Berlin-Lichtenberg, Siegfriedstraße
»Die Strecke kenn ich schon«, sagt der Fahrer.
»Und ich den Preis«, seufzt Dengler.
»Ihre Olle fährt wieder zurück in die Siegfriedstraße.«
»So sieht es aus.«
Die schöne Russin hat eine Fernbedienung für das Tor zur Einfahrt. Die Gitter schieben sich beiseite, der Porsche fährt in den Hof und parkt vor der Mauer zum Nachbargrundstück. Der Taxifahrer lässt den Wagen einige Meter weiter rollen und hält dann am Seitenstreifen.
»67,50 Euro sind es diesmal.«
Dengler zahlt. »Hier, und da haben Sie Ihre Kappe zurück.«
»Alles Gute, Kumpel. Ein guter Rat zum Schluss: Wenn nicht die, dann eine andere. Obwohl – deine Flamme sieht schon ziemlich gut aus. Normal hätte ein Typ wie du bei so einer keine Chancen. Guck nach einer anderen. Dann überspringst du die Wutphase.«
»Danke für die Ermutigung«, sagt Dengler, wirft die Tür zu und sieht dem abfahrenden Taxi nach.
Er geht auf die gegenüberliegende Straßenseite und späht auf das Grundstück. Die schöne Russin biegt gerade um die Ecke des flachen Gebäudes, als ein vorüberfahrender Lkw ihm die Sicht versperrt. Irgendwo bellen zwei Hunde.
Da schlendert die Russin wieder um die Ecke, geht zu der Eingangstür an der Längsseite des Gebäudes und verschwindet.
Er stellt sich hinter einen Baum und wartet.
In seiner ersten Zeit beim BKA
hat er die Observationsjobs
gehasst. Das stundenlange Rumsitzen im Auto, die Rückenschmerzen, Pinkeln in leere Colaflaschen, der Kampf gegen den Schlaf, die verspätete Ablösung, das elende Berichteschreiben, darüber, dass stundenlang nichts passiert war.
Nun, Berichte wird er nicht schreiben müssen, aber ansonsten ist es genauso langweilig wie damals. Als er pinkeln muss, schleicht er sich hinter einen Busch in der Einfahrt eines Grundstücks in der Seitenstraße.
Als er zurückkommt, sieht es aus wie zuvor. Er gähnt. Er schaut auf die Uhr. Dann kommt die verdammte Sinnfrage. Sie stellt sich bei jeder Observation irgendwann ein. Warum mache ich den Scheiß? Merkt es jemand, wenn ich einfach abhaue?
Er gibt dem inneren Verlangen nach. Scheiß drauf, ich gehe zur U-Bahn, sagt er sich.
In zwei Stunden wird er Olga und Jakob treffen. Time to go. Außerdem muss er schon wieder pinkeln.
Ciao, schöne Russin.
Da hört er das tieffrequente Gurgeln eines Ferrari.
Schwarz.
Mit einer eigentümlich kantigen Bewegung biegt der Sportwagen von der Straße ab und hält vor dem Tor der Kusnezowa Serviceagentur. Das Tor schwingt auf. Der Ferrari fährt hinein und parkt neben dem Porsche unweit der Mauer. Dengler zieht sein Handy aus der Gesäßtasche. Ein ziemlich feister Typ in schwarzen Jeans und Lederjacke zwängt sich aus dem Auto. Dengler fotografiert ihn. Mit zwei Fingern zoomt er näher heran. Schwarze, kurze Haare, lange Koteletten, der Typ ist eine Kombination von Bierbauch und Anabolika. Mit einem Klacken schließen sich die Türen des Wagens, und der Typ geht zum Eingang.
Dengler überquert die Straße und rüttelt vorsichtig an dem Tor. Es ist verschlossen. Mit einem Sprung erreicht er die obere Querstange und hält sich fest, mit dem rechten Fuß stellt er sich auf den kleinen Vorsprung, den das Schloss bietet. Dann zieht er sich hoch,
schwingt sich über das Tor und springt auf der anderen Seite herunter. Er bleibt einen kurzen Augenblick stehen und wartet. Dann geht er auf den schwarzen Wagen zu. Nach wenigen Schritten sieht er, dass der Lack über dem linken Vorderrad Blasen gebildet hat und teilweise abgebröckelt ist.
