Berlin-Wannsee, Organisation Fuhrmann,
Harry Nopper
Als Nopper in die Villa Kunterbunt einzieht und das Büro direkt neben ihm in Beschlag nimmt, weiß Fuhrmann, dass es Zeit ist, in den Krieg zu ziehen. Er muss Nopper stoppen, und er wird ihn stoppen.
Eine lebenslange Karriere im Innenministerium hat Fuhrmann perfekt in jeder Art von Intrigen geschult. Er weiß genau, wann er freundlich sein muss, er weiß, wann es besser ist zu schweigen,
wann man besser redet, in welcher Dosis die Wahrheit verabreicht werden kann, und natürlich und vor allem ist er ein Meister der Lüge.
Sein Plan ist einfach, aber klar: Er wird Nopper eine Aufgabe übertragen und ihn daran scheitern lassen.
Dann ist Nopper erledigt und man wird sehen, was man mit ihm machen wird. Im Direktorium kann Nopper auf keinen Fall bleiben.
Nopper verursacht Fuhrmann körperliches Unwohlsein, wenn er ihn in der Zentrale nur sieht.
Außerdem trinkt er keinen Tee. An seinem ersten Arbeitstag baut Nopper eine hypermoderne Kaffeemaschine in der Teeküche auf. Verdammt noch mal, der Raum heißt Teeküche und nicht Scheiß-Nespresso-Kaffeeküche. Fuhrmann ist klar, dass er sich über alles aufregt und dass das nicht das Beste für seinen Kreislauf ist. In gewisser Weise ist es sogar unfair. Aber geht es hier um Fairness? Dieser Mann will seinen Job! Fuhrmann hebt den Kopf und strafft die Brust: niemals. Niemals wird dieser Mann sein Nachfolger werden.
Deshalb ist er bei der ersten Besprechung sehr freundlich, überaus freundlich sogar.
»Übernehmen Sie als erstes Projekt diese Berliner Mieterbewegung«, sagt er und schiebt Nopper einen Ordner mit den wichtigsten Unterlagen über den Tisch. »Erteilen Sie diesen Linksradikalen eine Lehre, von der sie sich nicht mehr erholen. Lassen Sie uns Ihren Plan diskutieren, wenn Sie die ersten Ideen dazu haben. Vielleicht in einer Woche?«
Nopper streckt den Arm aus, tippt mit dem Finger auf die Akte, doch er rührt sie nicht an.
»Ja«, fragt Fuhrmann verärgert, »was ist?«
»Ich kenne die Fakten.«
»Sie sollten die Akte trotzdem gründlich studieren.«
»Wir haben ein größeres Thema.«
»So?«
»Sie wissen es, und ich weiß es. Sie wissen, dass ich weiß, und ich weiß, dass Sie wissen. Wir beide kennen die Einschätzungen des Bundesnachrichtendienstes. Dieses Coronavirus aus China wird in Europa, also auch in Deutschland, zur Anwendung des Infektionsschutzgesetzes führen. Das heißt, unsere Feinde werden weder Schulstreiks noch Mieterdemonstrationen durchführen. Wir sollten überlegen, wie wir die kommende Situation für uns nutzen.«
»Sie haben vollkommen recht, Herr Nopper. Ich arbeite bereits an einem Plan.« Fuhrmann sieht, wie Nopper tief durchatmet. Er steht kurz vor einer Explosion und hält sich mühsam zurück. Fuhrmann amüsiert sich darüber. Es ist eine gute Situation. Er macht Nopper gerade klar, wer der Chef ist. Noch heißt das hier Organisation Fuhrmann und nicht Organisation Nopper.
Nopper trommelt mit dem Zeigefinger auf der Akte herum. »Darf ich nach Ihrem Plan fragen?«
»Gern, Herr Nopper, ich mache gerade unseren maximalen Einfluss geltend, um die Einschränkungen des Versammlungs- und Demonstrationsrechtes auch nach Aufhebung der kommenden Krise zu verstetigen.«
»Bei allem Respekt, Herr Fuhrmann: Ich weiß, Sie verfügen über eine große, uneinholbare Erfahrung. Doch ich würde anders vorgehen.«
»So? Dann lassen Sie mal hören.« Fuhrmann sieht demonstrativ auf seine Uhr.
