SIEBTER TAG

Ruhe bekam ich in dieser Nacht kaum. Das bisschen Schlaf, das mir vergönnt war, wurde gegen vier Uhr vom Schlagen des Fensters unterbrochen. Als ich nach einem Abend hektischer Schadensbegrenzung endlich so weit gewesen war, ins Bett zu gehen, war die Katze noch immer nicht zurück. Ich hatte ein Schälchen Futter bereitgestellt und die Balkontür offen gelassen für den Fall, dass sie nachts wieder auftauchen sollte. Doch ein kurzes Sommergewitter war in den frühen Morgenstunden niedergegangen, und die Windböen hatten die Fenstertür auf und zu schlagen lassen. Ich musste aufstehen und sie verriegeln, damit es nicht hereinregnete. Von der Katze weiterhin kein Spur.

Von der lebenden Katze, meine ich. Ihre tote Genossin war sehr wohl erschienen, nämlich mir im Traum. Schlammiges Wasser triefte ihr von Fell und Schnurrhaaren. Anklagend wie Banquos Geist hatte sie sich vor mir aufgebaut. Dann war sie verschwunden. Und reingeregnet hatte es auch, was mich kaum kümmerte. Ich erwog schon, es einfach so zu lassen, egal, ob die Feuchtigkeit den Boden angriff oder nicht. Aber dann regte sich doch noch ein Rest von Vernunft und Verantwortungsgefühl, und ich wischte mit dem Handtuch aus dem Bad auf.

Als ich mich wieder hinlegte, fand ich trotz meiner Erschöpfung keinen Schlaf. Meine verätzten Finger brannten nur noch leicht – aber das reichte, um die Erinnerung an die Katastrophe in der Küche wachzuhalten. Das Glas, das ich von mir geschleudert hatte, war auf dem Boden zerschellt, und der Wein darin hatte sich über eine schier unglaubliche Fläche verteilt. Nachdem ich mir die Säure von den Händen gewaschen hatte – Blasen waren schon an drei Fingern und beiden Daumen zu sehen –, war ich schockiert von der Ausdehnung der Spritzer, die sogar das Bücherregal erreicht hatten. Dicke dunkelrote Tropfen rannen an den Rücken von Oskars Kunstbänden hinab. Die musste ich mir als Erstes vornehmen. Ihre Fleckempfindlichkeit ließ den Boden dagegen wie teflonbeschichtetes PVC aussehen.

Den Wein von den Büchern zu entfernen erforderte Fingerspitzengefühl, womit ich gerade am wenigsten aufwarten konnte. Ein feuchter Lappen, so fest wie möglich ausgewrungen, zarte, tupfende Wischer. Ein paar der Bücher hatten Hochglanzumschläge, die den Flecken trotzten, andere hatten dunkle Einbände, auf denen man praktisch nichts sah. Von zwei Büchern jedoch waren die roten Flecken nicht mehr wegzukriegen, ohne Löcher in die cremefarbenen Einbände zu reiben. Das waren nur kleine Makel – doch auf ansonsten makellosen Büchern wirkten sie wie eine tragische Verschandelung.

Danach machte ich mich mit vielen Lappen über den Boden her. Der Wein war noch nicht lange eingezogen, nur ein paar Minuten, und ließ sich an manchen Stellen entfernen, ohne Spuren zu hinterlassen. Doch anderswo blieben rötliche Schlieren zurück, und die vielen Glassplitter erschwerten eine zügige Säuberung. Ich arbeitete mich von außen nach innen vor, von den Randbezirken zum Zentrum des Übels, einem augenbrauenförmigen, fußlangen roten Streifen. Der Schaden war sicher weniger gravierend als der über Nacht entstandene, aber dennoch hatte jene lila Qualle jetzt eine ganze Reihe rosiger Tentakel bekommen.

Trotz dieser unschönen neuen Entwicklung war ich noch nicht bereit aufzugeben. Abgesehen von den äußeren Spritzern war der Hauptschaden auf fünf bis sechs Bodendielen begrenzt. Das war viel, aber nicht irreparabel. Novacks Anweisungen waren ja noch nicht konsequent befolgt worden, und ebendas schickte ich mich jetzt an zu tun. Ich wählte ein neues Testgebiet – einen kurzen Streifen vor einem der Küchenschränke – und ging erneut mit Sandpapier und Säure zu Werke. Reinweiße Lappen gab es nicht, also musste ich eine von Oskars Leinenservietten opfern, und siehe da – es funktionierte. Als einzig Positives an diesem Tag hatte die Säure tatsächlich ihre Wirkung getan. Der Fleck war verschwunden.

Nachdem ich eine Stunde gewartet hatte, bis die gesäuberte Stelle trocken war, trug ich eine Schicht Holzpoliermittel aus der Büchse auf, die ich in dem Korb gefunden hatte. Feucht sah das Resultat recht überzeugend aus, aber es musste erst einziehen, ehe ich sicher sein konnte. Inzwischen war es schon nach elf, und es gab nichts mehr zu tun, als zu Bett zu gehen.

Beim Aufwachen galt mein erster Gedanke der rachsüchtigen Traumkatze mit den schmutzwassertriefenden Schnurrhaaren. Doch dann fiel mir der Boden wieder ein – wie er jetzt wohl aussah? Ich stand auf und fuhr in die Hosen. Im Schlafzimmer war es stickig, diffuses Licht filterte durch eine weißliche Wolkensuppe. Keine Katze auf dem Balkon, als ich die Tür aufriss, um etwas Durchzug zu schaffen. Meine Fußsohlen hafteten beim Auftreten leicht an den polierten Dielen, wie die Halterung eines Insekts.

Den Küchenboden mit objektiverem Blick zu sehen, ohne die Panik des Vorabends, führte mir den wahren Ernst der Lage vor Augen. Eine Konstellation von Flecken, eine neue und unschöne Landschaft, die ich in Oskars Paradies erschaffen hatte. Mit dem letzten zerschmetterten Glas war der Horror ins Wohnzimmer vorgedrungen, bis hin zum Bücherregal. Die Unterschiede innerhalb dieses ausgedehnten Systems machten alles nur noch schlimmer. Wenn es nur ein einmaliger Ausrutscher gewesen wäre, hätte man es noch als Pech, Unfall, Missgeschick hinstellen können. Aber hier bestand Erklärungsbedarf für gleich mehrere Unfälle, eine ganze rostige Kausalkette aus Ursache und Wirkung. Das war zu viel für bloßes Pech, das roch nach Schlamperei, Trunksucht, fast schon Vandalismus. Aus dem Ruder gelaufene Partys, Wutausbrüche, Stürze im Vollrausch.

Ich suchte nach der Stelle, die ich auszubessern versucht hatte, und fand sie viel zu leicht. Wenn all das Scheuern und Nachpolieren funktioniert hätte, wäre die Stelle jetzt unsichtbar, höchstens noch an ihrer Position im Verhältnis zu den umliegenden Weinspritzern erkennbar. Stattdessen aber prangte dort ein deutlicher gelber Fleck am Boden, eine weitere Variation innerhalb eines Spektrums, das auch das Blau vom Spültuch und das Rosa, Rot, Lila und Gräulich des eingetrockneten Weins mit einschloss. Es sah aus, als hätte ich versucht, den Boden mit Orangensaft einzulassen. Das Poliermittel aus der Büchse war offenbar völlig verkehrt, aber ein anderes gab es in der Wohnung nicht, und ich hatte auch nicht die geringste Chance, etwas Geeigneteres in der Stadt zu finden. Das alles ließ sich schon aus der Entfernung feststellen. Im Näherkommen …

… ließ mich ein scharfer, stechender Schmerz in der Fußsohle zusammenzucken. Ich hielt mich am Küchentresen fest und hob den Fuß, um nachzusehen, was da passiert war.

Ein Glassplitter steckte in meinem Fußgewölbe, von einem kleinen dunklen Blutstropfen gekrönt. Schwankend griff ich nach der glitzernden Schneide, um sie herauszuziehen, und stellte mir vor, wie sie in mir abbrach oder am Knochen entlangschrappte. Der Magen drehte sich mir um. Doch der Splitter ließ sich ohne Gegenwehr entfernen – ein drei Zentimeter langes Stilett aus gekrümmtem Glas, sichtlich vom Bauch des Weinglases. An der Einstichstelle begann der Blutstropfen zu wachsen, schwoll schnell zu einer schwarzen Perle an, die als Kopf einer scharlachroten Spur zur Ferse rollte, in Richtung Boden. Noch ehe ich sie auffangen konnte, löste sie sich und zerplatzte auf dem Holz – eine perfekte rote Sonne.

Mein Fuß blutete heftiger – mehr und mehr Tropfen quollen hervor, um dem Pionier zu folgen, der schon entkommen war. Ich presste die Hand auf die schmerzende Fußsohle, konnte die Wunde aber nicht ganz abdecken, da ich ja noch den Splitter zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Das Blut quoll mir durch die Finger, füllte die Linien und Falten meiner Hand.

Ich musste weg vom Boden. Der Gedanke war so absurd, dass ich fast auflachte, doch es reichte nur zu einem erstickten Geräusch. Wie kommt man vom Boden weg? Ich konnte mich ja nicht mal mehr rühren. Wenn ich auftrat, würde ich Blut in die Bodendielen treten. Hilflos stand ich auf einem Bein, in der unentspanntesten Yogastellung der Welt.

Das Badezimmer. Der Fliesenboden des Badezimmers. Da musste ich hin. Da würde es fließendes Wasser und Pflaster geben und keinerlei Fleckenrisiko. Aber wie sollte ich durch den Flur und das Schlafzimmer kommen, wo ich doch keinen einzigen Schritt machen konnte? Ich erinnerte mich an den tollen, über die Schwerkraft triumphierenden Sprint der Katzen quer über die Flurwand. Sie kamen auch ohne den Boden aus. Mir aber blieb nichts anderes übrig, als auf einem Bein zu hüpfen.

Nach drei Hüpfern hatte ich den Flur erreicht, aber die Nachteile dieser Art der Fortbewegung machten sich immer deutlicher bemerkbar. Mit dem Fuß in der Hand war es schier unmöglich, die Balance zu halten. Und bei jedem Hüpfer drohte das Blut herauszulaufen, das sich unter meinen Fingern sammelte. Beim dritten Hüpfer fiel ein Tropfen; beim vierten fiel ich fast selbst. Meine Arme schossen vor, um das Gleichgewicht wiederzufinden, und die blutbeschmierte Hand hinterließ eine Spur auf Oskars weißer Wand, während mein verletzter Fuß in seiner eigenen Blutspur ausrutschte. Vor Schmerz stöhnte ich auf.

Geschwindigkeit, sagte ich mir, war in diesem Fall wichtiger als Vorsicht. Auf der Ferse auftretend, humpelte ich unbeholfen zum Bad. Endlich dort angekommen, konnte ich dankbar auf die kalten Fliesen treten, ganz egal, was für Abdrücke es gab. Im Neonlicht wirkte die kleine Wunde jämmerlich – unfassbar, dass so viel Blut aus einem so kleinen Schnitt austreten konnte. Natürlich war Oskar bestens mit antiseptischen Tinkturen und Pflastern ausgestattet. Ich verarztete mich schnell mit beidem und hinkte durch den Flur zurück, einen feuchten Lappen in der Hand, um mich den Blutflecken zu widmen.

