Berlin-Charlottenburg,
Savignyplatz, Restaurant Ashoka
Am Abend sitzt er mit Olga und Jakob am Savignyplatz im Ashoka , einer Mischung zwischen indischem Restaurant und Straßenküche.
Dengler bestellt ein Linsengericht mit Reis, Olga ein Gemüsecurry. Jakob irgendetwas Veganes: Reis mit einer braunen Masse. Die Speisen werden auf Blechtabletts serviert. Olga sticht mit der Gabel in ein Curry mit interessanten Farben.
»Schau nicht so kritisch«, sagt Olga. »Es schmeckt wunderbar. Wie war deine Reise, Jakob?«
»Super.«
»Du musst nicht so in die Details gehen«, sagt Dengler. »Ich würde sie nie verstehen.«
Jakob lacht. »Doch, du würdest es schon verstehen, aber ich glaube nicht, dass es dir gefallen würde.«
»Versuch es doch einfach. Es geht vermutlich mal wieder um den Kapitalismus und wie schrecklich er ist.«
»Nein, es war etwas grundsätzlicher. Wir haben uns mit der Geschichte der Menschheit befasst.«
»Oh«, sagt Olga. »Und wie sind die Aussichten? So schlecht, wie ich vermute?«
»Schlimmer.«
»Der Kapitalismus richtet uns zugrunde«, sagt Dengler, rollt mit den Augen und trinkt einen Schluck Kingfisher-Bier.
»Über manche Dinge kann man mit ihm nicht reden«, sagt Jakob zu Olga. »Aber sonst ist er ganz okay.«
»Halt, halt«, sagt Dengler. »Mit mir kann man über alles reden. Nur die Plattitüden, wie schrecklich der Kapitalismus ist, die kenn ich halt schon.«
»Lieber Vater, du hast doch keine Ahnung, worum es bei dem Seminar ging, und trotzdem bist du dagegen, schon schnappt dein Vorurteil zu.«
»Erzähl es mir«, sagt Olga. »Georg hört dann eben nicht zu.«
»Es war ein Seminar über Wirtschaftsgeschichte«, sagt Jakob. »Von den Anfängen des Homo sapiens bis heute.«
»Es ist doch so«, sagt Dengler, »wenn ich ein reicher Arsch wäre mit einer Fabrik und dickem Konto, dann würdest du nicht so schlecht über den Kapitalismus reden. Du würdest ihn loben und preisen. Aber da ich nur ein Ex-Bulle bin, findest du es ungerecht, wenn andere Leute mehr Geld haben als du. Das hat mit einem Vorurteil nichts zu tun.«
»Papa, mal ganz im Ernst: Wenn ich den Kapitalismus ablehnen würde, weil mein Vater nur ein Ex-Bulle ist, was übrigens nicht der Grund ist, wären deshalb meine Argumente falsch? Nein. Meine Argumente sind richtig oder falsch, völlig unabhängig von deinem Beruf und dem Stand deines Bankkontos.«
Dengler sieht seinen Sohn an. »Du weißt wirklich auf alles eine Antwort. Dazu muss man wahrscheinlich solche Seminare in … wo warst du noch mal?«
»In Boston. Im schönen Massachusetts.«
»Mein Gott, dazu muss man nach Boston fliegen. Wo bleibt denn die Flugscham, bitte?«
»Die Uni hat als CO 2 -Ausgleich für diese Reise …«
»Geschenkt«, sagt Dengler.
»Herrje«, stöhnt Jakob. »Mit meinem Vater kann man nicht reden. Zumindest ich nicht. Er hört nicht zu und weiß alles besser.«
»Ich höre genau zu. Das ist Teil meines Berufs. Und ich sehe: Unsere Flaschen sind bald leer. Willst du noch ein Bier?«
Jakob nickt. Dengler steht auf und geht an die Theke. Als er mit drei Kingfisher zurückkommt, ist Jakob bereits in ein intensives Gespräch mit Olga vertieft.
»Das ist wirklich interessant«, sagt Olga beeindruckt.
»Der Kapitalismus?«, fragt Dengler.