»Ich würde mich nicht darauf konzentrieren, Strippen im Innenministerium und im Kanzleramt zu ziehen. Wir erreichen auf diesem Weg doch nur etwas, was uns jedes Verwaltungsgericht wieder zunichtemacht. Wenn es Einschränkungen der sogenannten Grundrechte geben wird, und das Infektionsschutzgesetz sieht dies vor, sollten wir von uns aus dagegen mobilisieren, bevor es die Linken, Grüne und Kommunisten tun, und so unserer Bewegung neue
Kräfte zuführen.«
»Welche Kräfte meinen Sie?«
Nopper zieht endlich die Hand von der Akte und beugt sich vor. »Verunsicherte. Vor allem denke ich an Esoteriker, an anthroposophische Sekten und Impfgegner, die sich jetzt noch eher im an- deren Lager tummeln. Wir haben eine historische Chance, diese Kräfte an die nationale Sache heranzuführen. Dahin, wo sie hingehören und wo sie, historisch gesehen, wie schon immer ihren Platz hatten. Wir holen sie zurück.«
Fuhrmann sieht Nopper an. Impfgegner? Von was redet der Nopper? Doch er lässt sich seine Überraschung nicht anmerken. Er steht auf.
»Nopper«, sagt er. »Wir brauchen nicht um den heißen Brei herumzureden. Sie wissen, dass ich weiß, und ich weiß, dass Sie wissen: Ich wollte Sie hier nicht haben. Aber jetzt sind Sie nun mal da. Ich erwarte, dass Sie einfach die Aufgaben erledigen, die ich Ihnen übertrage. Diese Aufgabe steht in der Akte, die vor Ihnen liegt. Beenden Sie diese Mietergeschichte in Berlin. Den Rest überlassen Sie mir.«
Nopper bleibt sitzen und sieht Fuhrmann nachdenklich an. »Wenn wir gerade dabei sind und Bekenntnisse ablegen, dann will ich das auch tun. Sie haben Verdienste, Fuhrmann. Sie sind eine Legende. Alle bewundern Sie. Sie haben die bewundernswerte Fähigkeit, mit ein, zwei Operationen die öffentliche Meinung komplett in die richtige Richtung zu drehen.«
Nopper lehnt sich in seinem Sessel zurück, kratzt sich an der Stirn und sagt: »Aber jetzt geht es um etwas anderes. Wir können und wir müssen eine Massenbewegung ins Leben rufen. Eine Massenbewegung, die zum ersten Mal nicht links, sondern offen, sehr weit offen für die rechten Kräfte ist. Für uns. Wir holen uns die Esoteriker zurück. Die Sonnenanbeter und Naturfreaks, die Heilpraktiker, die Impfgegner. Dieses ganze Zeug schnappen wir uns. Führen sie der nationalen Bewegung zu. Darum geht es jetzt.«
Fuhrmann: »Ich sage Ihnen, Nopper, worum es geht. Es geht darum, dass Sie tun, was Ihnen befohlen wird. Machen Sie die Arbeit, die ich Ihnen befehle.«
Dann dreht er sich um und verlässt den Konferenzraum.
Als er sich auf seinen Schreibtischstuhl setzt, rast sein Puls. Fuhrmann öffnet die unterste Schublade und zieht das Gerät heraus. Er krempelt seinen Ärmel auf und legt die Manschette an. Dann misst er seinen Blutdruck: 160:100. Der Nopper treibt seine Werte in die Höhe.
Nicht mehr lange, denkt er. Nicht mehr lange.
Dieser Gedanke beruhigt ihn.
Fuhrmann lehnt sich in seinem Sessel zurück. Er kann regelrecht spüren, wie sich sein Blutdruck normalisiert.