Berlin-Kreuzberg, vor den Plattenbauten
Unbeholfen betritt Dengler die Bühne.
»Komm her, komm her!«, ruft Kröger und winkt ihn zu sich heran. »Die Leute wollen dich sehen.«
»Das war nicht abgemacht«, zischt Dengler ihm zu.
Kröger nickt. »Meine Damen und Herren, liebe Freunde, das ist Georg Dengler, ein grandioser Ermittler. Helfen Sie ihm. Er wird herausfinden, wer das Verbrechen an der kleinen … äh …«
»Lena«, sagt Dengler.
»… an der kleinen Lena begangen hat. Er ist auch der Beweis, dass einige Presseorgane sich täuschen, wenn sie diese Schandtat der Kröger Immobilien AG anhängen wollen. Wir sind alle Kröger.«
Er schiebt das Mikrofon zu Dengler hinüber. »Jetzt sag du was.«
Dengler zögert. Dann sagt er: »Ich suche den oder die Verantwortlichen, die die Ratten in diesem Haus ausgesetzt haben.«
Sein Blick sucht Silke, die im Publikum steht und ihn immer noch entgeistert ansieht.
»Ich werde den oder die Verantwortlichen finden.« Er sieht Kröger an. »Ohne Ansehen der Person, wie man so sagt. Wer das zu verantworten hat, wird zur Rechenschaft gezogen. Dafür setze ich mich ein. Ich verspreche es Ihnen.«
Beifall.
Dengler sieht Charlotte Kröger, die ihm erleichtert applaudiert. Sie scheint froh zu sein, dass ihr Vater die Situation gemeistert hat.
»Das war’s, meine Damen und Herren«, ruft Kröger und winkt fröhlich in die Menge. »Ihnen allen einen guten Tag.«
Er schiebt Dengler zur Treppe.
»Warum hast du uns allen gekündigt?«, ruft jemand.
»Genau! Warum hast du uns allen gekündigt?«, ein anderer.
Kröger geht mit einigen schnellen Schritten zur Treppe, schiebt Dengler zur Seite.
»Warum, warum«, schreien jetzt mehrere.
Kröger zögert.
»Gib uns eine Antwort«, schreit ein Mann mit einer Stimme, die einen Bären in die Flucht geschlagen hätte.
»Warum! Warum! Warum!« Mittlerweile skandieren fast alle dieses Wort.
Kröger steigt die erste Treppenstufe hinab. Seine Tochter kommt ihm entgegen und reicht ihm die Hand. Er schüttelt sie unwirsch ab.
»Warum? Warum? Warum?« Der Sprechchor ist weit zu hören.
Kröger dreht sich um, steigt wieder aufs Podium und stellt sich ans Mikrofon.
Er hebt die Hände.
Der Chor ebbt ab.
»Ich habe etwas vergessen, liebe Leute.« Er greift in die Innentasche seines Jacketts, zieht einen weißen Umschlag hervor und schwenkt ihn über dem Kopf.
»Hier sind 5.000 Euro drin. Dieses Geld ist für die kleine Lena. Sie soll die beste Behandlung bekommen. Wo ist die Mutter? Ist die Mutter da? Ihr seht, wir sind alle Kröger.«
Silke tritt vor, Lena immer noch auf der Hüfte.
Sie schreit ihn an: »Ich will dein Scheißgeld nicht. Ich will wissen, warum wir alle rausmüssen?«
»Warum? Warum? Warum?«
Kröger hebt die Hände. »Ihr müsst nicht raus. Es ist nur eine Änderungskündigung. Wir passen die Miete an die Marktentwicklung an. Mehr passiert hier doch nicht. Außerdem modernisieren wir die Wohnungen.«
»Ich kann nicht 90 Euro mehr bezahlen«, schreit Silke. »Ich habe keine 90 Euro extra im Monat.«
»Dann geht es Ihnen so wie mir«, sagt Kröger. »Ich muss den Kaufpreis refinanzieren. Ich brauche Ihre 90 Euro, sonst geht es Kröger schlecht. Dann geht es uns allen schlecht.«
»Dann musst du das nächste Mal mit dem Fahrrad herkommen«, brüllt jemand dazwischen.
Die Leute lachen. Kröger ist irritiert.
»Du bist böse«, schreit eine junge Frau.
Kröger schaut sich verwirrt um.
»Ich bin nicht böse. Ich will bloß Geld verdienen.«
Er erntet schallendes Gelächter.
»Wenn ich die Mieten nicht anpasse, werde ich …«
»Aufhören!«, brüllt jemand.
»Ich denke nicht daran. Ich höre nicht auf. Ich erkläre Ihnen hier Zusammenhänge, von denen Sie offensichtlich keine Ahnung haben.«
Dengler sieht, wie Charlotte Kröger die Hände vors Gesicht hält.
»Aufhören! Aufhören!«
»Ich höre nicht auf.«
»Aufhören! Aufhören! Aufhören!«
Kröger wird rot wie ein Hahnenkamm. Mit der rechten Hand packt er den Mikrofonständer, als wäre er Freddie Mercury.
»Ich höre nicht auf. Wie blöd seid ihr denn? Glaubt ihr denn, ihr würdet mit eurem Geschrei irgendetwas ausrichten? Ihr zahlt oder verschwindet. So einfach ist das.«
»Aufhören! Aufhören! Aufhören!«
Eine Windel fliegt auf die Bühne und bleibt vor Krögers polierten Schuhen liegen.
Charlotte Kröger hastet auf die Bühne und zieht ihren Vater am Ärmel.
»Lass mich los«, herrscht er sie an. Und zu den Bewohnern: »Was wollt ihr? Ökonomie! Noch nie gehört, oder was?«
Ein Teddybär fliegt im hohen Bogen zur Bühne und trifft ihn an der Schulter.
Vater und Tochter rennen geduckt zur Treppe.
Matthias springt auf die Bühne und reißt das Transparent ab.
»Wir sind nicht mehr Kröger«, schreit er.
Die Bodyguards schaffen den Firmenchef zu den Limousinen.
Dengler sieht, wie Patrick Böhmer mit schnellen Schritten zu Hatice geht und das Volksbegehren zur »Enteignung von Deutsche Eigentum, Kröger und Co.« unterschreibt. Andere treten hinzu, und bald bildet sich eine kleine Schlange vor ihr.
*
Silke steht plötzlich vor ihnen. »Du arbeitest echt für dieses Arschloch?«
Dengler sagt: »Du hast doch gehört, was ich gesagt habe: Ich ermittle ohne Ansehen der Person. Wenn es der Kröger war, liefere ich ihn bei der Polizei ab.«
»Hö, hö«, sagt Matthias. »Hast du nicht gehört, was dein Chef gerade gesagt hat? Wir sind alle Kröger. Gesetz der Ökonomie! Nie gehört, was?«
»Hör mal, Matthias. Ich mache das aus ermittlungstakti…«
Silke sagt: »Olga, du bist meine Freundin und du wirst es immer sein. Aber bring diesen Typen da …«, sie deutet mit dem Zeigefinger auf Dengler, ohne ihn dabei anzusehen, »nie wieder in meine Wohnung. Jedenfalls nicht, solange ich mir sie noch leisten kann.«
Sie dreht sich um und verschwindet, Matthias läuft hinterher, das Baby hebt die verbundene Hand in die Höhe, als wolle es ihnen zum Abschied zuwinken.