»Jetzt weißt du, warum ich über ernste Fragen nicht mehr mit ihm rede«, sagt Jakob zu Olga.
»Dein Vater hat sich heute einen heldenhaften Fight mit zwei Kampfhunden geliefert. Er wurde gebissen und ist vielleicht deshalb gerade etwas schlechter Laune.«
»Echt jetzt?«
Dengler berichtet seinem Sohn von den Ratten, von Kröger und den beiden Dobermännern.
Jakob hebt die Bierflasche und stößt mit seinem Vater an.
»Respekt! Ehrlich.«
»Entschuldigung angenommen.«
»Hey, ich habe mich nicht entschuldigt. Wofür auch?«
Sie lachen und trinken.
Denglers Laune steigt. »Und jetzt erzähl mir vom Kapitalismus.«
Jakob wendet sich an Olga. »Er fängt schon wieder an«, sagt er seufzend.
»Nutz die Gelegenheit«, sagt Olga. »Erzähle, bevor die Erinnerung an die Kampfhunde ihn wieder in eine Depression stürzt.«
»Okay«, sagt Jakob und greift nach einer Serviette. »Ich mal es auf. Es ist so …«
Jakob nimmt eine Serviette und malt darauf einen langen Strich.
»Stell dir vor«, sagt er. »Die Geschichte der Menschheit beginnt vor zwei Millionen Jahren in Ostafrika. Es entwickelten sich mehrere aufrecht gehende Menschenarten.«
»Menschenarten?«, fragt Dengler stirnrunzelnd.
Jakob nickt. Er markiert eine Stelle auf der Serviette.
»Was meinst du mit ›Menschenarten‹?«, fragt Dengler.
»Na ja, so wie es verschiedene Affenarten gibt, gab es bis vor 100000 Jahren auch verschiedene Menschenarten. Unsere Art ist der Homo sapiens. Es gab aber auch andere. Eine, die du bestimmt kennst, ist der Neandertaler. Aber es gab noch weitere. Diese Menschenarten gehören zur Gruppe der Primaten. Wir sind nichts weiter als eine spezielle Art von Säugetieren.«
Dengler öffnet den Mund, um zu widersprechen, aber Olga legt ihm die Hand auf den Arm. Also schweigt er.
»Unsere Art, den Homo sapiens, gibt es seit 200000 Jahren. Ungefähr.«
Er markiert einen weiteren Punkt auf der Serviette.
»Unsere Vorfahren waren Jäger und Sammler. Viele Jahrtausende lang. Bis sie den großen Fehler machten und sesshaft wurden.«
»Nun«, sagt Dengler, »ich glaube, ich bin ihnen eher dankbar für diese Idee.«
»Sie fingen 12000 Jahre vor unserer Zeitrechnung damit an, Getreide anzubauen und Vieh zu züchten. Ich rechne die 2.020 Jahre seit Christi Geburt hinzu. Interessant ist Folgendes: Seit 200000 Jahren gibt es unsere Spezies; 14000 Jahre davon sind wir sesshaft. 200000 minus 14000 gleich 186000 Jahre waren wir Sammler und Jäger. Das sind 93 Prozent unserer Existenz als Spezies Homo sapiens.«
»Dengler, findest du das nicht interessant?«, fragt Olga.
Wenn Olga ihn »Dengler« nennt, muss er vorsichtig sein. Meist bedeutet dies, dass sie aus irgendeinem Grund unzufrieden mit ihm ist. Er muss nicht immer wissen, warum, aber aus Erfahrung weiß er, dass nun erhöhte Aufmerksamkeit verlangt ist.
»Gut, dass sich jemand auch um diese Fragen kümmert«, knurrt er. Eine perfekte Antwort, findet er. Sie drückt einerseits Skepsis aus; anderseits aber auch eine gewisse Form von Interesse. Eine gute Antwort, weil sie gleichzeitig Olgas aufkommender Unzufriedenheit mit ihm entgegenwirkt und Spurenelemente von dem Stolz zeigt, den er angesichts seines klugen Sohnes empfindet. Stolz darüber, dass Jakob so viel weiß, auch wenn es sinnloses akademisches Zeug ist, das mit dem heutigen Leben nichts zu tun hat.
