Berlin, Fasanenstraße, Hotel Savoy
Um halb acht steht Dengler auf, schlaftrunken und nackt taumelt er aus dem Schlafzimmer in den Wohnraum. Gestern Abend hat er dort eine Kaffeemaschine entdeckt. Jetzt legt er den Schalter auf der Rückseite um, öffnet den Deckel, versucht die Maschine zu verstehen, hantiert eine Weile, bis er die Kapsel richtig eingelegt hat, denkt kurz über die damit verbundene Müllproduktion nach, drückt den Knopf mit der Aufschrift »Espresso« zweimal, stellt eine der Tassen, die neben der Maschine aufgereiht sind, unter den Hahn, kurz danach faucht die Maschine einen doppelten Espresso hinein. Er gießt etwas von der bereitstehenden Kaffeesahne dazu und probiert. Erstaunlicherweise schmeckt der Kaffee gut. Er trinkt den Rest und spürt, wie seine Lebensgeister erwachen. Noch drei Kapseln liegen bereit. Er wiederholt die Prozedur, füllt seine Tasse mit einem zweiten Espresso, füllt Sahne nach und trinkt ihn in zwei Schlucken. Danach ist er wach.
Vor der Couch liegt ein Teppich. Dengler legt sich auf den Bauch und beginnt mit seinen morgendlichen Liegestützen. Nach der 35. bleibt er erschöpft liegen. 35? Ist das eine Krise? Früher hat er 60 geschafft. Er beschließt, nicht zum ersten Mal, wieder mehr Sport zu treiben, ruht sich kurz aus und stemmt sich zur zweiten Runde hoch. Diesmal ist bei 31 Schluss. Bevor er erneut einen Vorsatz fassen kann, spürt er eine sanfte Berührung auf seinem Hintern. Er fährt herum.
»Was für ein schöner Anblick: ein nackter, verschwitzter Mann noch vor dem Frühstück«, sagt Olga.
Dengler setzt sich auf. »Einer, der ein bisschen aus der Form geraten ist.«
»Findest du?«
»Leider.« Er steht auf, hantiert an der Espressomaschine und bringt Olga einen Kaffee.
»Ein gutes Hotel«, sagt sie.
Dengler nickt. »Es leben Frankfurt und die Internationale Automobil-Ausstellung!«
Olga lacht. »Mit der IAA hast du viel Geld verdient.«
»So viel wie noch nie, seit ich Privatermittler bin.«
Am 2. September war vormittags eine Lady in sein Büro gerauscht. Sportliche Erscheinung, teure, nein – sehr teure, enge Jeans, großes D&G-Logo als Gürtelschnalle, interessante Fingernägel mit breitem blütenweißem Rand, eine enge Bluse, die Dengler für einen Augenblick grübeln ließ, ob sich darunter ein Push-up-BH oder das Ergebnis einer gelungenen Operation befand, hohe, sehr hohe Absätze, auf denen sie sich so sicher bewegte, als trüge sie Turnschuhe. Dunkle Haare, leicht getönte, straffe Haut. Nur die Flecken auf dem Handrücken konnten nicht verbergen, dass diese Frau nicht ganz so jugendlich war, wie sie auf den ersten Eindruck wirkte.
Sie sah sich in seinem Büro um, kräuselte etwas die Nase, atmete einmal tief ein und aus und sagte dann: »Ich bin es leid.«
Dengler nickte verständnisvoll, obwohl er nicht die leiseste Ahnung hatte, wovon sie sprach.
»Ich bin es verdammt noch mal leid«, wiederholte sie.
Ihr Gärtner, ihr Ehemann, ein Klempner, der Liebhaber – jeder von ihnen konnte ihren Ärger auf sich gezogen haben.
Dengler fixierte sie, dachte kurz nach und entschied sich dann. »Ihr Mann?«, sagte er und bemühte sich, einen mitfühlenden Unterton in seine Stimme zu legen.
»Dieses Arschloch«, sagte sie.
»Einen Espresso? Oder brauchen Sie etwas Stärkeres?«
»Espresso wäre gut. Schwarz und stark.«
»Es ist so«, sagte sie, als sie den ersten Schluck getrunken hatte, »mein Mann betrügt mich nach Strich und Faden. Ständig. Und ich bin es leid.«
»Das tut mir leid. Völlig unverständlich – bei einer so gut aussehenden Frau.«
Sie nahm den Kopf zurück und betrachtete ihn so intensiv, als wäre er ein interessantes biologisches Phänomen.
»Das ist ein etwas schmieriges Kompliment«, sagte sie und trank den Kaffee aus. »Aber Sie sind ja auch ein Privatdetektiv.«
Da musste Dengler lachen. Sie sah ihn irritiert an und fiel dann in sein Lachen ein. Danach war das Eis zwischen ihnen gebrochen. Sie beugte sich zu ihm vor.
