Berlin-Wannsee, Organisation Fuhrmann,
Kollege Meesen
Die Finanzierung der Arbeitsgruppe Fuhrmann wird durch verschiedene Mittel sichergestellt, die aus dem Haushaltstitel 0415 des Bundeskanzleramts abgezweigt werden. Ein anderer Teil stammt aus dem Einzelplan 06 und wird dort in verschiedenen Titeln versteckt. Bislang gab es kein Problem, die Gelder vor dem Haushaltsausschuss des Bundestages und vor allem vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Es kommt die vergleichsweise bescheidene Summe von jährlich 35,4 Millionen Euro zusammen. Das reicht für den Unterhalt der Villa am Wannsee, in der offiziell eine Pensionskasse der Polizei untergebracht ist, sowie für drei konspirative Häuser in Berlin, eines in Hamburg, zwei in München und eines in der Stuttgarter Haußmannstraße.
Die Arbeitsgruppe Fuhrmann ist geheim. Streng geheim. So geheim, dass es sie eigentlich gar nicht gibt. Sie taucht in keinem Gesetz auf, in keinem Regierungsbeschluss, keinem Zeitungsartikel, keiner Fernsehnachricht, keinem Budget. Sie legt niemandem Rechenschaft ab außer sich selbst. Niemand gibt ihr Weisungen oder Befehle. Man wird in dieses Gremium nicht gewählt. Man wird berufen. Drei Mitglieder des erweiterten Direktoriums müssen für den Neuberufenen bürgen.
Es ist noch nie vorgekommen, dass es eine undichte Stelle gab. Doch nun ist Karl Fuhrmann nicht mehr so sicher. Er hat im Grunde genommen zwei Probleme zu lösen, und er wird sie lösen. Beide Probleme haben Namen: Harry Nopper und Hans-Peter Meesen.
Es gibt Kräfte im Direktorium und in der Arbeitsgruppe, die Nopper als seinen Nachfolger installieren wollen. Fuhrmann weiß genau, wer die treibenden Kräfte bei seiner Ablösung sind. Sie haben es schon einmal versucht und sind gescheitert. Gott sei Dank, muss man wohl sagen. Damals wollten sie den Kollegen Meesen zu seinem Nachfolger machen.
Fuhrmann kratzt sich am Kinn. Nicht auszudenken, wenn sie damit durchgekommen wären. Doch statt sich nach ihrem schweren Fehler bei ihm zu entschuldigen, was wohl angemessen gewesen wäre, versuchen sie es jetzt mit Harry Nopper erneut.
Der Kollege Meesen: Mein Gott, was für eine Katastrophe wäre das geworden, wenn der sein Nachfolger geworden wäre. Heute steht Meesen im Licht der Öffentlichkeit wie noch nie ein Mitglied der Arbeitsgruppe zuvor. Manchmal scheint er zu vergessen, dass er zur Gruppe gehört. Am meisten Sorge macht Fuhrmann, dass Meesen so wahnsinnig eitel ist – weit über das normale Maß hinaus. Sein Verhalten beunruhigt im Augenblick alle Mitglieder des Direktoriums. Man wird sich heute mit ihm beschäftigen müssen. Das gab es auch noch nie. Aber welche Konsequenz wäre zu ziehen? Aus der Arbeitsgruppe Fuhrmann kann man nicht austreten. Nur der Tod beendet die Mitgliedschaft. Meesen ist erst 59 Jahre alt. Und noch nie gab es einen Exekutionsbeschluss gegen ein eigenes Mitglied.
Doch irgendwann ist immer das erste Mal.
Meesen wurde für die Arbeitsgruppe rekrutiert, als er noch stinknormaler Referatsleiter im Innenministerium war. Das war 2001. Otto Schily war Innenminister, ein überschätzter Mann, der in Besprechungen Beamte mit Aktenordnern bewarf, aber ansonsten, wenn man seinem aufgeblähten Ego schmeichelte, sich von diesen gut führen ließ. Fuhrmann hatte das Husarenstück des Beamten Meesen beobachtet. Er war damit beauftragt herauszufinden, wie man dem im US -Gefangenenlager Guantánamo festgehaltenen Murat Kurnaz die Einreise nach Deutschland verweigern könne. Der türkischstämmige junge Mann war von den amerikanischen Freunden in Pakistan entführt und von Januar 2002 bis August 2006 im Lager Guantánamo auf Kuba ohne Anklage festgehalten worden. Die Amerikaner wollten ihn loswerden, da sie Kurnaz nichts nachweisen konnten. Sie hatten einen Fehler gemacht. Der Mann war unschuldig und in keinerlei illegale oder gar terroristische Aktionen verwickelt. Da er in Bremen geboren und aufgewachsen war, stand ihm von Rechts wegen lebenslanges Aufenthaltsrecht in Deutschland zu. Es gab, rein juristisch gesehen, keine Möglichkeit, ihm die Rückkehr zu verweigern.
Alle waren gespannt, wie Meesen diese Aufgabe lösen würde.
Fuhrmann, damals noch Beamter im Kanzleramt, hatte Meesen seinerzeit schon auf der Rekrutierungsliste, wollte aber abwarten, wie er diesen gordischen Knoten durchschlagen würde. Meesen galt als intelligent, in Besprechungen konnte Fuhrmann sich von dessen schneller Auffassungsgabe überzeugen. Er teilte die Verachtung für gewählte Politiker. Ein guter Mann. Fuhrmann wollte sich zurücklehnen und sehen, was er aus dem Fall Kurnaz machen würde.