»Du fragst dich sicher, was das alles für uns heute bedeutet?«
Dengler blickt überrascht auf. Er fühlt sich ertappt.
»Allerdings«, knurrt er.
»Was glaubst du? Was hat uns als Menschen mehr geformt: die 93 Prozent als Sammler und Jäger oder die 7 Prozent seit der Sesshaftigkeit?«
»Was mich persönlich betrifft, ich fühle mich in meiner Sesshaftigkeit ziemlich deutlich geformt. Ich bin nicht der Jäger- und Sammlertyp.«
»Aber du kannst dir vorstellen, dass die 93 Prozent oder 186000 Jahre uns als Menschen maßgeblich geformt haben.«
Dengler knurrt etwas, was man mit etwas gutem Willen als Zustimmung verstehen kann.
»Das Seminar beschäftigte sich mit der Frage, welche Prägungen das sind und welche davon unser heutiges Verhalten immer noch bestimmen.«
»Und?«, fragt Dengler. »Habt ihr etwas gefunden?«
»Allerdings. Unsere angeborenen Gefühle und Reaktionen haben sich über die 186000 Jahre bewährt, weil sie sich als tauglich für das Leben im Alltag kleiner Jäger- und Sammlergruppen erwiesen haben. Sie wurden genetisch verankert. Wir müssen sie nicht erlernen. Wir haben diese Gefühle und instinktiven Reaktionen seit unserer Geburt. Sie gehören zu uns. Wir sind sie.«
»Konkret?«, fragt Dengler.
»Angeboren ist uns die Liebe zwischen Eltern und Kindern.« Jakob lächelt. »Sogar, wenn der Vater Bulle war.«
»Oder der Sohn ziemlich theoretisch daherkommt.«
»Sogar dann«, bestätigt Jakob. »Dazu gehört aber auch eine natürliche Moral, die das Miteinander in einer Gruppe ermöglicht. Die Jäger- und Sammlergruppen bestanden aus maximal 100 bis 120 Menschen. Das ist ziemlich genau die Größe der Gruppe, zu der wir heute eine emotionale Beziehung aufbauen können. Familie, Freunde, Nachbarn, Kollegen. Du würdest in einen reißenden Fluss springen, um das Kind eines Freundes zu retten. Du würdest das tun, selbst wenn du in Lebensgefahr geraten würdest. Du würdest vermutlich nicht einmal eine Sekunde über das Risiko nachdenken, das du eingehst. Aber das massenhafte Leid, sagen wir mal, von Flüchtlingen auf der Insel Lesbos, berührt uns im Herzen weniger als ein aufgeschlagenes Knie des eigenen Kindes. Angeboren ist uns aber auch der Sinn für Fairness und die Empörung über Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Denn ging es in der Gruppe unserer Vorfahren ungerecht und unfair zu, konnte sie nicht überleben. Der Sinn für Gerechtigkeit und das Bedürfnis nach Gleichheit gehören zur Natur der Menschen. Wir können nicht anders. Wir sind so.«
»Ich kenne einige Personen, auf die das nicht zutrifft.«
»Damit wären wir beim Kapitalismus.«
Dengler seufzt. »Das wurde jetzt aber auch Zeit.«
Jakob setzt den letzten Punkt auf die Serviette. »Der Kapitalismus begann sich ab etwa 1750 zu entwickeln. Seit den großen Revolutionen in Europa ist er die vorherrschende Wirtschaftsform. Wenn wir großzügig rechnen, gibt es ihn seit 270 Jahren.«
»Okay. Was willst du damit sagen?«
»Der Homo sapiens, also wir, ist seit 200000 Jahren auf der Erde. 270 Jahre davon in kapitalistischen Gesellschaften. Ich habe es ausgerechnet: Das sind 0,135 Prozent unserer Lebenszeit als Gattung.«
»Ich versteh immer noch nicht, was du damit sagen willst.«
Olga sagt: »Ich schon. Jakob fragt, ob 0,1 Prozent ausreichen, um uns unser eigentliches Wesen auszutreiben, das in 186000 Jahren als Sammler und Jäger entstanden ist und uns geprägt hat. Unser Bedürfnis nach Fairness, Verbundenheit, Kooperation und Solidarität mit anderen.«
»Und Verbundenheit mit der Natur«, sagt Jakob.
