auch ihr eigener Sohn ihre Fähigkeiten als Mutter infrage? Die Männer, mit denen sie schlief, schienen sich da zumindest zunehmend einig zu sein. Vielleicht sahen sie ja etwas, was ihr selbst entging.

Aber Michael hat ein Kind mit dir bekommen, und er ist sehr gut darin, Menschen zu beurteilen. Er hat Marcello vom ersten Moment an gehasst.

Und sie hatte ihn trotzdem geheiratet. Sie hätte auf ihren besten Freund hören sollen. Michael lag so gut wie nie falsch – eine Tatsache, an die er sie nur allzu gern erinnerte.

»Mom?«, flüsterte Nolan, griff hinüber zu seinem Nachtkästchen und zog ein Kleenex aus der Box. »Wieso bist du traurig?« Er reichte ihr das Taschentuch.

Sie bedankte sich und tupfte sich die Augen trocken. »Ich bin nur müde, Liebling. Das war ein langer, anstrengender Tag. Ich muss nur die Augen zumachen. Morgen ist ein neuer Tag, ein neues Jahr, und dann ist alles besser.«

Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an, noch immer nicht gänzlich überzeugt. Doch ihr warnender Blick reichte wohl aus, denn sie konnte sehen, wie er den Plan aufgab, sie weiter auszufragen. Stattdessen presste er die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, bevor er sagte: »Ich habe Ziggy vergessen.« Er klang ruhig, ohne eine Spur von Panik in der Stimme. Sie hatte ihn noch nie so unberührt gesehen, wenn er ohne seinen besten Freund ins Bett gehen musste.

Sie musterte ihn misstrauisch und fragte: »Im Auto?« Sie kannte die Antwort schon, bevor er sie aussprach.

Er schüttelte ruhig den Kopf. »Nein, auf der Party. Kannst du da anrufen und Josies Vater bitten, Ziggy herzubringen? Dann könnt ihr auch gleich ausmachen, wann ich mich mit Josie treffen kann.«

Nolan hatte doch nicht etwa …

Oder doch?

Hatte er einen Plan ausgeheckt, um Zara und Emmett wieder zusammenzubringen? Hatte er sein liebstes Spielzeug, seinen allerbesten Freund absichtlich auf der Party zurückgelassen, damit er Josie wiedersehen konnte und seine Mutter Emmett wiedersehen musste?

Nolan gähnte, ließ Zaras Wange los und sich zurück in sein Kissen plumpsen. »Eine Nacht kann ich auch ohne Ziggy schlafen. Aber nur eine. Morgen brauche ich ihn wieder. Wir müssen also mit Josie und ihrem Dad frühstücken oder Mittagessen gehen, damit ich Ziggy wiederbekomme.«

Er hatte das alles geplant, verdammt noch mal!

War Josie auch eingeweiht?

Zaras Kopf tat weh. Ihr Herz tat weh.

»Legst du dich zu mir, bis ich eingeschlafen bin, Mama?«, fragte Nolan, als seine Lider bereits schwer wurden.

Sie nickte, und er rutschte ein Stück zur Wand. Er hatte nur ein schmales Einzelbett, und lange würden sie da zu zweit nicht mehr reinpassen.

Sie wandte sich ihm zu. Er blinzelte schlaftrunken und lächelte.

Vorsichtig strich sie über sein Schmetterlings… äh, natürlich Libellenpflaster. Zum Glück hatte die Wunde nicht wieder angefangen zu bluten.

»Es geht mir gut, Mama«, sagte er gähnend. »Tut gar nicht mehr weh. Josies Dad hat das super gemacht.«

Zaras Herz zog sich zusammen. Sie lächelte dünn. »Das hat er.«

Nolan blinzelte noch ein paarmal, dann blieben seine Augen geschlossen. Sekunden später wurde sein Atem tief und gleichmäßig, und seine Lippen öffneten sich einen kleinen Spaltbreit – er war eingeschlafen.

Zara drehte sich in dem schmalen Bett, bis sie auf dem Rücken lag, und starrte zur Decke hinauf, die mit über einhundert selbstleuchtenden Sternen und Planeten beklebt war. Der gesamte Abend lief vor ihrem geistigen Auge zum zweiten Mal ab.

Sie hatte sich noch nie so sehr in einem Menschen getäuscht. Niemals.

Sie hatte gedacht, Emmett sei einer der Guten.

Tja, aber du hast ihm nie deine drei Fragen gestellt. Blumenstrauß hin oder her, die Antworten auf diese Fragen verraten dir alles über einen Menschen, was du wissen musst.

Sie musste seine Antworten auf ihre drei Fragen allerdings nicht kennen, um zu wissen, dass Emmett eine Therapie brauchte. Ha! Das konnte man vermutlich sogar vom All aus sehen.

Der Mann war wie ein gottverdammter Lichtschalter. Im einen Moment liebevoll und sinnlich, wie er sie da im Weinkeller genommen hatte, ihr das Gefühl gegeben hatte, die schönste, begehrenswerteste, unglaublichste Frau der Welt zu sein, und im nächsten Moment konnte er ihr nicht mal mehr ins Gesicht sehen.

Sie war gut genug für einen Fick im Keller, aber nicht gut genug, um an ihrer Seite zu stehen. Nicht gut genug, um mit seiner Tochter zu sprechen, sie zu trösten. Es war offensichtlich, dass sie in Emmett Strongs Augen einfach nicht gut genug war. Eine untaugliche Mutter und Partnerin.