»In zwei Wochen ist die Internationale Automobil-Ausstellung in Frankfurt«, sagte sie in verschwörerischem Ton. »Ich möchte gerne wissen, was mein Gerhard da so treibt.«
»Das kann ich herausfinden.«
»Was wird mich das kosten?«
Dengler fixierte sie mit einem schnellen Blick und multiplizierte seinen Stundensatz mit drei.
»Das ist viel Geld«, sagte die Frau und wirkte dabei nicht besonders beeindruckt.
»Vielleicht haben Sie noch eine Freundin, die ein ähnliches Problem plagt? Da könnte ich …«
Sie beugte sich noch weiter zu ihm vor und sah ihm kühl in die Augen.
»Sie bringen mich auf eine Idee. Alle meine Freundinnen aus der Laufgruppe und alle aus der Yogagruppe hassen oder fürchten die IAA
»Das klingt nach einem ordentlichen Mengenrabatt.«
Wenige Tage später hatte die Detektei Dengler 22 neue zahlungskräftige Kundinnen.
Es wurden zehn harte Arbeitstage. Jedes Jahr zur großen Internationalen Automobil-Ausstellung verwandelt sich Frankfurt in einen riesigen Puff.
Mehr als einmal saß er in einem Taxi und sagte zu dem Fahrer: »Folgen Sie dem Kollegen vor Ihnen.«
»Der fährt ins Avalon «, sagte der Mann. »Ich bin froh. Endlich ist Automobilausstellung. Da haben wir was zu tun. Nächsten Monat ist Buchmesse, da ist ja nichts los. Im Vergleich dazu jedenfalls.«
Dengler hatte Olga, seinen Freund Mario und den Nachbarn Martin Klein mitgenommen. Sie fotografierten das Ankommen ganzer Männerrudel vor dem Fantasy , dem Candy oder dem Love Lust . Sie knipsten mit versteckten Kameras, wie junge Frauen an Hotelzimmern klopften oder Schlüssel an der Rezeption abholten. Als Dengler merkte, dass der Beifang riesengroß war, änderten sie die Taktik. Sie blieben in den Hotels, beobachteten und fotografierten, Olga knackte die Rechner und notierte die Namen der großen, mittleren und kleineren Automanager. Petra Wolff, seine Assistentin, machte vom Stuttgarter Büro aus »Kaltakquise«, wie sie es nannte: Sie rief die Ehefrauen an und fragte sie, ob Interesse an Informationen darüber bestand, was der Gemahl in Frankfurt trieb. Fast immer bestand Interesse. Petra Wolff schickte erst den Vertrag, dann die Fotos.
Sie arbeiteten meist nachts und schliefen, wenn die Manager tagesüber auf ihren Ausstellungsständen und in den Meetings wichtige Gesichter machten. Die Fridays-for-Future- Bewegung erleichterte ihre Arbeit, indem sie mit ihren Protestaktionen die Haupteingänge blockierte, und die Zielgruppe nach Messeschluss nur durch ein paar Seiteneingänge herausschleichen konnte. Dann nahmen sie die Verfolgung auf. Sie fühlten sich wie Haie in einem Heringsschwarm.
Am Ende der Automobil-Ausstellung gab es nicht nur in Stuttgart jede Menge Ehekrisen – und Denglers Konto war prall gefüllt. Von den anfangs 22 Kundinnen reichten 13 die Scheidung ein. Die Lady mit den weißen Fingernägeln nahm die Fotos ihres Mannes in Denglers Büro entgegen. Er hatte während der gesamten Messe keine einzige Nacht allein verbracht. Die Kosten für unterschiedliche Escort-Agenturen schätzte Dengler auf 10000 Euro. Sie zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch durch ihre geblähten Nasenlöcher in sein Büro, während sie die Fotos durchblätterte.
»Sieh mal an«, sagte sie, »so aktiv kann mein Gerhard sein.«
Dann warf sie die Fotos in Denglers Papierkorb.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte er.
Sie nahm noch einen tiefen Zug und schenkte ihm einen langen Blick aus tiefbraunen Augen.
»Das Gleiche wie vorher. Ich gebe sein Geld aus. Doch ab jetzt ohne ihn.«
Denglers Rechnung beglich sie noch am selben Tag.
Nun kann er sich das Savoy in Berlin leisten und bewohnt mit Olga eine Suite mit zwei Zimmern und einer ausgezeichneten Espressomaschine.
Lang lebe die Internationale Automobil-Ausstellung.
Eine Stunde später frühstücken sie im Café des Literaturhauses in der Fasanenstraße. Dengler verdrückt genüsslich zwei Kartoffelpuffer mit Apfelkompott, Olga hat sich einen veganen Gemüse-Bagel bestellt.
»Ich habe einen Plan«, sagt Dengler.