Auf dem Schlafzimmerboden gab es ein paar kleinere Streifen, die sich, da frisch, mühelos wegwischen ließen. Der Flur war schon gruseliger – Tatort-gruselig. Sowohl der Fußabdruck auf dem Boden, als auch der halbe Handabdruck an der Wand hinterließen gelblich braune Spuren, nachdem ich mit dem Lappen drübergegangen war. Der Fußabdruck war unauffällig genug, dass man ihn übersehen konnte – er verschwamm praktisch mit der Maserung. Aber die Spur der Hand hob sich deutlich, fast in Augenhöhe, von Oskars reinweißer Wand ab: ein klarer Abdruck des kleinen Fingers und des Ringfingers über einer breiten Schleifspur meiner Handkante. Alles Wiedererkennbare zieht den Blick auf sich, und das hier war deutlich als Teil einer Hand zu erkennen. Die beiden Tropfen, die in der Küche hervorgequollen waren, hatten ebenfalls Flecken hinterlassen.

Während ich den Lappen im Bad ausspülte, sah ich den Glassplitter in der Seifenschale liegen. Er war immer noch blutbeschmiert – mit meinem Blut. Wie hatte er sich überhaupt derartig in meinen Fuß bohren können? Er hatte doch einfach nur am Boden gelegen. Sicher hätte ich mich daran schneiden können, aber warum gleich so tief? Hatte der Splitter irgendwie senkrecht gestanden, vielleicht aus einer Ritze im Boden geragt? Ein Anflug von Paranoia streifte mich mit dem Gedanken, dass es der Boden selbst war, der zornig, rachedurstig nach Blut verlangte. Ich wickelte den Splitter in Klopapier und warf ihn in den Müll. Zur Sicherheit zog ich dann erst mal Socken und Schuhe an.

Zurück in der Küche, trat ich ganz vorsichtig auf, in der Erwartung, bei jedem Schritt das Knirschen von Glas zu hören. Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die ich in einem Horrorcomic gelesen hatte – einer Neuauflage von irgendeiner amerikanischen Groschenblattserie aus den Fünfzigern. Nachdem er einen Mord begangen hat, wird einem Mann bewusst, dass er seine Fingerabdrücke am Tatort hinterlassen hat. Er wischt also alles ab, was er angefasst zu haben glaubt, eine mühselige und langwierige Angelegenheit. Genervt zerschmeißt er eine Tasse – und gewahrt zu seinem Entsetzen, dass seine Abdrücke jetzt auf jedem der tausend Scherben sein könnten. Also versucht er, sie alle zu finden und abzuwischen, denn er will nicht das Risiko eingehen, auch nur einen halben Abdruck zu hinterlassen. Am nächsten Morgen findet die Polizei ihn auf dem Dachboden, damit beschäftigt, akribisch alles alte Spielzeug und Gerümpel abzuwischen, völlig durchgeknallt. Allmählich konnte ich den Mann verstehen.

Aus der Nähe sah die reparierte Stelle schlimmer aus als von Weitem. Nicht nur war es ganz offensichtlich eine andere Schattierung als der Rest des Bodens – zu gelb und zu braun –, außerdem hatten sich über Nacht auch Staub und Katzenhaare darauf gesammelt. Und mittendrin ein Fleckchen, das in der seidenglatten Fläche durch eigentümliche Rauheit hervorstach, als hätte jemand seinen Daumen in die Politur gedrückt, bevor sie getrocknet war, nur war der Rand viel zu ungleichmäßig für einen Daumenabdruck …

Ein Pfotenabdruck. Ein Katzenpfotenabdruck. Ich richtete mich so schnell auf, dass mir schwindlig wurde. Die Stille in der Wohnung bekam plötzlich etwas Fremdes, Lauerndes. Das Sofa war leer, die Tür zum Arbeitszimmer stand offen, und dahinter regte sich nichts.

»Miez Miez«, rief ich, leicht geniert. »Komm schon, Schossy … Strawy.« Ich schnalzte mit der Zunge und machte all die Nonsensgeräusche, die man macht, um Katzen anzulocken – schnalzen, pfeifen, Küsschenschmatzen. Keine Antwort. Konnte es sein, dass die Katze in der Nacht zurückgekehrt war? Aber wo war sie jetzt? War sie wieder hinausgeschlüpft, bevor ich aufstand, um das Fenster zu schließen, oder war sie immer noch – irgendwo?

Ich fühlte mich gedrängt, das Piano zu überprüfen. Es war noch genau so, wie ich es hinterlassen hatte, geschlossen, still. Unfähig, mich zu entspannen, hob ich den Deckel an. Nichts war hier ungewöhnlich, bis auf den einzelnen, jetzt schwarz getrockneten Tropfen Katzenblut. Wie anders als der Rest der Wohnung dieses Zimmer wirkte – zwar die gleiche minimalistische Einrichtung, die gleichen weißen Wände und Holzdielen, aber nichts von der pingeligen Keimfreiheit, die Küche und Wohnzimmer beherrschte. Das Zimmer war angenehm, ruhevoll, persönlich. Dieser Unterschied erstreckte sich auch auf den Boden. Eine breite Fläche am Schreibtisch war sichtlich abgenutzt von den Rädern des Drehstuhls. Nachdem ich nun ein Fachmann in Sachen Bodenpflege geworden war, sah ich es sofort. Es überraschte mich nicht – auch ich würde die meiste Zeit im Arbeitszimmer verbringen, wenn dies meine Wohnung wäre. Am Anfang hatte ich das auch vorgehabt, fiel mir jetzt wieder ein – in diesem Zimmer zu sitzen und zu schreiben, etwas zu schaffen. Die Erinnerung schien aus einer anderen Ära zu stammen, einer anderen Phase meines Lebens. Vielleicht war ja noch Zeit, sagte ich mir, aber ich würde Ruhe und Gelassenheit dazu brauchen und keine Ablenkung, was unmöglich war, bis ich alles nur irgend Machbare getan hatte, um den Boden in Ordnung zu bringen.

Doch jetzt ging es um die Frage, wo die Katze geblieben war. Sie musste nachts da gewesen sein – eine Katze hatte ihre Spuren hinterlassen, auch wenn es nicht die Katze war. Ein abergläubischer Reflex gab mir das Wort Geist ein, was ich schnell wieder abschüttelte. Immerhin hatte es ja etwas Passendes, eine moralische Symmetrie, wenn eine Geisterkatze zurückkam, um meine Reparaturanstrengungen zu vereiteln, auch wenn sie ohnehin nichts fruchten würden. Die ganze Wohnung schien sich gegen mich aufzulehnen, sich vielleicht gar rächen zu wollen – auf jeden Fall war sie nicht mehr neutral.

Aber neutral war sie ja nie gewesen, sondern immer auf subtile Weise feindselig. Das sah ich jetzt in jedem klar umrissenen Detail. Ich war schon eingeschüchtert gewesen, als ich zum ersten Mal durch die Tür kam. Vielleicht war das auch Ziel und Zweck der Wohnung. Vollkommenheit ist aggressiv, vorwurfsvoll.

Die Katze. Ich wusste nicht, ob Geister aßen, auf jeden Fall aber würde Oskars Katze nach vierundzwanzig Stunden in freier Wildbahn hungrig sein. Wenn sie nachts zu Besuch gekommen war, hatte sie vielleicht etwas von dem Futter gefressen, das ich ihr hingestellt hatte.

Ehe ich das Arbeitszimmer verließ, überprüfte ich lieber noch mal, ob der Pianodeckel wirklich geschlossen war. Die schwarz lackierte, schwungvolle Kurve des Flügels reflektierte das Sonnenlicht in senkrechten Linien, hilflos der Ordnung untertan.

Ob das Katzenfutter angerührt worden war oder nicht, war schwer zu erkennen. Die Schale war noch gut gefüllt, aber ich teilte ja nach wie vor ganze Dosen aus, genug für zwei. Sicher konnte man nur sein, wenn man die leere Dose aus dem Müll holte und den Inhalt der Schale wieder hineinschaufelte. Das widerstrebte mir.

Auf dem Küchentisch standen eine drittelvolle Flasche Wein, ein gebrauchtes Glas und ein Teller, von dem ich gestern mein frugales Nachtmahl gegessen hatte. Pflege von Holzböden lag daneben. Chandler Novacks Hollywoodgrinsen strahlte mich vom Buchdeckel her an.

Ich warf einen Blick auf die erfolglos reparierte Stelle am Boden. Sie war immer noch genauso auffällig, eher noch gelber geworden. Die Oberfläche war allzu glänzend, ein billiger, ordinärer Glanz, der von dem dezenten Seidenmatt der unbeschädigten Dielen abstach. Was hatte Novack dazu zu sagen? In seinem Buch musste doch wohl noch mehr drinstehen als Geschwafel über Yggdrasil und inneres Einssein.

Im Falle von sehr weitreichenden Schäden wird man vielleicht den gesamten Boden neu abschleifen müssen.

Nein, völlig unmöglich. Ich blätterte vor, durch endlose Seiten über Schleifmaschinen und Staub und Atemmasken, lauter Dinge, die mich nicht interessierten. Aber dann:

Je nach Qualität des Bodens wäre es andernfalls auch möglich, eine beschädigte Bodendiele herauszuheben und umzudrehen, um die Problemzone zu verbergen.

Das klang interessant, nein, besser noch, es klang nach der perfekten Lösung, ebenso effektiv wie elegant. Die Flecken brauchten gar nicht zu verschwinden – Oskar konnte mit ihnen leben, ohne sie je zu bemerken.

Aber wie konnte man die Holzdielen anheben? Oskar besaß zwar Werkzeug, doch die Dielen waren sorgfältig verlegt, ohne Rillen, in die auch nur ein Zigarettenpapier gepasst hätte. Die kleinen Nägel, mit denen die Dielen fixiert waren, wirkten eher wie chirurgisches Gerät – ihre mattsilbernen Köpfe waren winzige, organisch mit dem Holz verschmolzene Punkte. Es war unverkennbar, dass man weder die Dielen hochstemmen noch die Nägel mit der Zange herausziehen konnte, ohne Kerben im Holz zu hinterlassen.

Perplex suchte ich den Boden nach irgendeiner Stelle ab, an der man Schraubenzieher oder Stemmeisen ansetzen könnte, und schließlich fiel mir die Schwelle zwischen Küche und Wohnzimmer ins Auge. An deren Kante befand sich eine Schutzleiste, die mit einfachen Kreuzschlitzschrauben befestigt war. Wenn man diese Schrauben und die Leiste entfernte, würden die Enden der Bodendielen bloßliegen, sodass man sie leicht hochstemmen und umdrehen konnte. Wahrscheinlich hatten die Unterseiten nicht den gleichen seidenmatten Schliff wie die Oberseiten – wozu auch? Aber einen Versuch war es allemal wert.

Ich legte mir das passende Werkzeug auf einem Blatt Papier neben der Schwelle zurecht und hielt erst einmal inne. Wieso, weiß ich nicht, vielleicht, weil ich dort nun schon kniete – plötzlich war mir danach, um gutes Gelingen zu beten. Dieser Versuch musste unbedingt gelingen. Wenn die Dielen sich nicht umdrehen ließen oder wieder irgendein Missgeschick dabei passierte, hatte ich alle Möglichkeiten erschöpft, den Boden instand zu setzen. Ich würde aufgeben müssen und entweder Oskar die Wahrheit gestehen oder außer Landes flüchten. Ersteres war keine reizvolle Aussicht, Letzteres schon eher. Ich war noch nie aus einem Land geflüchtet, wie wohl auch sonst keiner meiner Bekannten. Das hatte etwas Abenteuerliches, ließ mich an die Aufregung denken, die mich angesichts der Abflugtafel am Flughafen erfasste, diese endlos erfrischende Namensliste – La Paz, Riga, Lagos, Djakarta …Bei dem Anblick fächerte sich die gerade Route meiner geplanten Reise wie ein Lichtstrahl, der durch ein Prisma fällt, zu einem bunten Spektrum auf; jeder Ort der Welt schien gleich nah und leicht erreichbar.