»Deshalb bist du nach Berlin zum Studieren? Wegen der Verbundenheit mit der Natur?«, fragt Dengler sarkastisch.
»Bevor der Kapitalismus sich breitmachte, waren Landwirtschaft, tierische und menschliche Zug- sowie Windkraft 6.000 Jahre lang die vorherrschende Energie- und Antriebsform. Der Kapitalismus wiederum beruht auf der Verbrennung von fossilen Energieträgern. Damit hat er die Menschheit in kürzester Zeit, gemessen an der Lebensspanne unserer Spezies, an den Rand des Abgrundes gebracht. Seine beste Zeit ist um.«
Jakob lehnt sich zurück. »Noch jemand ein Kingfisher?«
Dengler und Olga nicken. Jakob steht auf und kommt mit drei Flaschen Bier zurück. Sie stoßen an.
»Zurück zum Kapitalismus«, sagt Dengler. »Deine letzten Worte waren, seine besten Zeiten seien vorbei.«
Jakob sagt: »Jede Gesellschaftsform beruht auf einer bestimmten technischen Grundlage. Der Feudalismus mit seinen Königen, Kaisern, Herzögen und dem ganzen Gottesgnadentum beruhte auf Menschen-, Tier- und Windkraft. Der Kapitalismus begann mit der Erfindung der Dampfmaschine, also mit der Verbrennung von Kohle. In einer Kohleregion.«
»England. Manchester …«, sagt Olga.
Jakob nickt. »Zur Kohle gesellte sich das Erdöl. Dessen Verbrennungsrückstände werden in Unmengen in die Luft geblasen. Am Erdöl hängt das Plastik, das die Meere versaut. Am Erdöl hängen das Auto, die Kosmetik. Alle wesentlichen Industrien verbrennen und nutzen Kohle und vor allem Öl. Die Folge ist die dramatische Erderwärmung. Die Menschheit muss sich entscheiden: Schluss mit Kohle und Öl – oder langsam verschmoren. Ihr beide werdet es noch mitbekommen, für mich wird es in euerm Alter die Hölle sein; falls ich mal Kinder haben sollte, werden sie es nicht überleben. In nur 270 Jahren hat der Kapitalismus den Globus ruiniert, weil …«
»Du demonstrierst mit diesen Fridays-for-Future -Kids?«, fragt Dengler misstrauisch.
»Klar. Du etwa nicht?«
Olga kichert.
»Ich finde, der Kapitalismus sitzt noch ziemlich fest im Sattel«, sagt Dengler und überlegt, ob er seinem Sohn von Sebastian Kröger erzählen soll.
»Das täuscht«, sagt Jakob.
Olga fragt: »Glaubst du nicht, dass der Kapitalismus in der Lage sein wird, Kohle und Öl zu ersetzen durch … Sonnenenergie, was weiß ich.«
Jakob zuckt mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Sie werden daran festhalten, solange es geht. Aber wir leben in einer Zeit, in der sich alles ändern muss, weil es mit dem Homo sapiens sonst vorbei ist. Ich finde es eigentlich ziemlich spannend, ob die Menschheit das hinkriegt. An seine Religion glaubt ohnehin kaum jemand mehr.«
»Der Kapitalismus hat eine Religion?«, fragt Dengler und runzelt die Stirn.
