Stuttgart, Wagnerstraße, nachts
Jedes Mal, wenn sie sich geliebt haben, ist Olgas Gesicht weicher, es scheint entspannter zu sein, runder und schöner. Stundenlang kann er in dieses Gesicht schauen: die Wimpern der geschlossenen Augen bewundern, ihre Wangenknochen bestaunen und die immer noch leicht bebenden Nasenflügel mit den Augen liebkosen. Dieses Gesicht ist wunderschön. Es ist das Schönste, was er je gesehen hat.
»Was ist?«, fragt sie leise, als sie träge die Augen öffnet und Denglers Gesicht direkt über sich sieht.
»Du bist wunderschön«, sagt er wahrheitsgemäß.
Olga lächelt und schließt die Augen.
»Schlaf jetzt«, murmelt sie. »Es ist mitten in der Nacht.«
Doch Dengler kann nicht anders, er schaut weiter auf diese Lippen, die Wangen, die Nase, die geschlossenen Augen und will bis zum Morgen nichts anderes tun, als diese Frau anzuschauen und sie zu beschützen, so gut er kann.
Grumm, grumm, grumm.
Auf dem Nachttisch dreht sich Olgas Handy im Kreis und schickt störendes bläuliches Licht ins Schlafzimmer.
Sie seufzt schlaftrunken und tastet mit der rechten Hand nach dem Gerät, um den Ton abzustellen. Doch es gelingt ihr nicht, sie greift daneben. Das Handy entwischt ihr. Sie grapscht noch einmal
danach und kann es nicht greifen. Dengler beugt sich über sie und nimmt das Telefon.
»Eine Silke ruft dich an«, sagt er. »Soll ich ihr den Garaus machen?«
Olga schüttelt den Kopf, nimmt das Handy und drückt es mit immer noch geschlossenen Augen ans Ohr.
»Hallo Silke«, sagt sie.
Dengler kann den Tonschwall fast sehen, der aus dem Telefon quillt, doch er versteht kein Wort.
Olga richtet sich jäh auf.
»Unglaublich«, sagt sie mit weit aufgerissenen Augen.
Sie ist jetzt vollkommen wach.
Dengler schmiegt sich in ihre Achsel und hört, wie Olga sagt: »Wo bist du jetzt?« – »Gut.« – »Muss sie operiert werden?« – »Bist du sicher?« Und dann: »Ich komme so schnell wie möglich.«
Als sie das Gespräch beendet hat, dreht sie sich zu Dengler um. »Das war Silke, Silke Herzog, eine alte Freundin. Eine Ratte hat ihrem Baby die Fingerkuppe abgebissen.«
»Oh Gott«, sagt Dengler. »Und jetzt willst du nach Rumänien fliegen?«
Sie blinzelt ihn irritiert an.
»Wieso Rumänien? Silke wohnt in Berlin. In Kreuzberg.«
Sie wirft die Decke zurück. Das Besondere an ihrem Gesicht, das Weiche und Entspannte, ist verflogen, und jetzt sieht Dengler bedauernd die Entschlossenheit in ihrem Gesicht.
Olga: »Ich versuche, einen Platz in der frühsten Maschine zu ergattern.«
Dengler: »Kannst du denn irgendetwas für sie tun?«
Olga schüttelt den Kopf. »Sie braucht Hilfe. Sie ist völlig fertig.«
»Als Erstes sollte sie irgendwo hinziehen, wo es bessere hygienische Bedingungen und keine Ratten gibt.«
»Sie behauptet, der Vermieter hätte die Ratten in ihrem Haus ausgesetzt.«
Dengler stutzt. »Das glaubst du doch hoffentlich nicht?«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Im Augenblick ist sie im Kinderkrankenhaus. Sie wird da von den Ärzten schräg angeschaut. Eine Mutter, die ihr Kind von Ratten beißen lässt. Klingt doch asozial, oder?«
Dengler sagt nichts, denkt aber, dass es genau so klingt.
Olga sieht ihn an. »Silke ist eine gute Freundin. Und eine tolle Frau. Allerdings hatte sie schon immer einen fatalen Hang zu den falschen Männern. Typen, die eigentlich nichts oder nichts Gutes von ihr wollen, findet sie unwiderstehlich. Männer, die sie auf Händen tragen, langweilen sie.«
»Und das Baby?«
»Was ist mit dem Baby?«
»Stammt es von einem Unwiderstehlichen oder von einem Langweiler?«
»Leider von einem der Unwiderstehlichen. Er ist direkt nach dem Schwangerschaftstest verschwunden.«
Olga hat bereits ihren Laptop auf dem Nachttisch aufgeklappt und die Seite von Eurowings aufgerufen.
»Ich fliege nach Berlin – so früh es geht.«
»Buch zwei Plätze, ich fliege mit«, sagt Dengler.
Olga sieht ihn mit gerunzelter Stirn an.
»Ich werde meinen Sohn besuchen. Jakob kommt morgen oder übermorgen von einer Studienreise zurück.«
Olga klappt den Laptop zu und schwingt sich aus dem Bett. Dengler sieht fasziniert zu, wie sie demonstrativ mit dem Po wackelt, ihm zublinzelt und dann im Bad verschwindet.