Aber ich würde nirgendwohin reisen – ich würde nach Hause flüchten, zurück nach London, zurück zu den Rissen und dem Grauschleier an den Wänden und einem neuen Stapel Rechnungen auf der Fußmatte. Seltsam, wie wenig wir uns die Räume aussuchen können, in denen wir unser Leben verbringen – mir war nur eine dürftige Bleibe mit Klo neben der Wohnungstür vergönnt, in der ich mich mit ebenso dürftigen Aufträgen abmühte, um die Miete zu zahlen. Oskar dagegen hatte – was? Talent, Können, Glück? – die Fortüne, die es ihm ermöglichte, völlige Kontrolle über seine Umgebung auszuüben, sein privates Paradies aufzubauen. Und als er mir die Chance geboten hatte, sein Paradies zu hüten, hatte es ausgesehen, als könnte ich dadurch aus unguten alten Mustern in meiner unbefriedigenden Lebenswelt ausbrechen. Nun war eine Woche vergangen, und alles, was ich vorzuweisen hatte, war eine Spur der Verwüstung. Durch die Beschädigung von Oskars Wohnung machte ich mir auch die Chance zunichte, sie als Sprungbrett zur Selbstoptimierung zu nutzen. Wenn es irgendeine Möglichkeit gab, den Schaden zu beheben, musste ich sie unbedingt wahrnehmen. Und ich musste sofort herausfinden, ob mein Plan aufging. Am Ende dieses Tages, schwor ich mir, würde ich entweder den Boden repariert haben oder Oskar anrufen und ihm alles beichten: nicht nur das mit dem Boden, sondern auch das mit dem Sofa, der Putzfrau, der Katze … den Katzen, falls die andere nicht wieder aufgetaucht war.

Ich machte mich ans Werk. Die Schrauben an der Leiste waren schnell entfernt, und ein Stück von gut einem halben Meter ließ sich leicht abheben und ebenso leicht wieder an Ort und Stelle anbringen.

Jetzt lagen die Enden der Küchendielen frei. Sie mit den bloßen Fingern hochzustemmen, war nicht möglich – ich musste etwas zwischen die Dielen und die Trägerbalken schieben. Sie lagen sehr dicht auf, festgetreten von all denen, die je durch Oskars Küche gelaufen waren. Die Schraubenzieher waren nicht dünn genug, um dazwischenzupassen, und so etwas wie ein Stemmeisen besaß Oskar nicht.

Also sah ich mich nach dem Küchenmesser um, das ich am Vorabend zum Salamischneiden genommen hatte. Es hatte eine schmale Klinge und eine scharfe Spitze. Doch es war auch noch fettig, und ich fürchtete, es könnte stumpf werden oder abbrechen, wenn ich es zweckentfremdet benutzte. Ich öffnete die Spülmaschine, zog das Geschirrfach auf Rollen hervor und räumte das Messer und die anderen Sachen vom Tisch ein, mit Ausnahme des Weinglases. Dann nahm ich die Suche nach einem passenden Werkzeug wieder auf und fand bald ein biegsames Pfannenmesser in der Schublade.

Zu meiner Überraschung glitt das Messer butterweich zwischen Brett und Balken, und die Holzdiele ließ sich ohne große Mühe nach oben drücken. Als die Lücke breit genug war, schob ich die Finger hinein und zog die Diele hoch. Ihre Unterseite fühlte sich glatt und kühl an, genau wie die obere Fläche. Meine Fingerspitzen kribbelten vor Erregung – es fühlte sich genau gleich an! Die Seiten waren gleich!

Aus dem Flur kam ein Geräusch – ein gedämpftes Klirren, vielleicht von einer Katze, die etwas umgeworfen hatte. Ich horchte. Nichts.

»Miez?«

Wieder klirrte es, unverkennbar diesmal: ein Schlüssel im Türschloss. Das Herz rutschte mir in die Hose.

»Oskar?«

Keine Antwort. Die Tür sprang auf, ich hörte Füße schlurfen. In einem schrecklichen Schwindelanfall sah ich mich selbst, sah, was ich im Begriff war zu tun, sah, wie es anderen Augen erscheinen musste. Die Flecken, die abgeschraubte Leiste, die verschobenen Dielen. Panik befiel mich – ich wollte alles in Sekundenschnelle wieder herrichten oder verdecken, aber das war unmöglich, dazu blieb keine Zeit mehr. Ich stand auf, ganz instinktiv, ohne Plan. Meine Knie schmerzten, und die Wunde am Fuß machte sich wieder bemerkbar.

Durch die gläserne Trennwand sah ich die Putzfrau den Flur entlangkommen. Und sie sah mich, fixierte mich mit mürrischer Miene. Sie trug einen Mopp, die schlackernden grauen Fransen oben wie der aufgespießte Kopf eines ihrer Opfer. In verzweifelter Hast stürzte ich ihr entgegen, um sie aufzuhalten, bevor sie den Küchenboden sah. In der Hand ohne Mopp trug sie einen Eimer mit Putzmitteln.

»Hey!«, rief ich, es sollte munter klingen, doch ich brachte nur ein Quieken hervor. »Hey, das passt gerade nicht so – könnten Sie vielleicht morgen wiederkommen?«

Sie bremste nicht einmal ab, sondern marschierte, den Todesstrahlblick stur nach vorn gerichtet, geradewegs in meine Privatsphäre ein. Ich musste mich platt an die Wand drücken, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen – es war so verlockend, einfach hindurchzuschlüpfen, sie hinter mir zu verbarrikadieren, meine Sachen zu packen und zu sehen, ob ich durchs Fenster abhauen konnte wie die Katzen. Aber die Putzfrau war schon in der Küche. Ich hörte ein theatralisches Ächzen, gefolgt von einem explosiven Ausruf und einem metallischen Krachen, als sie den schweren Schlüsselbund auf den Tresen knallte. Sie hatte den Boden gesehen.

Ich hastete hinter ihr her in die Küche. Sie drehte sich nach mir um und ließ den Eimer fallen, schwarz lodernden Zorn in den Augen. Ihre Fledermausnase blähte sich wie der Doppellauf einer Flinte.

»––!«, kreischte sie und fuchtelte mit dem Mopp in Richtung der Weinflecken. »––!«, legte sie noch mal los, auf die herausgestemmte Diele deutend.

Verhandlungen waren hier offensichtlich zwecklos, und die Besänftigungsversuche hatte ich ohnehin längst aufgegeben. Ich wollte sie nur noch aus der Wohnung raushaben.

»Hören Sie mal«, sagte ich und trat auf sie zu. »Das ist jetzt nicht der Moment. Bitte gehen Sie.« Ich streckte den Arm aus und deutete entschieden zur Wohnungstür. »Gehen Sie!«

Zwischen uns war nicht mehr viel Platz, doch sie kam trotzdem auf mich zu, die Augen hysterisch aufgerissen, und redete auf mich ein, wobei sie jede – Silbe – einzeln – betonte. Dabei reckte sie mir drohend den Mopp entgegen.

»Ich meine es ernst«, sagte ich. Trotz meines festen Willens, standhaft zu bleiben, sah ich mich gezwungen, einen Schritt zurückzuweichen. Doch ich zeigte weiter zur Tür hin. »Raus jetzt! Verlassen Sie meine Wohnung!«

Moment, dachte ich, was soll das heißen, meine Wohnung?

Ich wurde von dem Zottelmopp unterbrochen, der mir rabiat in den Bauch fuhr. Das Ding war feucht und roch muffig. Fledermausgesicht wiederholte ihr Stakkato-Gebrabbel und knuffte mich im Takt dazu mit dem Mopp. Wieder musste ich einen Schritt zurückweichen, vorsichtig, um nicht über das lose Dielenbrett zu stolpern, doch sie fuchtelte immer heftiger auf mich ein. Der Mopp war mit einem Metallreifen am Stiel befestigt, und die Püffe taten richtig weh.

Das war Wahnsinn. Wollte sie mich zusammenschlagen? Mich aus der Wohnung treiben? Mit Gewalt?

Das Blut brauste mir in den Ohren. Alles in mir bebte vor Empörung.

»Aufhören!«, brüllte ich sie an. »Schluss jetzt!« Ich packte den Mopp oben am Stiel, um das Gefuchtel zu unterbinden. Ihr wütender Blick flackerte verdutzt; sie war aus dem Tritt gekommen. Mit einem bellenden Ausruf, der sicher ein Fluch war, rüttelte sie an dem Mopp. Fast hätte sie ihn mir entrissen, also packte ich ihn auch noch mit der Linken an dem Stück des Griffs zwischen ihren Händen.

»Geben Sie her!« Ich versuchte, ihr den Mopp zu entwinden, aber sie war stärker als erwartet und kaum vom Fleck zu bewegen. Wir starrten uns an. Mit neuem Schwung stieß sie wieder zu, als wollte sie mich umrammen. Ich taumelte, und nun zerrte sie an dem Mopp, um den Moment zu nutzen, solange ich aus der Balance war. Doch anstatt loszulassen, ging ich zum Gegenangriff über und drängte sie zurück.

Sie japste überrascht auf, stolperte, ließ unwillkürlich los. Der Mopp war mein. Im Versuch, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, trat sie, die Arme schwenkend, noch einen Schritt zurück, und stieß gegen die offene Tür der Spülmaschine hinter ihr. Mein Warnruf blieb mir im Halse stecken: Obwohl sie gezwungenermaßen stehen blieb, bewegte ihr gewichtiger Körper sich nach dem Gesetz der Schwerkraft weiter in der eingeschlagenen Richtung, und sie fiel mit einem grässlichen Krachen auf die herausgezogene Lade.

»Mein Gott, ist alles in Ordnung?«, fragte ich und trat auf sie zu, den Mopp noch in der Hand.

Sie antwortete nicht, natürlich nicht, starrte mich nur an, Mund und Augen aufgerissen, aber im Schock, nicht im Zorn. Die Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. Mit rudernden Armen stemmte sie sich langsam wieder auf die Füße, unter sichtlichen Mühen und Schmerzen. Ich wollte den Mopp fallen lassen und hinstürzen, um ihr aufzuhelfen, konnte mich aber nicht rühren. Ich wusste selbst nicht, was mich lähmte – dann wurde mir klar, dass ich starr vor Angst war.

Die Putzfrau war wieder auf den Beinen, aber unsicher. Undefinierbare Gefühle zeigten sich in ihrer Miene. Die ganze Wut im Raum war einer klammen, grauen Furcht gewichen. Die Haltung, in der die Putzfrau da vor sich hin schwankte, wirkte irgendwie seltsam. Sie schien es selbst zu bemerken, denn sie hob die Arme an und blickte auf ihr rechtes Bein hinab. Es sah aus wie ein Baumstamm in einem Plastikschlauch, aber ansonsten konnte ich nichts Ungewöhnliches daran entdecken. Sie offenbar auch nicht. Immer noch mit suchender Miene drehte sie sich langsam um.

Ich glaube, ich sah es noch vor ihr, was da aus der Rückseite ihres rechten Schenkels ragte: der silberne Griff von Oskars kleinem Küchenmesser. Es hatte mit der Spitze nach oben im Besteckfach gesteckt – und nun war es tief in die Fett- und Muskelschichten des voluminösen Putzfrauenschenkels gebettet.