Jakob nickt. »Der Religionsstifter heißt Adam Smith, ein schottischer Philosoph. Er veröffentlichte 1776 das Buch ›Der Wohlstand der Nationen‹. Das ist im Grunde bis heute die Bibel des Kapitalismus. Er sagt, grob zusammengefasst: Wenn jeder Kapitalist nur egoistisch genug ist und allein seinen eigenen Vorteil sucht, fügt sich das als Ganzes zu einer perfekten Gesellschaft, die allen zugutekommt. Wenn der einzelne Kapitalist nur an seinen eigenen Profit denkt und alles dafür tut, dann investiert er den Gewinn wieder, seine Fabrik wird größer, und er wird mehr Arbeiter einstellen. Allen ist geholfen. Adam Smith beschreibt die Marktwirtschaft als eine unsichtbare Hand, die den Egoismus des Kapitalisten umwandelt in Nutzen für die gesamte Gesellschaft. Das ist die Religion des Geldes bis heute. Geht es der Wirtschaft, sprich den Reichen, gut, hilft das allen.«
»Und?«, fragt Dengler. »Ist das so falsch?«
»Frag den Ausfahrer, der dir ein Paket von Amazon bringt, und frag den Banker, der die Gewinne dieser Leute nicht investiert, sondern nach Panama oder auf die Kaimaninseln transferiert.«
Olga: »Du willst außerdem sagen, dass der Egoismus dieses Adam Smith dem natürlichen Instinkt des Menschen widerspricht, den wir in all den Jahrtausenden als Sammler und Jäger entwickelt haben. Du willst vermutlich sagen, dass die Religion des Kapitalismus unseren natürlichen Empfindungen widerspricht.«
Jakob lehnt sich zurück und sieht seinen Vater an. »Olga hat’s begriffen. Jetzt, da der Kapitalismus durch die Verbrennung fossiler Rohstoffe seinem wohlverdienten Ende entgegengeht, können wir eine Gesellschaft und eine Wirtschaft planen, die unser eigentliches Menschsein in den Mittelpunkt stellt. Was uns als Menschen ausmacht, ist, mit Menschen und für Menschen zu leben. Rücksicht, Miteinander, Behutsamkeit gegenüber der Natur, diese Dinge. Es wird etwas Neues kommen. Oder wir verschmoren. Ob das Neue gut oder schlecht wird, hängt auch von unserem Engagement ab.«
»Ich kapiere langsam, wie du denkst«, sagt Dengler. »Aber bitte, warum sind die Sesshaftwerdung, Ackerbau und Viehzucht in deinen Augen so schlimm?«
Jakob beugt sich vor. Er wirft einen unsicheren Blick zu seinem Vater, als prüfe er, ob dessen Interesse echt ist.
Dann sagt er: »Einige der Nachteile sind: Es entstehen Eigentum und Staat; die Ernährung wird schlechter, Infektionen führen zum Massensterben.«
Dengler antwortet: »Aber du willst nicht ernsthaft, dass wir wieder mit Pfeil und Bogen durch den Dschungel streifen?«
Jakob seufzt. »Natürlich nicht. Aber wenn es wahr ist, dass wir vor etwas Neuem stehen, dann kann es nicht schaden, sich darauf zu besinnen und zu überlegen, was wir Menschen eigentlich sind.«
»Sicher nicht«, gibt Dengler zu. »Du glaubst, dass die Ernährung durch Ackerbau und Viehzucht schlechter geworden ist? Das erscheint mir unlogisch.«
Jakob schüttelt den Kopf. »Wir wissen, dass unsere Vorfahren sich abwechslungsreicher ernährten, denn sie folgten einer Vielzahl natürlicher Rhythmen. Sie wussten, wann das Wild seine Wanderungen beginnt, und so jagten sie Rotwild, Gazelle, Antilope und Schwein. Sie beobachteten die jahreszeitlichen Vogelzüge, fingen Wasservögel an ihren Rast- und Nistplätzen. Sie wussten, dass Lachse stromauf und stromab wanderten. Sie kannten den Reifungszyklus von Früchten und Nüssen, die sie sammeln mussten, bevor sie verdarben oder die Tiere sie fressen konnten. Sie wussten genau, wann Wild und Fisch erscheinen, wann Schildkröten an Land kommen oder Pilze sprießen, die rasch verarbeitet werden müssen.