Was zum Henker?

Und was machte ihn so verdammt perfekt? So verdammt besonders?

Der Mann war so abartig wischi-waschi. So heiß und kalt, in seiner Nähe schwitzte und fror sie gleichermaßen.

Sie verstand seinen Wunsch, Josie zu beschützen, ihr möglichen Herzschmerz und Verwirrung zu ersparen, aber der Mann trieb es zu weit. Erlaubte er etwa keiner Frau auf dem Spielplatz, beim Kinderturnen, im Schwimmbad oder wo auch immer, mit seiner Tochter zu sprechen, aus lauter Angst, dass er irgendwann mit dieser Frau zusammenkommen könnte? Gott bewahre, seine Tochter lernte so eine Frau vor der Sechs-Monats-Grenze oder was auch immer kennen.

War er wirklich so unflexibel?

War er wirklich so ein Kontrollfreak?

Lebte er sein Leben so streng? So durchgeplant?

Mit so einem Mann konnte sie nicht zusammen sein.

Vielleicht war es gut, dass er ihr die kalte Schulter gezeigt hatte. Er hatte sie davor bewahrt, möglicherweise monatelang im Unklaren zu bleiben, wie er zu ihr stand, während sie ständig versuchte, seine unrealistischen Erwartungen zu erfüllen, und natürlich immer daran scheiterte.

Und wenn sie ihn unter anderen Umständen kennengelernt hätte, ohne Josie? Wie lange hätte er dann gewartet, bis er ihr seine Tochter vorgestellt hätte? Wenn sie die sechs Monate überschritten und er immer noch keine Anstalten gemacht hätte, sie in die Nähe seiner Tochter zu lassen, hätte das dann bedeutet, dass er sie als unwürdig einstufte? Dass er sie für eine untaugliche Mutter hielt und ihre Zukunft düster aussah, weil sie niemals seine Tochter kennenlernen durfte? Hätte sie Monate, vielleicht sogar Jahre mit dem Versuch verbracht, seine Anforderungen zu erfüllen, um endlich den nächsten Schritt in ihrer Beziehung tun zu können?

Ihre Gedanken gingen schon wieder mit ihr durch.

Oder?

Dieser Mann hatte zwei völlig gegensätzliche Seiten. Fast wie Dr. Jekyll und Mr Hyde, nur dass es in seinem Fall Mr Jackass und Dr. Strong war, der attraktive, witzige Mann, den sie heute Morgen im Coffeeshop kennengelernt hatte.

War das wirklich erst heute Morgen gewesen?

Es fühlte sich viel länger an.

Sie hatten schon so viel zusammen erlebt.

Vielleicht sollte sie herausfinden, wer seine Ex war – er hatte erwähnt, dass sie Dermatologin war –, und sich die Frau mal ansehen. Ein Muttermal untersuchen lassen. Herausfinden, ob Emmett die verrückte Partie in dieser Scheidung war oder nicht. Vielleicht hatte sie ihn aus gutem Grund verlassen?

Sie nahm ihr Handy von Nolans Nachttisch und sah auf die Uhr. Es war 23:45 Uhr.

Millionen Leute an der Westküste machten sich in diesem Moment bereit, das neue Jahr einzuläuten. Machten sich bereit, ihre Liebsten zu umarmen, ihre Geliebten oder den Fremden neben sich zu küssen, zu jubeln und zu feiern, bis der Arzt kam.

Nur Zara nicht.

Würde sie das Jubeln von Daisys und Rileys Haus bis hierher hören können? Es waren auf jeden Fall genug Leute dort, und sie wohnte nur ein paar Straßen entfernt.

Emmett hatte sie wahrscheinlich schon längst vergessen und sich diese umwerfende Rothaarige geschnappt, seinen Arm um sie geschlungen und flüsterte ihr gerade all die richtigen Dinge ins Ohr, während Josie in einem der Gästezimmer schlief und von der neuen Mitternachts-Kuss-Partnerin ihres Vaters nichts mitbekam.

Sie schloss fest die Augen, nur um sie gleich wieder aufzureißen, denn alles, was sie auf der Rückseite ihrer Lider sah, war Emmett, wie er diese Rothaarige küsste.

Der Mann war ihr so sehr unter die Haut gegangen, als wäre er ein Parasit.

Sie kratzte sich am Arm.

Toll, jetzt juckte es überall.

Sie verdrehte die Augen, erhob sich murrend von Nolans Bett und ging in die Küche, um sich ein Glas Wein einzuschenken.

Als sie das Glas fast bis zum Rand gefüllt hatte, ging sie damit ins Wohnzimmer hinüber. Sie ließ das Licht aus, setzte sich in den gebrauchten Sessel ihrer Mutter und schaltete den Fernseher ein. Sie wollte im Dunklen sitzen, das nur vom grellen Schein des Fernsehers erleuchtet wurde. Das passte perfekt zu ihrer Stimmung.

Sie fand den Sender, der den Countdown vom Times Square zeigte, und drehte die Lautstärke hoch. Dann lehnte sie sich zurück und nahm einen großen Schluck Wein.

Noch sieben Minuten bis zum neuen Jahr.

Und wieder einmal würde sie es allein beginnen.