Einen Moment lang regten wir uns beide nicht, und kein Laut war zu hören, obwohl unsere Münder offen standen. Diese Klinge, dieser metallische Auswuchs, war so absurd, so roboterhaft, dass man schon eine Weile brauchte, um sich daran zu gewöhnen. Ich zwinkerte irritiert: daran gewöhnen? Sie hatte ein Messer im Bein, das war wohl nichts, was man in seinen normalen Tagesablauf integrieren konnte, oder?

Schuldgefühle beschlichen mich. Hatte ich sie quasi per Fernsteuerung attackiert? Ich ließ die gerade vergangenen Ereignisse noch einmal Revue passieren wie ein von hinten nach vorn geblättertes Daumenkino und prüfte jedes Bild auf sein mögliches Schuldpotenzial.

»Herrgott«, sagte ich. »Sind Sie okay?«

Blöde Frage. Wenn irgendjemand nicht okay war, dann sie. Was ich meinte, war: Wie schlimm ist es denn? Soll ich den Notarzt rufen? Und wenn ja, unter welcher Nummer?

Die Putzfrau kam wieder in Bewegung. Nur Sekunden waren vergangen, seit wir beide das Messer gesehen hatten, doch es hätten auch Wochen sein können. Farbe und Mimik waren in ihr Gesicht zurückgekehrt. Sie klappte den Mund zu und fasste nach dem Silbergriff. Ohne jedes Zögern zog sie die Klinge aus ihrem Bein. Wir zuckten beide zusammen. Sie gab keinen Laut von sich. Blut bedeckte die Klinge, signalrot, und tropfte – natürlich – auf den Boden.

Sie blickte auf das rote Messer. Ich blickte auf die roten Tropfen, die da nebeneinander prangten wie ein Vampirbiss, und dachte daran, wie schnell mein Blut im Holz eingetrocknet war.

Der Gedanke an neue Flecken weckte mich aus der seltsamen Trance, die uns beide gefangen hielt. Ich musste handeln. Ich tat einen Schritt vorwärts und senkte den Mopp, um das Blut damit wegzuwischen. Aber die Putzfrau kam auch in Bewegung, ging plötzlich wieder in Kampfstellung, und die Wut flackerte erneut in ihren Augen auf. Sie hielt das Messer jetzt anders – nicht mehr als bloßen Gegenstand, den sie zufällig zu fassen bekommen hatte, sondern als Waffe. Sie war wütend, und sie war bewaffnet.

Benommen versuchte ich, den Verrücktheitspegel im Raum abzuschätzen. Hoch? Niedrig? Steigend? Fallend? Ein blutiges Messer war auf mich gerichtet, in den Fingern von jemandem, der mich hasserfüllt anstierte. Und doch wirkte die Möglichkeit, von diesem Messer, dieser Person erstochen zu werden, vollkommen abstrakt, ein Szenario von äußerster Unwahrscheinlichkeit.

»Das Blut«, sagte ich, an sie als Putzfrau appellierend, »ich will nur das Blut aufwischen …« Ich schob den Mopp am Boden vor, erreichte die roten Tropfen, und die Putzfrau ging auf mich los.

Eine unbeholfene Attacke, der anzusehen war, dass sie von Messerstecherei genauso wenig verstand wie ich – erst halbherzig ausgeholt, dann fahrig in die Luft gepiekt, war es dennoch gefährlich, und ich machte einen Satz zurück wie ein elektrisierter Frosch. Wild mit dem Messer fuchtelnd kam sie mir nach und schrie aus Leibeskräften, oder vielleicht war ich es, der schrie, oder alle beide. Instinktiv wehrte ich die Klinge mit dem Mopp ab und hatte Erfolg – die Messerspitze schrammte zwischen meinen verkrampft klammernden Händen über den Holzstiel. Ein weiterer Blutstropfen flog auf den Boden.

Die Putzfrau zog ihre Waffe zurück, und auch ich trat zurück, um mehr Abstand zu gewinnen und zu sehen, wo der letzte Blutstropfen hingeflogen war. Durch die Wucht des Schlages war er ziemlich weit geschleudert worden, und ich drehte mich halb mit dem Mopp, wollte ihn wegwischen. Die Putzfrau nutzte ihre Chance, sobald meine Wachsamkeit nachgelassen hatte, aber sie war schwerfällig, und ich hatte einen Moment, mich auf den Angriff einzustellen. Doch was sollte ich tun? Versuchen, ihr das Messer zu entwinden? Sie kampfunfähig machen? Wie denn? Und wenn sie auch noch so verrückt war, sie war eine alte Frau, eine verwundete alte Frau. Ihr mit dem Mopp den Schädel zu spalten, schien der Deeskalation auch nicht gerade förderlich.

Diesmal stach sie von unten nach oben zu, und wieder parierte ich mit dem Mopp. Unsere Blicke trafen sich – ich erwartete animalische Mordlust, fand aber nur grimmige Verwunderung, als wäre sie enttäuscht, dass ich mich nicht einfach passiv abschlachten ließ. Eine dunkelrote Blume blühte auf der Rückseite ihres Schenkels – ich sah sie immer weiter wachsen und stellte mir vor, wie das Blut, der Schwerkraft gehorchend, langsam gen Boden rann. Wir umkreisten uns lauernd; ihrer Miene war nichts anzusehen. Seltsam, sie musste doch Schmerz empfinden – so gut gepolstert konnte sie gar nicht sein.

Gewaltiger Lärm brach plötzlich in die gespannte Stille ein. Wir zuckten gleichzeitig zusammen und drehten uns nach seiner Quelle um: das Telefon. Oskar? Nicht sehr wahrscheinlich – in Kalifornien war es nach Mitternacht. Es klingelte und klingelte, ein penetrantes, Aufmerksamkeit heischendes elektronisches Baby.

In diesem Moment der Ablenkung holte die Putzfrau wieder mit dem Messer aus und zielte auf die linke Seite meines Brustkorbs. Langsam, wie sie war, fiel es mir nicht schwer, ihre Attacke zu parieren. Sie schrie auf vor Bestürzung. Ich versuchte, den Mopp so zu manövrieren, dass ich die Angreiferin mit dem einen Ende abwehren und mit dem anderen zugleich das von der Klinge fliegende Blut aufwischen konnte. Aber es ging nicht, es war nicht möglich, den Boden zu erreichen, ohne meine Verteidigung aufzugeben, zumal die Putzfrau die Taktik geändert hatte und inzwischen auf meine Hand einstach. Überrascht schrie ich auf, wich zurück, stolperte über die Schwelle und schlug längelang hin.

Ich lag rücklings auf dem Küchenboden, zappelte mit Armen und Beinen, und mein Becken fühlte sich an, als wäre es ausgerenkt. Zum ersten Mal im Leben hätte ich mir gewünscht, dicker zu sein. Mein Kopf hatte die offene Klappe der Spülmaschine wohl nur um wenige Zentimeter verfehlt. Ich schmeckte Blut, hatte mir auf die Lippe gebissen.

Trotz ihrer bescheidenen Größe brachte die Putzfrau es fertig, turmhoch über mir aufzuragen. Sie atmete schwer und brummelte auf mich ein. Mein Blick glitt von ihrem Gesicht zu dem Messer in ihrer Hand. Auch sie sah sich das Messer an, als hätte sie es gerade auf dem Boden gefunden. Schnaufend und murmelnd machte sie Miene, sich über mich zu beugen. Ich zuckte zurück und presste mich gegen den kalten Stahl von Oskars Küchenschränken. Das war es jetzt – sie würde mich abstechen. Doch anstatt das Messer in mir zu versenken wie ein Aztekenpriester, warf sie es mit der Spitze voran ins Spülbecken. Ich rappelte mich auf. Die Putzfrau stand immer noch seltsam vornübergebeugt da und atmete rasselnd. Wie in Trance schlurfte sie zur Spüle und ließ Wasser über ihre blutige rechte Hand laufen. Dann drehte sie sich um, den Blick zum fleckigen Boden gesenkt.

»Ich kann das alles reparieren«, sagte ich. »Es wird aussehen, als ob nie was passiert wäre.«

Kopfschüttelnd setzte sie den unartikulierten Monolog fort, den nur sie verstehen konnte, knickte langsam in den Knien ein und spreizte die Hände flach auf dem Holzboden. Ihr Gesicht war rot angelaufen, und ihr Atem ging immer keuchender.

»Ehrlich«, sagte ich, und meine Stimme klang merkwürdig hoch, »es ist nicht weiter schlimm. Ich krieg das wieder hin. Kein Grund zur Aufregung.«

Das Gemurmel brach ab, ebenso wie der pfeifende Atem. Die kauernde Gestalt der Putzfrau schien sich zu entspannen. Langsam sackte sie in sich zusammen wie ein Ballon, der die Luft verliert. Sie rutschte mit dem Gesicht zu Boden, die Arme ausgestreckt.

Auf einmal war es so still, dass ich meinen eigenen Atem hören konnte, meinen eigenen Herzschlag, aber nichts mehr von ihr.

Mit großer Vorsicht – meine Gelenke knackten, als hätten sie sich jahrelang nicht bewegt – streckte ich den Fuß vor und tippte sie an der Schulter an. Keine Reaktion. Der Blutfleck an ihrem Schenkel trocknete schon. Erleichtert stellte ich fest, dass der Fleck nicht den Boden berührte, also keinen weiteren Schaden mehr anrichten konnte. Aber – das war im Moment wohl kaum das Wichtigste. Es war schon mehr als genug passiert.

Ich bückte mich und tastete nach ihrem Puls. Die Haut war blass und feucht. Ein Pulsschlag ließ sich nicht fühlen.

»Scheiße!«, stieß ich zischend hervor. Versehentlich hatte ich den Atem angehalten. Meine Lunge brannte.

»Scheiße«, sagte ich noch mal. Das Gesicht der Putzfrau war leicht von mir weggedreht. Ich ging um sie herum und sah es mir an. Ihre Augen standen offen und starrten glasig ins Nichts.

Neben dem Telefon lag ein Zettel mit den Nummern für Notfälle. War dies ein Notfall? War hier noch irgendwas durch schnelles Eingreifen zu retten?

Da war auch eine Nummer für die Polizei. Ich ließ erst einmal Zeit vergehen.

Mein Becken schmerzte vom Sturz, meine Knie fühlten sich wattig an. Ich setzte mich auf Oskars Sofa, das unter mir seufzte. Im Sitzen konnte ich den Körper in der Küche nicht mehr sehen. Umso besser.

War der Körper eine Leiche? Hatte ich sie umgebracht?

Ich hatte sie umgebracht.

All das mäanderte mir durchs Hirn, ohne dass ich es sonderlich beachtete, wie Fernsehwerbung, und es war ja auch ebensolcher Blödsinn. Ich hatte niemanden umgebracht. Es war ein Unfall. Sie war alt. Das war ein natürlicher Tod. Ich hatte versucht, dem Ganzen mit Vernunft zu begegnen. Es war einfach Pech, meins und ihrs. Ein Irrtum. Nein, kein Irrtum – ein Unfall. Wenn sie den Korken fester in die Flasche gedrückt hätte … und das war jetzt dabei herausgekommen.

Doch ich sah mir nicht an, was dabei herausgekommen war. Stattdessen gingen mir verschiedene Szenarien durch den Kopf. In einem davon rief ich die Polizei und erklärte alles … und dann wurde es irgendwie verschwommen. Sie verstanden es, oder ich wanderte in den Knast. Selbst wenn mir der Knast erspart blieb – und ich war mir nicht sicher, ob meine Erklärung wie die reine Wahrheit klang –, würde ich mich eine Zeit lang in einer sehr ungemütlichen Lage befinden. Oskar würde es erfahren. Wie viel musste ich der Polizei offenbaren? Eine Erklärung für den Streit wäre sicher vonnöten, aber würden sie auch das mit dem Boden wissen wollen? Wie würde es aussehen? Man würde allen möglichen Leuten geduldig Rede und Antwort stehen müssen oder in furchtbaren, gefliesten Räumen warten, im schnöden Neonlicht von Krankenhäusern, Leichenschauhäusern, Polizeirevieren, Botschaften, Arrestzellen gar?