Bingo!
Er geht in die Hocke und fotografiert das Nummernschild.
In diesem Moment hört er das Hecheln. Nicht laut. Eher dezent, aber sehr gefährlich.
Die Pfoten der beiden heranstürmenden Dobermänner machen kein Geräusch auf dem Boden, gerade so, als hätte jemand bei einem Fernseher den Ton abgedreht. Schlimmer noch: Sie bellen nicht. Sie rennen nur mit offenen Mäulern, aus denen die Zungen hin und her pendeln und den Blick auf ihre Zähne freigeben. Dengler springt auf und schätzt die Entfernung zum Tor. Er wird es nicht schaffen, vor den Hunden dort zu sein. Checkt die Entfernung zur Eingangstür. Ist wahrscheinlich abgeschlossen. Es gibt nur eine Möglichkeit.
Mit drei schnellen Schritten ist Dengler um den Wagen herum und springt auf die Kühlerhaube des Ferrari. Da sind die Köter schon da. Der erste bremst, sieht ihn an und springt. Dengler macht einen Schritt rückwärts und klettert auf das Dach des Sportwagens. Der Dobermann schlittert auf der Motorhaube. Er versucht Halt zu finden. Seine Klauen reißen deutliche Kratzer in den Lack. Der zweite Köter läuft um das Auto herum. Beide fixieren ihn mit blutunterlaufenen Augen. Der Hund auf der Motorhaube sieht ihn mit geöffnetem Maul an und rutscht vorwärts bis zur Windschutzscheibe. Richtet sich auf. Knurrt. Die Muskeln spannen sich zum Sprung. Der zweite Hund springt von der linken Seite aus. Seine Pfoten berühren das Dach, die Krallen finden keinen Halt. Er fällt auf den Boden, springt sofort wieder auf, nimmt erneut Anlauf und springt. Diesmal deutlich höher. Die beiden Vorderläufe erreichen das Dach. Er schnappt nach Denglers Bein. Die Hinterläufe
bewegen sich strampelnd auf dem linken Fenster. Er will sich abstoßen, um ganz auf das Dach zu kommen.
Was tun?
Dengler bückt sich, holt aus und schlägt dem Hund ansatzlos und fest auf die Nase. Der Kopf fliegt hoch, das Vieh verliert die Balance und fällt zurück auf den Boden. Der Dobermann winselt und schüttelt wie verrückt den Schädel. Dann fixiert er Dengler und nimmt erneut Anlauf.
Der andere Hund arbeitet sich vor. Auch seine Vorderpfoten liegen auf dem Dach. Die Hinterbeine finden keinen Halt auf dem glatten Blech der Motorhaube. Dengler tritt ihm auf die linke Pfote.
Das war ein Fehler.
Das Maul schwenkt blitzartig herum und beißt zu. Er fühlt, wie ein Zahn seinen Unterschenkel aufreißt. Das Vieh hat sich in sein Hosenbein verbissen. Eine gewaltige Kraft zieht an ihm. Dengler rudert mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Er spürt, dass er gleich stürzen wird. Dengler bückt sich, stützt sich mit der linken Hand auf dem Blech des Autodaches ab, und sticht mit dem rechten Zeigefinger schnell und fest in das Weiße eines der weit aufgerissenen Augen des Hundes. Der lässt nicht los. Dengler verliert das Gleichgewicht und stürzt. Der zweite Hund springt. Schnappt nach ihm. Dengler schlägt mit der Faust auf ein Auge des Hundes.
Da lässt er los. Knurrend rutscht der Dobermann zurück auf die Motorhaube. Stellt sich auf alle viere. Schüttelt sich. Knurrt. Fixiert ihn. Dengler steht wieder auf. Der zweite Hund springt. Es sind drei Schritte Platz auf dem Dach des Ferrari. Nur drei Schritte Anlauf. Dengler springt.
Mit beiden Händen krallt er sich an dem gegenüberliegenden Mauerrand fest. Will sich hochziehen.
Da spürt er einen stechenden Schmerz in der Wade. Und ein Gewicht, groß genug, ihn von der Mauer herunterzuziehen. Mit dem anderen Fuß tritt er dorthin, wo er den Kopf des Hundes vermutet.
