Berlin, Kröger Immobilien AG ,
Charlotte Krögers Büro
»Sie können da nicht rein. Sie brauchen einen Termin«, sagt Myriam Jung, als Dengler in ihrem Büro steht und Charlotte Kröger sprechen will.
»Brauche ich nicht«, sagt er und geht auf die Tür zu.
»Stopp, stopp, so läuft das hier nicht«, ruft Myriam Jung und springt auf. Doch Dengler hat die Tür bereits geöffnet.
Charlotte Kröger sitzt mit zwei jüngeren Mitarbeitern an einem Besprechungstisch, der vor einem Panoramafenster steht. Dahinter befindet sich ein großer, schlanker Schreibtisch, der nur aus zwei grauen Stützen und einer großen Glasplatte besteht. Ein kleinerer Tisch mit Bildschirm und Telefon steht daneben. An den Wänden hängt moderne Kunst, drei abstrakte Gemälde in zurückhaltenden Farben, Grau, Grün und Weiß, die mit ausholenden Pinselstrichen aufgetragen wurden.
»Sorry«, sagt Frau Jung, die im Türrahmen stehen geblieben ist. »Er ist einfach …«
Charlotte Kröger sieht Dengler an.
»Schon gut«, sagt sie und zu den beiden Mitarbeitern: »Wir machen morgen weiter.«
Die beiden nicken, raffen ihre Unterlagen zusammen und verschwinden.
Charlotte Kröger weist mit einer Geste auf einen der frei gewordenen Sessel. Dengler setzt sich und betrachtet die junge Frau.
Charlotte Kröger trägt ein Kleid aus einem zwetschgenblauen, fließenden Stoff, darunter eine schwarze Hose. Das Kleid sieht teuer aus, sehr teuer sogar. Weit entfernt von den Businessuniformen, die man bei Boss kaufen kann. Silberne Kreolen als Ohrringe. Mehrere Bänder zieren den Arm, braunes Leder und Silber. Drei Ringe auf schmalen Fingern. Hellblonde, schulterlange Haare, stufig geschnitten und so geföhnt, dass sie wie auf einer Welle zum Kinn fließen, umrahmen ein schmales, blasses Gesicht. Auf einer erstaunlich langen, schmalen Nase sitzt eine runde Brille aus dunkelbraunem Horn, hinter der ihn große, wache braune Augen interessiert anschauen. Sie war früher sicher die Klassenbeste. Liebling aller Lehrer. Eine Streberin. Jemand, der die Banknachbarin nicht abschreiben ließ. Sie sieht gut aus, aber es gibt etwas, für das Dengler noch keinen Namen findet, das ihn irritiert. Unauffällig mustert er ihren Busen, der sich unter dem Kleid abzeichnet. Und trotzdem … Etwas fehlt. Etwas irritiert ihn. Er überlegt. Dann kommt er darauf, und er findet sogar eine Bezeichnung dafür. Es ist die Abwesenheit jeglicher erotischer Ausstrahlung. Er betrachtet sie noch einmal, das Gesicht, die Augen, die schmalen Lippen, den Busen – nichts. Auf dieser körperlichen Ebene erreicht ihn kein Signal. Sein Blick sucht ihre Augen. Sie schauen ihn an, wach – und von einer Kälte, als wolle sie einen Vulkan einfrieren.
»Wenn nicht Ihr Vater für die Ratten verantwortlich ist, wer könnte es dann gewesen sein?«, fragt Dengler.
»Wir haben seit einiger Zeit Probleme mit unseren Projekten. Eigentümliche, unspezifische Probleme. Betonmischmaschinen sind plötzlich beschädigt. Und zwar nur solche, deren Ausfall zu Terminschwierigkeiten führt. Wir mussten deshalb einige Konventionalstrafen bezahlen.«
»Hohe Summen?«
»Sehr hohe Summen. Summen, die wir nicht einkalkuliert haben. Wir verkraften das. Noch. Aber es schadet unserem Ruf. Und diese Rattengeschichte … Presse, das Fernsehen. Das alles schadet unserem Ruf erst recht … Das kann unabsehbare Folgen haben.«
»Ihr Ruf, Frau Kröger? Ist es nicht so, dass die Leute in der Immobilienbranche ohnehin nur Verbrecher vermuten?«
Ihr Mund verzieht sich zu einem schmerzhaften Lächeln.
»Wir leiden unter einem schlechten Ruf. In der Öffentlichkeit. Das ist wahr. Aber die Kröger Immobilien AG hat einen hervorragenden Ruf bei Investoren und Geldgebern. Dieser Ruf ist entscheidend. Wird er zerstört, fehlen uns die Investoren; dann können wir unsere Projekte nicht mehr angemessen finanzieren …«
Sie sieht ihn mit einem klaren Blick an. »Dann wird es ernst, und in genau diesem Stadium befinden wir uns. Deshalb hat mein Vater Sie engagiert. Ich habe mich über Sie erkundigt. Sie haben einen gewissen Ruf. Unkonventionell. Aber effektiv. Die nächste Frage.«
»Können Sie mir einmal Ihr genaues Geschäftsmodell schildern?« Jetzt huscht ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht. Sie bewegt sich wieder auf sicherem Terrain. Ihr Stimme festigt sich.