Wenn ich Oskar jetzt anrief, was würde er dann sagen? Was konnte er sagen? Vielleicht war er das vorhin am Telefon gewesen, während meines Handgemenges mit der Putzfrau. Noch hatte er von alldem keine Ahnung – in seinem Universum war dem Boden noch nichts passiert, beide Katzen lebten und die Putzfrau auch. Wie gern hätte ich mich in dieses Universum zurückversetzt … Oskar anzurufen, würde mir nicht weiterhelfen. Der Einzige, der mir helfen konnte, war ich selbst.

Ein paar Minuten lang hatte ich auf dem Sofa gesessen, die Ellbogen auf den Knien, und auf die Geräusche gehorcht, die von draußen kamen. Lieber hätte ich irgendein Geräusch von der Putzfrau gehört – ein Seufzen, ein Stöhnen, ein Schrei von mir aus. Ich schloss die Augen, kniff mir in die Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger, versuchte mich zu konzentrieren. Das Summen der Stadt mischte sich mit dem wirbelnden Chaos in meinem Hirn, einem Chaos, das sich manchmal wie ein Vorhang teilte, um einen eingefrorenen, unumkehrbaren Moment der Gewalt zu zeigen. Die Erinnerung an das Geschehene war ein Irrsinnsanfall, eine krakenarmige Anarchie, alles, nur keine klare Folge von Abläufen. Ich wollte mir ein schlüssiges Bild machen, zusammenhängend wie eine Choreografie, aber ich bekam immer wieder das gleiche Bild belichtet, viele Zeitsegmente übereinander geschichtet zu einer sinnlosen Projektion. Sie kam auf mich zugestürzt, ich stürzte, sie stürzte – ein Moment, als risse ein Faden, und dann war ich hier. Hinter mir in der Küche befand sich das Problem, das mir den Kopf sprengte und drohte, alles zu zerstören. Die Tatsache, dass die Putzfrau tot war, nahm langsam in mir Gestalt an, breitete sich aus, und ihr toter Körper schwoll wie der Beutel eines alten Staubsaugers, prall verpackt in das gleiche, wächserne Material. Ich dachte daran, was passierte, wenn man starb, an das Bankett der Bakterien, das einen aufblies wie einen Ballon … dachte an die Katze in ihrem schwarzen Sack unten im Kanal, dachte an alles, was passiert und nicht mehr rückgängig zu machen war, dreißig Lebensjahre, die sich sinnlos abspulten bis zu diesem trostlosen Moment in einer fremden Wohnung, mit einer Leiche, die nichts mit mir zu tun hatte – sie ging mich gar nichts an! Ich war nicht für ihren Tod verantwortlich! Ich hatte ihr nichts getan!

Ein Laut brach aus mir hervor, halb Schluchzen, halb Wutschrei. Dieses Geräusch war so laut und so rau in meiner Kehle, dass es mich verblüffte und mir die Augen aufriss. Ich holte tief Luft, versuchte, den Kopf klar zu bekommen. Das Problem, die Frage, was zu tun sei, hatte sich mir beim Grübeln zu einem Knäuel von Abstraktionen verzwirbelt. Ich musste das Ganze auf seinen simpelsten Nenner reduzieren, nämlich, dass eine Leiche auf Oskars Küchenboden lag.

Ich stand auf und ging sie mir ansehen. Sie hatte sich nicht gerührt, wie ich etwas enttäuscht feststellte. Das war also eine Leiche, die erste, die ich je gesehen hatte. Meine Familie bevorzugte geschlossene Särge und Einäscherungen. Der Körper kam mir kleiner vor, als ich ihn in Erinnerung hatte, doch seine ungeheure Stille verlieh ihm eine Aura von Feierlichkeit. Welch eine Stille! Ich kniete mich hin und legte der Putzfrau die Hand auf die Schulter. Sie war warm – oder jedenfalls nicht so gruselig kalt, wie ich erwartet hatte. Ich schüttelte sie, versuchte noch einmal, sie zum Leben zu erwecken.

»Aufwachen«, sagte ich und kam mir sofort blöd vor, kindisch, weil ich den Tatsachen nicht ins Auge sah. Also gut, noch nicht kalt. Was hier lag, waren die sterblichen Überreste eines Menschen.

Ich stand auf. »Scheiße.« Meine Kehle wurde eng, und es brannte in den Augen. Tränen? Ich blinzelte heftig, holte tief Luft und hielt den Atem an. Nicht drandenken, nicht drandenken. Die Krise ging vorüber. Es war wieder gut – alles war gut.

Trotzdem machte ich mir Sorgen, wie die Szene einem hypothetischen Beobachter erscheinen musste – würde man da nicht sofort an Schuld, Verbrechen, Mord denken? Die Leiche lag mit dem Gesicht am Boden, umgeben von Weinflecken, die ein Blutbad suggerierten, obwohl an Blut ja nur das auf der Klinge im Spülbecken und das auf ihrem Bein vorhanden war. Der Wein, das Messer, die Leiche – gut sah das nicht aus.

Vielleicht ließ es sich ja verbessern. Ich drückte mich um die Leiche herum zur Spülmaschine und schob die Lade zu. Zwei Blutstropfen waren auf die Innenseite der Klappe gefallen. Ich dachte an den einzelnen schwarzen Tropfen, den die Katze im Piano hinterlassen hatte, schloss die Klappe und schaltete die Maschine ein. Sie klickte und rauschte. Ich lächelte. Ein selbstreinigender Tatort. Nur ein paar simple Handbewegungen, und die Beweise waren verschwunden, in einer geheimen, lichtlosen Welt aus kraftvollen Spülmitteln und kochendem Wasser aufgelöst. Die Fernseh-Kriminalisten würden im Dunkeln tappen.

Wenn doch alles andere auch so einfach wäre. Die Leiche lag immer noch da, unumgänglich. Am liebsten hätte ich sie auch einfach per Knopfdruck weggeputzt.

Vielleicht war das gar nicht so unrealistisch. Das Messer war weggeräumt, und mit dem Mopp war ich flink genug gewesen, sodass es kein Blut mehr am Boden gab. Was hatte sie sonst noch an Spuren hinterlassen? Abgesehen von der Leiche waren da nur noch die Putzmittel im Eimer, der Mopp und der Schlüsselbund auf der Arbeitsfläche. Diese Sachen konnte man problemlos entfernen.

Blieb nur noch die Leiche selbst, das elementare Problem. Die musste ich irgendwie loswerden. Sie war zwar eines natürlichen Todes gestorben – aber in Oskars Wohnung konnte sie nicht liegen bleiben, ohne dass es mich aufs Peinlichste mit ihrem Ableben in Verbindung gebracht hätte. Vielleicht war es ja gegen das Gesetz, die Meldung eines Todesfalls zu unterlassen – aber aus der Wohnung verschwinden musste sie, allein schon zur Vermeidung eines tragischen Justizirrtums.

Ein Chaos von Ideen, eine katastrophaler als die nächste, jagte mir durch den Kopf. Die Leiche irgendwo außerhalb des Hauses abzulegen war unmöglich. Sie war klein, aber fett. Zu der Katze im Kanal würde sie sich definitiv nicht gesellen. Mit Schaudern dachte ich an den Müllschlucker. Nein, ein Begräbnis im Müll war unmenschlich, abgesehen davon, dass sie gar nicht hineinpassen würde. Sogar der schmale Katzenkadaver war schon problematisch genug gewesen. Ebenso undenkbar war die Vernichtung der Leiche durch Verbrennen, Zerstückeln oder Auflösen in Säure – alles viel zu grausig. Was auch immer ich unternahm, schwor ich mir, es sollte einigermaßen respektvoll geschehen.

Mein Blick fiel auf den Schlüsselbund, ein Igel aus schmuddeligem Metall auf Oskars blitzblankem Edelstahl. Viele Schlüssel – genug, um jede Tür des Gebäudes zu öffnen. Und natürlich waren auch die Schlüssel zu ihrer eigenen Wohnung dabei, im ersten Stock, direkt unter Oskars. Wenn ich sie dorthin schleppte, würde ihr Tod wie ein Unfall aussehen.

Es war ja auch ein Unfall gewesen – nur musste es wie einer aussehen, an dem ich nicht beteiligt war.

Ich zog die Gummihandschuhe aus ihrer Klammer über der Spüle und stieg über die Leiche. Je mehr Zeit ich in ihrer Gesellschaft verbrachte, desto weniger machte es mir aus. Sie als bloße Sache zu betrachten, wurde immer leichter. Während ich die Gummihandschuhe überstreifte, musste ich wieder an den Comic-Mörder denken, der so zwanghaft versuchte, seine Fingerabdrücke zu entfernen – das durfte mir nicht passieren. Ich musste von vornherein vorsichtig sein. Einen Mord hatte es nicht gegeben, doch ich beging trotzdem ein Verbrechen – besser, ich sorgte dafür, dass es ein unsichtbares, unbemerktes Verbrechen wurde. Ohne jede Spur.

Oskars Wohnungstür sprang mit einem leisen Klicken auf, und ich spähte hinaus auf den Treppenabsatz. Alles leer. Wie viele Wohnungen gab es überhaupt in dem Gebäude? Ein Dutzend? Und doch war die Putzfrau die einzige Person, die ich hier je gesehen hatte. Dennoch bestand ein gewisses Risiko, überraschend auf einen von Oskars Nachbarn zu treffen, während ich mich mit der Leiche abschleppte.

Die Wohnung einen Stock tiefer lag verlockend nah – keinen halben Meter tiefer, senkrecht gesehen. Aber die solide Qualität des Bodens entmutigte mich. Selbst wenn es mir gelang, genug Dielen in der Küche hochzustemmen, um eine Leiche hinabzulassen, gab es ja noch weitere Schichten unterhalb des Holzbodens. Ich sah hoch. Die Decke war schlicht weiß verputzt, die würde man, falls man unten durchbrach, auch noch neu verputzen und streichen müssen – unmöglich. Selbst ein Oskar oder Novack würde an solch einer Aufgabe scheitern, und ich war schon mit der Bodenpflege überfordert, die sie kinderleicht fanden.

Zurück in der Wohnung, zögerte ich kurz an der Schlafzimmertür. Vielleicht konnte man die Leiche in ein Bettlaken wickeln, sie irgendwie verhüllen … aber eine verhüllte Leiche hat eine unverkennbare Sperrigkeit, und dank Film und Fernsehen sind wir gut darin geschult, sie zu erkennen. Wenn ich sie so transportierte, wie sie war, würde es weniger verdächtig wirken, falls man mich ertappte – natürlich würde es immer noch eine unschöne Szene geben und eine Menge Fragen, doch zumindest würde es nicht aussehen, als hätte ich versucht, etwas zu vertuschen. Ich würde so tun, als hätte ich sie auf die Straße schleppen wollen, um Hilfe zu holen. Allerdings würde es besser sein, unentdeckt zu bleiben. Wenn ich in Erklärungsnot geriet, war es ohnehin zu spät. Der Sinn der Sache war, jegliche Erklärung zu vermeiden.