Das Gewicht verschwindet. Dengler zieht sich auf die Mauer und fällt auf der anderen Seite herunter. Jetzt bellen die beiden Köter.
Er hört, wie eine Tür aufgeht und ein Mann schreit. »Scheiße! Das Auto! Guck dir mal an, was die Scheißköter mit meinem Auto gemacht haben.«
Die dunkle Stimme der schönen Russin unterbricht ihn. Sie sagt etwas, was Dengler nicht versteht – außer einem Wort: »Haftpflichtversicherung.«
Dengler liegt auf dem Boden, hält sich die stechende Wade und rührt sich nicht.
Dengler steht auf und lehnt sich gegen die Mauer. Vorsichtig zieht er das Hosenbein hoch. Die Zähne des Dobermannes haben tiefe Bisswunden hinterlassen. Ein handtellergroßes Fleischstück ist aufgerissen. Die Wunde blutet stark. Dengler zieht das Hosenbein wieder herunter und setzt vorsichtig den Fuß auf den Boden, belastet ihn. Das Bein knickt ein. Der Schmerz ist überwältigend. Er braucht einen Arzt, sofort, zumindest eine Apotheke.
Auf der anderen Seite der Mauer schreit die Russin die Hunde an. Sie bellen noch immer. Doch dann beruhigen sie sich. Offenbar werden sie in einen weiter entfernten Zwinger gebracht. Eine Tür klappert. Dann ist es still.
Denglers Bein zittert unkontrolliert. Mit beiden Händen muss er den Unterschenkel festhalten, um das Beben seiner Muskeln zu stoppen. Er lehnt sich gegen die Wand und versucht, seine Atmung zu kontrollieren. Was für einen Scheiß macht er hier eigentlich? Silke will ihn in der Wohnung nicht sehen. Arthur spuckt ihm vor die Füße. Diese ganze Mieterkacke kann ihn mal. Kreuzweise. Soll er sich für Leute, die ihn für einen Verräter halten, von zwei Dobermännern zerreißen lassen?
Er zieht das Handy aus der Hosentasche und ruft Olga an. Leise erzählt er ihr, was passiert ist.
Eine halbe Stunde später ist sie da. Es ist schon dunkel, als sie mit Silkes kleinem Renault auf dem Seitenstreifen parkt. Zu Denglers
Ärger steigt auch Silke aus dem Wagen. Sie hat einen kleinen Erste-Hilfe-Koffer dabei. Zunächst will er nicht, dass sie ihn verarztet, doch als er Olgas mahnenden Blick sieht, krempelt er das rechte Hosenbein hoch.
»Nette Fleischwunde. Muss sofort desinfiziert werden«, sagt Silke und klappt den roten Koffer auf.
Sie behandelt die Bissstelle und verbindet die Wunde.
»Und da drin sitzt der Typ, der die Ratten ausgesetzt hat?«, fragt sie.
Dengler nickt. »Nicht hundertprozentig, aber ziemlich wahrscheinlich.«
Er sieht, wie sie blass wird. Ihre Augen werden schmal. Sie zittert.
»Ich geh da rein. Ich mach ihn fertig.«
Sie zieht ein Skalpell aus dem Koffer.
»Stopp, stopp, mach keinen Scheiß. Das ist nur der Handlanger. Die entscheidende Frage ist: Wer hat den Auftrag gegeben? Das
müssen wir noch rausfinden.«
Silkes Schultern heben und senken sich. Ihre Lippen flattern.
»Es tut mir leid«, sagt sie leise.
»Was tut dir leid? Dass du den Kerl nicht mit deinem Skalpell aufschlitzen kannst?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Es tut mir leid, dass ich so scheiße zu dir war.«
Dengler brummelt etwas Unverständliches.
»Ich dachte wirklich, du arbeitest …«
»… für die andere Seite?«
Silke nickt heftig.
»Ich versuche nur rauszubekommen, wer diese Scheißratten …«
»Ich weiß. Es tut mir leid. Aber mein ganzes Leben dreht sich plötzlich wie verrückt im Kreis. Mein Baby wird verstümmelt. Ich verliere ziemlich sicher meine Wohnung und weiß nicht wohin. Ich seh einfach kein Land mehr.«
»Ist schon okay.«
»Wirklich?«
Dengler legt einen Arm um sie. »Ja. Aber bitte, lass uns hier verschwinden.«