»Die Kröger Immobilien AG hat zwei Geschäftsbereiche. Eigentlich sind wir ein Bauunternehmen. Wir bauen Wohnungen …«
»Luxuswohnungen.«
Sie zieht die Mundwinkel verächtlich zusammen. »Luxus! Was ist schon Luxus? Was für den einen Luxus ist, ist für den anderen armselig. Aber, wenn Sie so wollen, wir sind tatsächlich eher im hochpreisigen Segment unterwegs. Meinethalben also Luxuswohnungen. Wir bauen sie und verkaufen sie oder neuerdings vermieten wir sie auch. Vor vier Jahren sind wir in den Markt mit Bestandswohnungen eingestiegen …«
»Sie meinen – Mietwohnungen?«
»Ja. Dieser Markt ist sehr interessant geworden. Wir wollen dabei sein und kaufen Objekte, sanieren sie und vermieten sie weiter. Unsere beiden Geschäftsbereiche funktionieren nach ähnlichen Regeln. Von daher passt das gut zusammen.«
»Aber das bringt Ihnen erheblichen Ärger ein …«
Sie lächelt nachsichtig. »Sie haben keine Ahnung vom Wohnungsmarkt, nicht wahr?«
»Deshalb sitze ich vor Ihnen. Betrachten Sie mich als interessiert und lernwillig.«
Sie überlegt einen kurzen Augenblick. »Kennen Sie den ältesten Begriff für Mietwohnungen?«
Dengler schüttelt den Kopf.
»Im Mittelalter nannte man Mietwohnungen ›Zinshäuser‹. Das beschreibt ganz gut, worum es auf dem Wohnungsmarkt geht.«
»Es geht um Zins? Im Ernst? Nicht um Steine, Beton, diese Dinge?«
»Darum geht es auch. Aber erst in zweiter Linie.« Sie lehnt sich in ihrem Sessel zurück. »Versuchen Sie sich mal in den Kopf eines Investors zu versetzen. Sie haben ein paar Millionen flüssig und wollen sie investieren. Wie gehen Sie vor?«
»In einer solchen Situation war ich leider noch nie.«
»Dann sage ich es Ihnen. Sie überlegen sich: Kaufe ich Aktien, mach ich was mit Schiffscontainern? Lege ich’s aufs Sparbuch? Letzteres wäre natürlich äußerst unklug.«
»Natürlich«, sagt Dengler und denkt, dass es schön wäre, wenn er ein gut gefülltes Sparbuch hätte.
Sie beugt sich vor. »In den Wohnungsmarkt werden Sie das Geld erst dann stecken, wenn Ihre Millionen Ihnen dort eine höhere Rendite erwirtschaften als andere Geldanlagen. Schließlich ist Ihr schönes Geld dann erst mal eine Zeit lang in Steinen, Beton und diesen Dingen gebunden. Häuser haben eine lange Produktionszeit. Erst wenn die durchschnittliche Verzinsung höher ist als bei anderen Anlagemöglichkeiten wie Aktien, erst dann lohnt sich für Sie die Investition in den Wohnungsmarkt. Logisch, oder?«
»Wenn ich eine oder mehrere Millionen hätte, würde ich möglicherweise so denken«, gibt Dengler zu.
»So denken Investoren, glauben Sie mir.«
»Okay, verstehe, Sie nehmen Ihre Millionen und bauen damit Häuser und Wohnungen, die Sie dann …«
»Falsch«, sagt Charlotte Kröger.
»Falsch?«
»Komplett falsch. Mit Eigenmitteln können wir die Projekte gar nicht stemmen, die wir durchführen. Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit besteht darin, Investoren zu finden und Geld aufzutreiben.«
Charlotte Kröger streicht sich mit einer schnellen Bewegung eine Strähne aus dem Gesicht.