Ich schnappte mir den Schlüsselbund und warf ihn in den Eimer zu den Schwämmen und Putzmitteln. Dann trug ich den Eimer die zwei Treppen hinunter und stellte ihn vor die Wohnung der Putzfrau. Absolut harmlos sah er dort aus, als wäre seine Besitzerin nur kurz anderswo im Haus beschäftigt. Noch immer war kein Mensch zu sehen. Zeit, zur Tat zu schreiten. Einen günstigeren Moment würde es nicht geben.

Die Etikette im Umgang mit Leichen ist nicht gerade Allgemeingut, aber ein paar grundlegende Dinge verstanden sich hier von selbst. Es war pietätvoller, die Putzfrau unter den Achseln zu packen als an den Füßen. Sie war schwer, rutschte aber leicht auf dem glatten Boden entlang, und ich hatte sie schneller als gehofft aus der Wohnung geschleppt. Die Treppe hinab ging es schon mühsamer. Das Gesicht der Putzfrau war noch immer zum Boden gewandt, und ihre Füße schlackerten hin und her, während wir Stufe um Stufe hinunterpolterten. Ihr Kopf baumelte schrecklich zwischen den Schultern und pendelte bei jedem Aufprall. Einen Moment lang fürchtete ich sogar, das ganze Gerüttel könnte sie aufwecken, sie könnte plötzlich den Kopf heben und mich ansehen, aber sie tat es nicht. Ich war froh, dass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte.

Auf dem Stockwerk der Putzfrau waren die Geräusche von der Straße lauter, deutlicher. Autobremsen quietschten an der Kreuzung, und eine Trambahn rumpelte vorbei. Die Schritte der Passanten hallten vom Gehsteig herauf. Ich nahm den Schlüsselbund aus dem Eimer und erstarrte. Etwa drei Dutzend Schlüssel baumelten an einer Serie ineinanderhängender Ringe, ohne erkennbares Ordnungsprinzip. Manche waren mit roten Wollfäden oder Farbtupfern markiert, trugen Nummern, ins Metall gekratzt oder mit Filzstift daraufgeschrieben. Ich sah mir die Tür an – zu, abgeschlossen, robust. Das Schlüsselloch sah genauso wie Oskars aus, blank poliertes Messing, nur dass hier die Jahre der Politur das Holz ringsum geschwärzt und sich als graugrüne Substanz in den Ritzen abgesetzt hatten. Viele der Schlüssel im Bund sahen dem von Oskar ähnlich. Ich probierte einen auf gut Glück. Er glitt leicht hinein, ließ sich aber nicht drehen. Der zweite blieb auf halbem Wege stecken.

Ich fühlte eine Ader am Hals pochen und schluckte. Meine Finger schwitzten im Handschuh. Die Schritte der Passanten kamen mir immer lauter vor, jedes Mal schnürte sich mir die Kehle zusammen, und ich wartete atemlos, ob unten die Haustür aufging. Ich fummelte einen dritten Schlüssel hervor, doch er rutschte mir aus der Hand – der Bund fiel klirrend zu Boden. Der Krach ging mir durch und durch. Als ich mich bückte, um die Schlüssel aufzuheben, unbeholfen und lächerlich in den gelben Handschuhen, sah ich mit neuen Augen, was mir dort zu Füßen lag – ein totes Etwas, unleugbar, endgültig, ein wahrhaftiger menschlicher Leichnam, mit einer außerordentlichen Macht, mein Leben auf den Kopf zu stellen und meine Freiheit zu gefährden, wenn ich in seiner Anwesenheit ertappt oder auch nur mit ihm in Zusammenhang gebracht wurde. Und doch nahm er gar nicht so viel Raum ein, war kaum sperriger als eine Truhe oder eine schwere Matratze. Vielleicht war genau das der Schrecken, das unsagbare Geheimnis, das wir alle nicht wahrhaben wollten: dass es gar kein so furchtbarer Albtraum war, sich neben einer fremden Leiche aufzuhalten; es konnte sich sogar normal anfühlen. Einfach nicht zu viel drandenken, sagte ich mir. Ich würde einfach nicht drandenken.

Der vierte Schlüssel ließ sich nicht drehen. Der fünfte drehte sich glatt im Schloss, und die Tür ging auf, gab den Blick frei auf einen Streifen roten Teppich, gelbgrüne Tapete und haufenweise verblichene Winter- und Regenmäntel an einer Reihe vergrabener Kleiderhaken. Ich stieß die Tür weit auf und zog die Putzfrau in die Wohnung, so schnell ich konnte, holte auch noch den Eimer rein und schlug die Tür hinter mir zu.

Aufatmend, schweißüberströmt, lehnte ich mich an die Wand. Mir kam es immer noch so vor, als hörte ich Schritte näher kommen, die Treppe heraufkommen, um mich mit der Leiche zu ertappen. Wieder und wieder versicherte ich mir, dass alles in Ordnung sei, keine Gefahr mehr drohe. Die Wohnung der Putzfrau hatte den gleichen Grundriss wie die von Oskar, war aber viel dunkler. Wo Oskar zwischen Flur und Küche eine Glaswand eingezogen hatte, war die Wand hier noch aus Stein, sodass der Flur im Dauerdämmer lag, mit ein paar Bildern an den Wänden und einem Perlenvorhang am Ende.

Ich drückte mich an die Wand und horchte angestrengt. Nichts. Der dicke Flor des Teppichs machte es einem leicht, geräuschlos aufzutreten, nur der Perlenvorhang klimperte, als ich ihn teilte. Das rote Teppichmeer floss lückenlos weiter ins Wohnzimmer, wo ein Sofa mit Plastiküberzug vor einem Fernseher stand, metallene Klappstühle an einem kleinen Esstisch lehnten und Schränke und Kommoden mit Nippes vollgestellt waren. Voll war es hier, doch von einem Mitbewohner keine Spur.

Ich kehrte zu der Leiche zurück – eine undeutliche Masse im Dämmerlicht des Flurs, vielleicht ein vom Haken gefallener Mantel. Es war überraschend schwer, sie den Flur entlangzuziehen – der dicke Teppich bot weit mehr Widerstand als Holz oder Fliesen. Die zusätzliche Mühe ließ eine tiefe Müdigkeit in mir aufkommen, den grimmigen Wunsch, endlich befreit zu sein von der Leiche, dem Ärger mit dem Boden und Oskars Wohnung, aber die Schwere, die Mühe schien mir auch angemessen für den Ernst, die Gewichtigkeit meines Unterfangens.

Im Wohnzimmer sah ich mich unvermittelt mit der Frage konfrontiert, wo ich die Leiche eigentlich lassen sollte. Mit dem Gesicht am Boden liegend, das kam mir irgendwie unnatürlich vor. Es sollte so aussehen, als wäre sie nicht bewegt worden – als wäre sie einfach an Ort und Stelle zusammengebrochen. Ich zog sie in die Mitte des Zimmers und drehte sie um. Ihr Kopf mit den blicklos starrenden Augen kippte zur Seite, als könnte sie es nicht ertragen, mich zu sehen. Ihr Arm, an dem ich sie umgedreht hatte, war kühl, und die Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen, was die Härchen auf ihren Wangen und die bläulichen Lippen betonte. Die Blutrose auf ihrem Schenkel war jetzt verborgen; ich erinnerte mich schaudernd an die unfertige Arbeit oben, das Wenden der Holzdielen. Nun erschien mir die Anstrengung sogar noch sinnvoller, da in irgendwelchen Ritzen noch Blutstropfen von der Putzfrau zurückgeblieben sein konnten und nur darauf warteten, mich bei eventuellen Ermittlern anzuschwärzen. Würde es so weit kommen? Nicht, wenn es mir gelang, sie hier in glaubwürdiger Form abzulegen.

Ich setzte mich aufs Sofa. Die Plastikhülle quietschte unter mir. Vor dieser Woche hätte ich sie für überflüssige Pingeligkeit gehalten, jetzt erschien sie mir als äußerst vernünftige Schutzmaßnahme. Und dieser rote Teppich wirkte geradezu ideal, um Flecken zu verbergen. Triste Unordnung, war mein erster Eindruck von der Wohnung gewesen, doch bei näherem Hinsehen musste ich zugeben, dass sie gut gepflegt war. Die kitschigen Porzellanschäferinnen waren sorgfältig aufgestellt. Auf dem Lacktischchen vor dem Sofa lag kein Hauch von Staub. Neben der abgegriffenen Fernbedienung stand ein Schwarz-weiß-Foto von einem Mann in altmodischer Uniform mit drei Orden auf der Brust. Ein Ehemann? Vater? Bruder? Verflossener? Das Bild hätte aus irgendeinem Jahr zwischen 1930 und 1970 stammen können, aber ich war mir sicher, dass der Mann darauf tot war. Er blickte weg von der Kamera, verloren in der Zeit. Sie würde natürlich Verwandte haben, Freunde, Bekannte, Nachbarn hier im Haus – ein ganzer persönlicher Kosmos, den es jetzt nicht mehr gab. Sie würde vermisst werden, wie dieser Mann in der Uniform – würde ihn jetzt noch jemand vermissen? Verzweifelte Traurigkeit stieg in mir auf, und ich schluckte sie hinunter, konzentrierte mich auf meinen Atem, dachte, ich will nicht darüber nachdenken.

Ein Bogendurchgang mit einem weiteren Perlenvorhang führte in die Küche, wo schlecht schließende Schranktüren aus altersdunkler Fichte vor sich hin schmollten. Noch etwas, das Oskars Renovierung hinweggefegt hatte, all das Schwere, Düstere, Rustikale ersetzt durch Glas, Offenheit, natürliches Licht und geschickt verborgene Stahlträger. Die Seitenwand des Wohnzimmers, an der Oskar sein Bücherregal hatte, war hier mit einer Landschaftstapete bedeckt, die einen Wasserfall im Wald darstellte, bläulich verblichen mit den Jahren. Ein Hirsch blickte edel aus der Szenerie, über eine Kommode voller Keramiktiere hinweg.

Viel Zeit, Mühe und Pflege waren für diese Wohnung aufgewendet worden – ähnlich der, die Oskar für die seine aufbrachte. Folglich musste ich die Putzfrau in einem Zustand dalassen, der von Respekt zeugte, auch wenn ich ihr bislang nichts als Respektlosigkeit entgegengebracht hatte. Wieder musste ich einen Anfall von Melancholie bekämpfen, oder vielleicht war es auch das Schuldgefühl. Ich blickte auf meine Hände in den albernen gelben Gummihandschuhen hinab, dann hinüber zu der Leiche. Sie sah noch immer nicht so aus, als wäre sie dort an der Stelle zusammengebrochen – sie lag zu gerade, und ihre Beine waren ungeschickt an den Knöcheln überkreuzt. Doch ich hatte keine Ahnung, wie sie aussehen würde, wenn sie bei einem Herzinfarkt zu Boden gegangen wäre – selbst der Bauchplatscher in Oskars Küche hatte nicht unbedingt natürlich gewirkt. Mir fiel nur ein, sie auf das Sofa zu setzen, als ob sie sich unwohl gefühlt und zum Sterben niedergesetzt hätte.

Den Versuch war es wert. Ich packte sie wieder unter den Achseln, um sie aufzurichten, aber meine Arme waren schon müde von all der Schlepperei. Ich schaffte es nur, sie bis zum Sofa zu zerren, dann verließen mich meine Kräfte.

Mit ausgestreckten Armen ging gar nichts mehr. Ich holte tief Luft, beugte mich über sie, verhakte die Arme unter ihren Achseln und hievte sie mit letzter Kraft vom Boden hoch, in einer Art Umarmung, ihr auskühlendes Gewicht an mich gedrückt, ihr Gesicht gefährlich nah dem meinen. Eine falsche Bewegung, und ihr Kopf könnte sich drehen, ihre kalte Wange an der meinen entlangstreifen.