Meesen löste die Aufgabe mit Bravour.
Seine Argumentation war so perfekt, so skrupellos, so brillant und so bösartig, dass sie ihm stehend applaudierten.
Meesen schrieb in einem Gutachten, Kurnaz habe als türkischer Staatsbürger das unbegrenzte Aufenthaltsrecht in Deutschland verwirkt, da er mehr als sechs Monate außer Landes gewesen sei und sich in dieser Zeit nicht bei den zuständigen Behörden gemeldet habe. Dass er in diesen »mehr als sechs Monaten« illegal inhaftiert worden war, tue der Sache keinen Abbruch. Aufgrund Meesens Rechtsgutachten, das der damalige Bremer Innensenator Röwekamp (CDU ) sich zu eigen machte, schmorte Kurnaz noch ein paar Jahre länger auf der schönen Insel – und Meesen galt als Held, zumindest in Fuhrmanns Kreisen.
Jedem war klar, dass diese Argumentation vor den hyperlegalistischen deutschen Gerichten keine Chancen hatte, und tatsächlich entschied das Bremer Verwaltungsgericht später, dass der Deutschtürke seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nicht verwirkt habe, da er nicht freiwillig »ausgereist«, sondern gekidnappt worden sei. Aber bis dahin war genügend Zeit vergangen, und die Sache wurde in der Öffentlichkeit eher auf kleiner Flamme behandelt.
Doch Fuhrmann wusste nun: Meesen war sein Mann. Er bugsierte ihn in den Stab für Terrorismusbekämpfung in der Abteilung Öffentliche Sicherheit. Dann führte er das Anwerbungsgespräch, das angenehm unkompliziert war.
Fuhrmann zog weitere Fäden und erreichte, dass Meesen zum Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz ernannt wurde.
Der Rest ist Zeitgeschichte.
Doch nun turnt er in der Öffentlichkeit herum, und niemand im Direktorium denkt mehr, dass Meesen ein möglicher Nachfolger für ihn sein könne. Man ist sich nicht sicher, ob sein Ehrgeiz nach einem politischen Amt nicht größer ist als seine Loyalität zu der gemeinsamen Sache.
Meesen sollte vorsichtiger sein.
Jetzt wollen sie also Harry Nopper zu seinem Nachfolger machen. Noch eine Personalangelegenheit, die Fuhrmann nicht gefällt. Ein guter Mann, sicher. Er kommt aus dem Stall des hessischen Verfassungsschutzes. Enge Anbindung an den BND . Nach der Wende ging er nach Erfurt und wurde Vizechef des thüringischen Landesamts für Verfassungsschutz. Zusammen mit dem Kölner Bundesamt baute er die dortige Naziszene als Gegengewicht zum linken Mainstream in Deutschland auf. Ein guter Mann, wie gesagt. Nachdem dann in Thüringen die Richtung geändert wurde, das Wohnmobil in Eisenach-Stregda brannte und die beiden Idioten gefunden wurden, brach der Verfassungsschutz in Thüringen zusammen. [1] Nopper musste gehen. Fuhrmann erinnert sich, wie er Nopper in seiner Kanzlei in Weimar besuchte, wo er sich nach seinem Rauswurf als Anwalt niedergelassen hatte. Die große Stars-and-Stripes-Flagge hinter seinem Schreibtisch. Die Amerikaner haben ihn in dieser Zeit wahrscheinlich über Wasser gehalten. Er müsste mal in Noppers Dossier nachlesen.
Fuhrmann wittert aber noch etwas anderes. Er wittert Verrat, eine Verschwörung. Er weiß, dass einige Leute im erweiterten Direktorium, scherzhaft Zentralkomitee genannt, sich Gedanken über seine Nachfolge machen. Okay, er ist nicht gerade der Jüngste. 72 ist nicht jung. Das kann man nicht wegdiskutieren. Aber er ist fit. Er ist geistig voll auf der Höhe. Er hält die Zügel fest in der Hand. Die Idee gefällt ihm nicht. Nopper als sein Nachfolger. Zu risikoreich. Es ist zu früh, einen Nachfolger aufzubauen. Irgendwann wird das notwendig sein. Wenn es so weit ist, wird er der Letzte sein, der sich dagegen sträubt. Aber gerade jetzt – in dieser komplizierten Lage, in der Deutschland sich befindet – wäre ein Wechsel grundfalsch. Die Mitglieder des »Politbüros« (wie sie das Direktorium nennen) stehen zu ihm. Kein Wunder, er hat sie alle persönlich ausgesucht. Aber im Zentralkomitee regt sich etwas Neues, Unkontrollierbares. Er wird wachsam sein. Er hat viele Stürme überstanden. Er hat viele kommen und gehen gesehen.
Er sah Meesen wachsen, groß und wieder kleiner werden.
Fuhrmann ist immer geblieben.
Er braucht eine neue, eine größere Operation, um allen klarzumachen, warum er wichtig ist. Er will diesen Zwergen, diesen Zauderern noch einmal zeigen: Es ist kein Zufall, dass er an der Spitze der Organisation steht. Es muss eine Operation sein, gegen die Noppers Thüringer Aktivitäten wie Kinderkram aussehen. Jeder muss sofort begreifen: Zwischen ihm und Nopper liegen Welten.
Eine neue große Operation! Das ist es.
Karl Fuhrmann trinkt einen Schluck Früchtetee.
Dann studiert er den Bericht über die Berliner Mieterbewegung