Sausalito, Kalifornien
Ihr Vater pflegte eine Zeit lang eine erfrischende, hippieartige Aversion gegen das große Geld. Vielleicht verstärkte sich diese Abneigung, weil er in seinem Sarggeschäft hin und wieder mit einigen sehr, sehr reichen Leuten aus dem Silicon Valley zu tun hatte. Er kam, finanziell gesehen, mittlerweile gut zurecht, das Geschäft mit dem Tod anderer Leute bezahlte die laufenden Kosten für sein Haus, ernährte ihn redlich, erlaubte ihm eine Vorliebe für schottischen Whisky und finanzierte zusätzlich noch Susans Studium sowie die kleine Wohnung, die er ihr in der Nähe des Campus kaufte. Trotzdem: Es ging schon morgens los mit seinen antikapitalistischen Tiraden.
»Das Dove-Haarshampoo, das du benutzt, stammt von Unilever. Der größte Anteilseigener von Unilever ist die Blackhill Group, eine schlimme Firma, die …«
»Susan, deine Colgate-Zahncreme gehört auch zu Blackhill …«
»Guten Appetit, mein Schatz, ich hoffe, dir schmecken deine Cornflakes. Du weißt, zusammen mit Vanguard und State Street gehört Blackhill zu den größten Eigentümern von Kellogg’s …«
»Dir auch einen guten Appetit, Paps«, sagte sie und gähnte.
»Deine neue Levi’s macht einen knackigen Po. Du weißt …«
Sie drehte sich vor dem großen Spiegel im Flur und sah, dass er recht hatte. Sie gähnte demonstrativ und sagte: »Vermutlich ist Blackhill der größte Anteilseigner von Levi’s.«
»Jepp«, antworte er grinsend. »Und deine schicken Adidas-Sneaker, da hat …«
»… Blackhill vermutlich auch die Finger drin?«
»So wie bei dem schicken Ralph-Lauren-Shirt.«
So ging das zwei Monate lang.
Wenn er Pakete von Amazon bekam, redete er auf den Postboten ein. »Blackhill und Vanguard besitzen mehr Amazon-Aktien als Jeff Bezos. Wussten Sie das?«
Susan war es peinlich, weil der arme Paketbote, ein mexikanischer Einwanderer, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat, es eilig hatte.
Dann erlosch Jeffs manisches Interesse an Blackhill, als hätte jemand einen unsichtbaren Schalter umgelegt, und er entwickelte stattdessen eine nahezu kindliche Begeisterung für das Fliegenfischen.
»Ich nehme an: Blackhill ist noch nicht ins Angelgeschäft eingestiegen?«, fragte sie ihn, um ihn zu necken.
Er brummte etwas vor sich hin und winkte ab. Seine Blackhill-Phobie war vorbei, als hätte sie jemand gelöscht.
Nicht so bei Susan.
Irgendwie hatte ihr Jeff einen Floh ins Ohr gesetzt. Sie fragte sich, wie es sein konnte, dass diese Firma offenbar überall in ihrem Leben eine Rolle spielte, es jedoch nur eine äußerst magere Berichterstattung darüber gab. Also setzte sie sich in den großen Lesesaal und las alles, was sie über Blackhill finden konnte.
Im Gegensatz zu ihrem Vater war sie fasziniert.
Blackhill verwaltete mehr als sechs Billionen Dollar. Sie nahm ein Blatt Papier und schrieb diese Zahl auf:
6000000000000 $
Sie versuchte sich diese Summe vorzustellen.
Es gelang ihr nicht. So viel Geld entzog sich der menschlichen Vorstellungskraft.
Sie rechnete und teilte die Summe durch die Anzahl der Menschen auf dem Erdball. Demnach müsste jeder Bewohner, vom gerade Neugeborenen in Berkeley bis zum Hundertjährigen in Tibet, 800 Dollar bei Blackhill eingezahlt haben.
Wahnsinn …
Sie beschloss, ihre Masterarbeit über Blackhill zu schreiben, und setzte einen ausführlichen Fragenkatalog auf, den sie an die Firmenzentrale in New York schickte.
Die Antwort war eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch.
Ein Jahr später schickte Blackhill sie nach Deutschland, um die dortigen Beteiligungen an den neu entstandenen Immobilienkonzernen zu optimieren. Dieser Job, das war ihr klar, war eine Bewährungsprobe. Der erste Deutsche, den sie traf, war Holger May, der Aufsichtsratsvorsitzende von Blackhill in Deutschland, ein früherer Politiker. Sie mochte ihn nicht. So wie er sprach und ging, wie er sich in allem verhielt, erinnerte er sie an einen schneidigen Kolonialoffizier. Blackhill hatte ihn rekrutiert, weil der Konzern ein Auge auf die milliardenschwere deutsche Rentenversicherung geworfen hatte. Wenn es gelänge, das deutschen Rentensystem auf Aktien umzustellen, würden die Umsätze und Gewinne von Blackhill in Europa explodieren. Dieses Projekt voranzutreiben, war Mays Aufgabe. Doch je mehr sie May aus der Nähe beobachten konnte, desto mehr glaubte sie, dass er ein Versager war. Die Zeit der Kolonialoffiziere war schon lange vorbei, und so haftete May trotz seines schneidigen Auftretens immer auch der traurige Geruch des Verlierers an.
Wie auch immer: Nun saß sie in Berlin und hatte einen rücksichtlosen Geschäftsführer auf Trab zu bringen. Sie dachte an die staubige Straße von Volta und sagte sich, dass sie schon schwierigere Aufgaben in ihrem Leben gelöst hatte.