Ihr Rumpf glitt auf die quietschenden Sofapolster, und ich ließ sie los, trat zurück und wischte mir reflexartig über Brust und Oberarme. Sie war auf dem Sofa, ihre Pose wirkte glaubwürdig, mit dem Kopf auf der Rückenlehne, ein Arm schlaff über der Armlehne, die Beine auseinander, aber nicht zu weit. Ein Anflug von Übelkeit überkam mich, doch ich fing mich schnell wieder – alles war in Ordnung, sie war auf dem Sofa, ich konnte jetzt gehen.

Vorher musste der Eimer mit Putzmitteln noch in die Küche zurück, ebenso wie der Mopp, der noch oben in der Wohnung war.

Als ich mich mit dem Eimer in der Hand umdrehte, fiel mein Blick auf den Boden. Draußen waren die Wolken aufgerissen, ein Sonnenstrahl fiel durchs Fenster und beleuchtete zwei tiefe Rillen im dicken Teppichflor, parallele Linien, die vom Flur ins Wohnzimmer führten, bis vor das Sofa, auf dem die Putzfrau zusammengesackt war. Deutlich erkennbare Schleifspuren.

Ohne den Eimer abzusetzen, rubbelte ich mit der Schuhspitze über die Vertiefung. Man konnte sie zwar verwischen, aber auch das hinterließ einen Abdruck, nur etwas weniger offensichtlich. Verzweifelt sah ich mich nach einem Stück unversehrten Teppich um. Dort sah der Flor auch nicht gerade wie neu aus, eher abgetreten, aber auf eine normale Art. Nachdem ich den Eimer in die Küche gestellt hatte, arbeitete ich mich langsam den Flur entlang und versuchte, die Spuren mit den Schuhsohlen zu glätten. Besonders gut gelang es mir nicht, statt der Rillen sah man jetzt ein Streifenmuster aus verwischten Fußabdrücken. Immer wieder wanderte ich den Flur auf und ab, um auffällige Stellen einzuebnen. Ich kam mir vor wie ein Gärtner bei der Rasenpflege, nur ohne die Freude und den Stolz. Am Ende war kein Muster mehr zu erkennen, obwohl ich immer noch das Gefühl hatte, dass dem Weg von der Tür zum Sofa etwas Verdächtiges anhaftete. Oder war das nur meine Einbildung, weil ich wusste, wo die Spuren gewesen waren, die außer mir keiner sehen würde?

Mehr konnte ich hier jedenfalls nicht tun. Ich griff mir die Schlüssel und machte, dass ich rauskam. Wieder war das Treppenhaus leer. Ich schloss die Tür der Putzfrau ab und stieg mit gewollter Lässigkeit die Treppe hoch.

Der Schlüsselbund machte mir Kopfzerbrechen. Er musste natürlich in der Wohnung der Putzfrau bleiben, und um die Illusion perfekt zu machen, sollte ihre Tür von innen abgeschlossen sein. Doch wie würde ich dann rauskommen?

Zurück in Oskars Wohnung, wischte ich den Moppstiel mit einem Geschirrtuch ab, um meine Fingerabdrücke zu entfernen, und grübelte über das Problem mit dem Schlüssel nach. Die Tatsache, dass es mir so leicht gelungen war, die Leiche abzutransportieren, hatte mir neues Selbstvertrauen verliehen. Wenn es mir zum krönenden Abschluss auch noch gelänge, die Tür von innen abgesperrt zu hinterlassen, würde mir eine eventuelle Ermittlung kaum noch etwas anhaben können. Wie immer war der Boden das Hindernis – die direkte Route wäre die senkrechte gewesen, durch den Putz und die Balken. Vielleicht gab es ja irgendwo auch noch eine Hintertreppe, einen Geheimgang, einen Lastenaufzug – aber so eng mein Verhältnis zu Oskars Boden und Besitztum auch war, kannte ich mich doch überhaupt nicht in dem Haus aus, das er bewohnte. Da hätte ich die Putzfrau fragen müssen.

Es war schwül geworden, und die Wohnung hatte sich aufgewärmt. Ich ging ins Bad, riss mir die Gummihandschuhe herunter, hielt die Hände unters kalte Wasser und kühlte mir das Gesicht. Prüfend schaute ich in den Spiegel: diese Augen hatten jetzt eine Leiche gesehen, aus nächster Nähe. Sahen sie anders aus? War etwas hinzugekommen oder verschwunden?

Im Wohnzimmer hatte das Licht abgenommen, aufgesogen von schweren lilagrauen Wolkenballen. Ein Windstoß schleuderte Regentropfen ans Fenster. Der Donner rumpelte, als würden in der Wohnung oben drüber Möbel verrückt. Ich musste hier weg. Wenn nicht heute, dann morgen. Es gab nichts mehr, wofür es sich noch zu bleiben lohnte. Ich rief bei der Fluggesellschaft an. Heute sei nichts mehr frei, hieß es, aber für morgen Nachmittag könne ich einen Platz buchen. Ich gab meine Kreditkartennummern an, achtete aber kaum auf den gesalzenen Preis, den man mir nannte. Dann rief ich die Nummer von Oskars Hotelzimmer an, die auf einem der Zettel stand. In Los Angeles würde es schon sehr spät sein, aber vielleicht nicht zu spät. Doch niemand hob ab. Ich legte auf und wählte die andere Nummer, die der Hotelrezeption. Die ruhige amerikanische Stimme, die den Namen der internationalen Kette nannte, war so wohltuend, dass sie fast engelhaft klang.

Ob Oskar in seinem Zimmer sei? Man rief vom Empfang aus an; keine Antwort. Ich ließ ausrichten, Oskar solle mich anrufen, bedankte mich und legte auf.

Oskar schien mir kein so überaus tiefer Schläfer zu sein, es sei denn, er hatte eine Tablette genommen oder war betrunken. Doch ich glaubte eher, dass er nicht in seinem Zimmer war. Kalte Angst durchfuhr mich: vielleicht war er abgereist und bereits auf dem Flug nach Frankfurt. Nein, Moment mal – sicher hätte man es mir gesagt, wenn er schon ausgecheckt hatte. Aber Schatten der Angst hingen mir noch nach. Oskar nicht dort vorzufinden, wo er hingehörte, war einfach irritierend.

Schwerer, gleichmäßiger Regen rauschte herab. Ich wusste nicht mehr, ob ich die Balkontür aufgelassen hatte, und ging schnell nachsehen. Sie war zugesperrt, und von der Katze fehlte nach wie vor jede Spur.

Der Balkon. Die Katze. Das war die Lösung, wie ich dort unten aus der Wohnung kommen konnte. Ich öffnete die Tür und trat hinaus. Draußen prasselte der Regen, und die Reifen zischten auf dem Asphalt. Direkt unter Oskars Balkon lag der, der zur Wohnung der Putzfrau gehörte, und darunter befand sich der nasse Gehsteig.

Jetzt oder nie, während es regnete und wenig Leute draußen waren. Nachdem ich die Gummihandschuhe wieder übergestreift hatte – ein Akt, der mir als solcher schon kriminell vorkam –, nahm ich den Mopp und die Schlüssel und verließ Oskars Wohnung. Der Flur war wie üblich leer und hallte vom prasselnden Regen wieder. Irgendwo gurgelte eine unsichtbare Regenrinne.

Schnell schlüpfte ich in die Wohnung der Putzfrau – zu schnell, da unvorbereitet auf den Anblick, der sich mir im grauen Dämmerlicht bot, kaum dass ich durch die Tür trat. Die Leiche auf dem Sofa sah aus wie eine unförmige Stoffpuppe und jagte mir einen gehörigen Schreck ein. Im Lärm des Regens stand ich verdattert da, starrte auf den seltsam schiefen Kopf der Leiche und fragte mich, ob sie bewegt worden war, seit ich die Wohnung verlassen hatte.

Aber der Plan war der Plan. Ich durchforstete den Schlüsselbund, fand den richtigen und sperrte die Tür ab. Nun war ich eingeschlossen. Den Mopp lehnte ich an die Küchenwand, die Schlüssel legte ich auf die Arbeitsfläche. Auf dem Weg zurück durchs Wohnzimmer musste ich wohl oder übel einen Blick auf die Leiche werfen. Die Art, wie sie da auf dem Sofa hing, widerte mich irgendwie an – sie sah so unnatürlich aus, wie eine Karikatur von etwas, das einmal am Leben gewesen war. Diese Totheit, die endgültige, unumkehrbare Tatsache, dass das Leben aus diesem Körper gewichen war, erschien mir wie ein Hohn. Jetzt gab es kein Zurück mehr, die innere Erneuerung hatte aufgehört, alles, was blieb, war Verfall und Auflösung.

Meine Kehle war trocken; ich schluckte. Draußen goss es weiter, und obwohl die Leiche noch nicht begonnen hatte, die Luft zu verpesten, wirkte die Atmosphäre im Raum ungesund. Das Schlafzimmer der Putzfrau zu betreten, fachte mein schlechtes Gewissen von Neuem an – als ungeladener Fremder kam ich mir vor, als beginge ich eine weitere Entwürdigung. Die Leiche zu transportieren, war nun mal nicht zu vermeiden gewesen – immerhin hatte ich sie gekannt, als sie noch lebte, war in ihr Ableben verwickelt (wie indirekt und unverschuldet auch immer) und hatte sie nicht ohne Respekt behandelt. Aber in ihrem Privatbereich hatte ich nichts zu suchen, hier war ich nur ein Eindringling. Ich beeilte mich, zur Balkontür zu kommen, ohne mich mehr als nötig umzusehen, registrierte nur eine Bettdecke, festgestopft wie im Hotel, ein Kreuz an der Wand, eine Frisierkommode, einen Morgenrock auf einem Kleiderbügel am Schrank. Die Balkontür war nicht verriegelt, ein gutes Zeichen. Sobald ich draußen war, zog ich sie schnell hinter mir zu, damit kein Regen hereinkam.

Wie gehofft hatte der Regen die Leute von der Straße vertrieben. Als ich mich über die Brüstung beugte, lief unten gerade jemand unter einem Regenschirm vorbei, ohne wahrzunehmen, was sich oberhalb seiner Augenhöhe abspielte. Trotzdem duckte ich mich, um nur ja nicht aufzufallen. Sobald die Luft rein war, schwang ich ein Bein über die Brüstung und stützte mich auf einem schmalen Ziersims außen ab. Dann schwang ich das andere Bein nach. In dieser ungeschützten Position wirkte die Straße gleich viel weiter entfernt. Mein Hemd war schnell durchweicht. Bei den Katzen sah das alles so einfach aus, so anmutig, aber für mich gab es keine Zwischenstation zwischen dieser luftigen Höhe und dem Boden.

Vorsichtig ging ich in die Hocke und hielt mich dabei an der Brüstung fest. Zum ersten Mal war ich dankbar für die Gummihandschuhe – ohne sie hätte ich mich in der Nässe viel schlechter halten können. Ich nahm einen Fuß vom Sims und ließ ihn ins Leere hängen, senkte meinen Schwerpunkt dann so weit wie möglich, ehe ich auch mit dem zweiten Fuß vom Sims glitt. Jetzt hing ich mit meinem ganzen Gewicht an den Armen. Es zerrte so in den Schultern, dass ich fürchtete, sie mir auszurenken, und mich schon auf den grauenhaften Schmerz gefasst machte. Dicke Tropfen fielen von den oberen Balkons und rannen mir eisig in den Nacken. Die glänzenden Gehsteigplatten schienen mir immer noch weit entfernt. Aber jede Sekunde des Zögerns erhöhte die Gefahr, entdeckt zu werden. Ich ließ los.