»Wir besorgen Geld von Investoren. Dann bauen wir. Wohnungen und Häuser. Wir garantieren den Investoren eine erhöhte Gewinnmarge. Das ist unsere eigentliche Arbeit. Wir verkaufen die Häuser und Wohnungen wieder oder vermieten sie und zahlen den Investoren Rendite auf ihr eingesetztes Kapital. Wir müssen in der Lage sein, eine höhere Rendite als in anderen Bereichen zu erwirtschaften, denn Investitionen in den Wohnungsbau konkurrieren immer mit anderen Anlagemöglichkeiten.«
»Sie meinen … was Sie hier tun … es ist eine reine Geldsache?«
»Was glauben Sie, warum wir das machen? Um Architekturpreise zu gewinnen? Wohnungsbau funktioniert nur, wenn die Rendite über der anderer Anlagemöglichkeiten liegt. Sonst würden Sie uns Ihre Millionen nicht anvertrauen.«
»Mmh, ich bin aber nun mal nicht jemand, der ein paar Millionen auf dem Konto hat. Nehmen wir mal an, ich wäre eine Krankenschwester; zum Beispiel die junge Frau, deren Baby dank einer gefräßigen Ratte eine verkrüppelte Fingerkuppe hat. Nehmen wir an, ich bin jemand, der einfach eine preiswerte Wohnung braucht. So wie die Mieter Ihrer Häuser in Kreuzberg. Könnte ich in einem der Häuser, die Sie bauen, eine Wohnung mieten?«
Charlotte Kröger lehnt sich in ihrem Schreibtischsessel zurück, lächelt ihn an und sagt: »Nein, natürlich nicht.«
»Warum nicht?«
»Wir bauen nur im Hochpreissegment. Wir verkaufen die Wohnungen, die wir bauen, ab 9.000 Euro pro Quadratmeter aufwärts.«
»Sie bauen keine Wohnungen für Normalsterbliche? Warum nicht? Die Nachfrage ist riesengroß. Es wäre ein Bombengeschäft.«
»Die Erträge in unserem Segment sind deutlich höher.«
»Okay. Aber andere Firmen machen das … hoffentlich.«
»Nein.«
»Was heißt ›nein‹? Jemand muss doch …«
»Kein rational agierender Akteur im Wohnungsmarkt wird sich in dem Segment von …, wie haben Sie das noch einmal genannt?«
»Preiswerte Wohnungen für Normalsterbliche!«
»… in diesem Segment engagieren.«
»Niemand?«
»Es gibt kein Beispiel dafür, dass ein privater Marktteilnehmer preiswerte Wohnungen baut.«
»Aber es gibt die Normalsterblichen. Fahren Sie U- oder S-Bahn?«
»Selten.«
»Bei diesen seltenen Gelegenheiten müssen sie Ihnen doch aufgefallen sein. Normale Menschen mit normalen Einkommen. Diese Leute wohnen doch auch irgendwo.«
Sie schüttelt sich leicht. »Herr Dengler, Sie scheinen eine wohltätige Ader zu haben. Das ehrt Sie. Mein Vater macht ja auch ständig diese Sachen. Gebt den Kindern eine Chance und so weiter. Doch private Marktteilnehmer bauen keine Wohnungen für die Leute, die Sie in S- und U-Bahn sehen. Diese Leute tun sich in Genossenschaften zusammen. Oder diese Art von Wohnungen werden durch staatliche Förderprogramme ermöglicht. Oder von irgendwelchen kleinen Hausbesitzern, die ein, zwei Einheiten für ihre finanzielle Absicherung im Alter gekauft haben. Oder durch kommunalen Wohnungsbau. Nicht von uns. Nicht von den relevanten Bau- und Immobilienunternehmen. Und zwar ausnahmslos.«
»Ihre Arbeit in dem Unternehmen hat also mehr mit Geld als mit Steinen zu tun?«
Sie lacht lustlos. »So kann man es sagen. Mein Vater ist der perfekte Bauunternehmer. Er hat es von der Pike auf gelernt. Er weiß alles über Fugen, Statik und den ganzen Kram. Mich hat er nicht ohne Grund Betriebs- und Volkswirtschaft studieren lassen. Wir ergänzen uns perfekt. Es gibt kein besseres Team als uns beide.«
»Wenn das so ist, warum bleiben Sie nicht bei diesem Geschäft? Warum kaufen Sie jetzt auch noch Häuser, in denen bereits Leute wohnen?«
Die Tür fliegt auf. Sie hebt unwillig den Blick, aber dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. »Hallo, Papa«, sagt sie.
»Dengler, hier sind Sie also. Ich suche Sie wegen der Sache mit dem Passat. Also das beunruhigt mich wirklich. Ich will wissen, wer da dahintersteckt. Sie müssen herausfinden, wer mich verfolgt.«
Georg Dengler steht auf. »Ich brauche dazu Ihren Terminplan. Ich brauche einen eigenen Wagen. Ich brauche …«
»Sagen Sie Myriam, was Sie brauchen. Sie bekommen es. Außerdem …« Kröger zögert einen Augenblick. »Kommen Sie morgen mit. Ich werde zu den Mietern sprechen …«
»Papa, noch mal, das ist wirklich keine gute Idee.«
»Charlotte, wir müssen in die Offensive gehen. Dringend müssen wir in die Offensive.«
Kröger wirft die Tür hinter sich zu.