Die Landung war ein harter Schlag für die Gelenke und ließ mir schmerzhaft die Zähne zusammenkrachen. Während ich nach Luft schnappte, fuhr eine Trambahn über die Kreuzung. Drinnen war das Licht an – Reihen von blassen Gesichtern starrten reglos durch die beschlagenen Scheiben wie Baguettes hinter einer Glastheke. Sie starrten, doch ich weiß nicht, ob sie mich im Vorbeifahren sahen, eine triefende Figur in unpassender Kleidung und gelben Plastikhandschuhen, die mit angeklatschten Haaren und benommener Miene am Straßenrand stand. Mit dem Balkon über mir verband mich nichts, und niemand konnte wissen, was sich dort oben hinter dem Fenster befand; niemand würde sich das siegreiche Grinsen erklären können, das über mein Gesicht zog.

Das leise Brummen der Spülmaschine, die fleißig dabei war, Beweismaterial zu entsorgen, durchdrang immer noch Oskars Wohnung. Ihr gurgelndes Pulsieren war ein heimeliges Geräusch, und ich dachte an zu Hause. Ruhelos drehte und wendete ich den Erdball in meinem Kopf, musterte seine helle und dunkle Hälfte, schätzte Flugzeiten ab; wenn Oskar am Morgen in Kalifornien abgereist war … wenn ich jetzt aufbrach …

Minuten gerannen zu Stunden, und ich quälte mich unentwegt mit der Befürchtung, gleich würde die Polizei an die Tür hämmern. Meine Arme und Beine zitterten und zuckten in den trockenen Kleidern, die ich angezogen hatte, eine verzögerte Reaktion auf all die Schlepperei, den Sprung vom Balkon und all das angestaute Adrenalin. Ich goss Wein in das Glas, aus dem ich am Vorabend getrunken hatte, nachdem ich die Scherben seines zersplitterten Bruders aufgesammelt hatte.

Die Bodendiele in der Küche war immer noch lose, aus ihrem Bett gehoben, wie um ein Versteck zu offenbaren, eine geheime Schatztruhe. So eine lose Diele übt einen ganz eigenen Reiz aus – ähnlich wie ein dunkler Tunneleingang oder ein Loch im Bretterzaun. Wenn es wirklich möglich war, die Flecken dadurch zu kaschieren, dass man die Dielen umdrehte, konnte ich mir die Chance nicht entgehen lassen, bevor ich mich davonmachte. Oskar zu übertölpeln, den Schaden fast sichtbar zu hinterlassen, und doch so, dass er niemals darauf kommen würde, war einfach zu verlockend.

Die übrigen Nägel aus den Halteplanken zu ziehen, um das Dielenbrett abzulösen, war nicht weiter schwierig. Darunter wartete eine Enttäuschung – eine dicke Schicht Isoliermaterial und ein Draht, der an die Schwelle getackert war. Es war nicht einmal schön staubig – die Isolierung sah neu aus.

Ich musterte das lose Brett und wunderte mich über die Weinflecken. Seltsamerweise waren sie auf der falschen Seite, dort, wo die Nägel herausragten, der Unterseite. Ich drehte es um und sah mir die Oberseite an. Weinflecken.

Das war alarmierend. Konnte der Wein durch die Ritzen gesickert sein, wie Grundwasser in eine lichtlose Höhle? Die Dielen waren so dicht zusammengefügt, dass höchstens der eine oder andere Tropfen hindurchgelangt sein konnte, und eigentlich nicht mal das. Die Dielenbretter waren auf beiden Seiten gleich glatt poliert, konnten also gewendet werden – es sei denn, sie waren auf beiden Seiten fleckig.

Nach einem Schluck Wein machte ich mich an das nächste Brett, schob behutsam das Pfannenmesser darunter und stemmte es hoch. Wieder gaben die Nägel erstaunlich leicht nach, und das Brett ließ sich hochheben. Wenn dieses hier auch nicht umgedreht werden konnte, dann war es wohl an der Zeit, aufzugeben. Ich zog das Brett mit bloßen Händen heraus und drehte es um.

Alles war vorbei. Hier sah die Unterseite sogar noch übler aus, ein riesiger roter Streifen, wie ein Feuermal, und außerdem auch noch eine Einkerbung, als wäre irgendetwas Schweres, Kantiges auf das Holz gekracht. Seufzend ließ ich das Brett sinken und ließ mich im Schneidersitz auf dem Boden nieder. Endlich unbesorgt, was den Boden betraf, stellte ich die offene Weinflasche und das Glas auf den Fleck neben mir und sah mir die lose Diele genauer an.

Der Schaden ergab keinen Sinn. Wie konnte so viel Wein durch das Holz gesickert sein? Und wieso hatte der Wein sich auf der Unterseite ausgebreitet, anstatt einfach auf die Isolierung hinabzutropfen? Gut, es mochte kleine Wunder im Zusammenhang mit Oberflächenspannung und Kapillareffekt geben, und selbst wenn ich sie nicht verstand, konnte ich mir vorstellen, dass sie einiges bewirkten. Aber das hier schien doch weit über solche Wunder hinauszugehen.

Und noch etwas, das mich schon die ganze Zeit irritiert hatte, stach mir plötzlich mit solcher Klarheit ins Auge, dass ich mich fragte, wieso ich nicht schon eher darauf gekommen war: Die Flecken im Holz hatten auf beiden Seiten die gleichen Eigenschaften.

Jemand hatte versucht, die andere Seite der Holzdiele zu säubern.

Oskar hatte seinen eigenen Boden ruiniert.

Ich zog noch ein drittes Brett heraus, und es erzählte die gleiche Geschichte, ein spektakuläres Rotweindesaster. Die vertrauten Muster von Spritzern und Platschern mit einer neuen Variation: einem Sohlenabdruck. Auf dem vierten Brett, das ich anhob, gab es Spuren von Sandpapier und hilflosen Polierversuchen. Da waren meine eigenen Mühen schon etwas erfolgreicher gewesen. Ich fühlte eine leise Euphorie in mir aufsteigen – eine ungläubige, kichernde Schadenfreude. Diese Dielen waren nach allen Regeln der Kunst versaut – die vierte wies auch noch Zeichen von fehlgeschlagener Säurebehandlung auf, die das Holz hatte ausbleichen lassen und die Maserung aufquellen wie eine allergische Reaktion. Kein Wunder, dass Oskar sich so vor einer Beschädigung des Bodens fürchtete. Er wusste aus erster Hand, wie schwer es war, ihn auszubessern, wusste, dass manche Dielen schon einmal gewendet worden waren und ihr Recht auf Rettung verwirkt hatten. Was für eine Genugtuung! Ich hätte mich kringeln können vor Vergnügen.

Im Boden klaffte jetzt ein breiter Graben, der die hochmütige, nahtlose Perfektion verdarb. Seine Mystik war entweiht. Ich beugte mich vor, um eine fünfte Diele hochzuheben – und hielt inne.

Unter den Dielen, auf dem Bett aus Isolierwolle, lag ein Zettel mit Oskars Handschrift. Ich zog ihn hervor.

Mein lieber Freund,

in dem Buch über die Pflege von Holzböden wird geraten, schwer beschädigte Dielen einfach zu wenden. Sehr einfach – wie eine zweite Chance. Aber eine dritte Chance gibt es nicht. Wenn die gleichen Dielen noch mal beschädigt werden, ist der Boden zerstört. Wenn Du also diesen Brief findest, ist alles klar. Du siehst den Schaden.

Vielleicht freut es Dich. Ich weiß noch, wie Du immer die Augen verdreht hast, wenn ich Dich bat, die Schuhe auszuziehen oder einen Untersetzer zu benutzen – ihr alle habt es übertrieben gefunden, aber mir schien es völlig vernünftig, dafür zu sorgen, dass alles vollkommen bleibt.

Jetzt muss ich Dich aber enttäuschen. Ich habe die Weinflasche nicht zerbrochen. Ich habe meinen Boden nicht beschädigt. Es war Laura. Wir hatten uns gestritten. Bei einem ihrer Besuche hatte sie etwas Wein verschüttet, den ich nicht mehr ganz wegbekam, und ich glaube, ich habe etwas zu viel darüber geredet.

Das konnte man sich leicht vorstellen. Oskar, der nicht mehr aufhörte, zu seufzen und missbilligend den Kopf zu schütteln.

Als sie das nächste Mal kam, brachte sie mir das Buch mit, über die Pflege von Holzböden. Das war der Grund für den Streit. Ich dachte, sie mache sich über mich lustig, und sie schwor, es sei ernst gemeint. Vor Wut warf sie mir die Weinflasche vor die Füße und reiste noch am selben Tag ab, zurück nach Amerika.

Wie es wohl sein mochte, einem Wutanfall von Oskar ausgeliefert zu sein? Die ganze Zeit hatte ich seinen Zorn gefürchtet, obwohl ich ihn eigentlich nie außer sich erlebt hatte. Sein Zorn war stets gegen andere gerichtet gewesen, und er war heftig, aber schwelend, wie das Lauffeuer in Kohleadern. Ich hatte noch nie einen Streit gesehen, der so außer Kontrolle geriet, dass mit Weinflaschen geworfen wurde. Ich nippte an meinem Glas und stellte mir den Krach vor, das Klirren, die Explosion von Wein und Glas.

Der Boden war natürlich ruiniert, und die Dielen mussten gewendet werden. Sie weigerte sich zurückzukommen. Wir hatten uns oft wegen meines Ordnungssinns gezankt, und sie fand die Wohnung ungastlich. Ihr Haus in Los Angeles ist wunderschön, riesengroß, und für alles gibt es Personal. Unsere Putzfrau hier ist nicht besonders kooperativ.

Meine Schadenfreude verpuffte.

Die Leute behaupten, Katzen in der Wohnung machen Dreck und Unordnung. Das habe ich nie gefunden. Die Menschen sind die Quelle von allem Chaos.

Ich habe Laura zu überzeugen versucht, dass es nicht schwierig sei, die Wohnung in Ordnung zu halten, wenn man sich nur etwas vorsehen würde. Sie hat mich ausgelacht. Sie sagte, es sei unmöglich, so hohen Ansprüchen zu genügen. Es sei unvermeidlich, dass der Boden beschädigt würde.

Hast Du es schwierig gefunden? Wenn Du das hier liest, bist Du schon unter die Dielen gelangt. Besser, Du rufst mich an.

In Freundschaft

Oskar

Wieder schweifte mein Blick über den aufgerissenen Boden. Man konnte nicht mehr erkennen, wer welchen Fleck verursacht hatte. Wein und Blut sahen gleich aus. Das Loch im Boden erinnerte mich an das verräterische Herz, das unter den Dielen vor sich hin pocht – natürlich eine reine Schuldmetapher, wie das obsessive Säubern der Porzellanscherben in dem Mörder-Comic. Den Killer kannte ich, aber nun sah ich, dass es auch Oskar hätte sein können, der seine heilige Perfektion in tausend Fragmente, tausend mögliche Enden zerspringen sah, der jedes noch so kleine Stückchen Leben aufheben und bewahren wollte, während es ihm immer weiter in den Händen zersplitterte.

Besser, du rufst mich an.

Ein wenig mühsam stand ich auf. Rotwein auf leeren Magen. Wie spät war es dort jetzt? Zwei, drei Uhr morgens?

An der Hotelrezeption klangen sie zeitlos munter. Über dem Pazifik würde es dunkel sein. Ich sagte, ich wolle eine Nachricht hinterlassen.

In der Flasche war noch ein Rest Wein. Ich machte trotzdem eine zweite auf.