Es müssen kluge Leute gewesen sein. Sie kannten sich in den unterschiedlichsten Gebieten aus, sie wussten, welche Nahrungsmittel sie in Feuchtgebieten finden, welche der Wald liefert, welche in Savannen oder Trockengebieten zu finden sind. Sie kannten die natürlichen Standorte von Weizen-, Gerste- und Hafersorten. Sie wussten, wo und wann sie Nüsse und Früchte finden, wo Eicheln, Bucheckern und verschiedene Beeren wachsen und wann sie reif sind. Sie konnten fischen, zogen Schalentiere, Aale, Heringe aus dem Wasser und wussten, wann und wo und wie man sie am besten fangen kann. Sie jagten Gazellen und andere große Tiere, die ihren Proteinbedarf deckten. Sie konnten Fleisch durch Trocknen, Pökeln oder Einlegen haltbar machen. Sie beobachteten und erforschten die Natur und sammelten ein wahrhaft enzyklopädisches Wissen über ihre Umwelt, das in der mündlichen Überlieferung der Gruppe bewahrt wurde. Die Ernährung der späteren Bauern bestand im Wesentlichen aus einem einzigen dominanten Getreide, Weizen, in Asien Reis. Die sesshaften Bauern mussten viel mehr Zeit aufbringen, um die benötigten Lebensmittel herzustellen, als die umherziehenden Vorfahren. Sie mussten härter arbeiten, und ob die Ernte gelang, war niemals gewiss.«
»Eine Frage«, sagt Dengler. »Warum gaben unsere Vorfahren ihre Idylle auf?«
Jakob zuckt mit den Schultern. »Man weiß es nicht genau. Möglichweise lagen dem dramatische Klimaveränderungen zugrunde. Das Sesshaftwerden dauerte etwa 5.000 Jahre. Eine lange Zeit, wenn du dir vorstellst, dass seit dem Anfang unserer Zeitrechnung erst …«
»2.020 Jahre«, sagt Dengler.
Jakob: »Genau, gut 2.000 Jahre vergangen sind. In diesen 5.000 Jahren entstand das Haus, in dem Tiere und Menschen wohnten. Einige bestellten Felder, andere waren jahrtausendelang weiter Jäger und Sammler. Interessant ist, dass in dieser Zeit die Zahl der Menschen nicht anstieg, obwohl vermutlich mehr Lebensmittel durch die Feldarbeit zur Verfügung standen.«
Dengler: »Du weißt bestimmt, warum?«
Jakob lächelt. »Allerdings. Infektionen. Zum ersten Mal lebten Tiere und Menschen unter einem Dach. Schweine und Ziegen wurden domestiziert; aus Wölfen wurden Hunde, aus Büffeln wurden Rinder. Dann kamen die ungerufenen Hausgenossen dazu: Spatzen, Ratten, Flöhe. Da der Mensch auch nur eine besondere Gattung Säugetier ist, teilen wir eine enorme Menge an Krankheiten mit ihnen. Einzelne Krankheiten der Tiere sprangen in der neuen Enge vom Tier auf den Menschen über, der gegen diese neuen Krankheiten allerdings noch keine Antikörper gebildet hatte. Die Sesshaftigkeit hat daher riesige Epidemien unter den Menschen ausgelöst. Massensterben vermutlich. Ausrottung ganzer Dörfer und Orte. Deshalb wuchs die Menschheit in diesen fünf Jahrtausenden nicht. Vielleicht war es so, dass die sesshaften Völker zuerst immun gegen die neuen Krankheiten wurden, die umherziehenden Gruppen dagegen nicht. Sie wurden von den Viren ausgerottet. Bis auf wenige Völker, die isoliert in Afrika oder Südamerika lebten. 5.000 Jahre sind eine lange Zeit.«
»In China tobt jetzt auch gerade ein neues Virus«, sagt Olga.
»Das ist schon in Europa angekommen«, sagt Jakob.
»Einzelfälle«, sagt Dengler. »Mal nicht den Teufel an die Wand.«
»Eigentlich«, sagt Jakob, »ist es verwunderlich, dass es nicht mehr Epidemien gibt. Meist springen die Viren von den Tieren auf den Menschen: Schweinepest, Vogelgrippe. Früher, während der Sesshaftwerdung, hatten die Viren es leicht, weil sich alles unter einem Dach drängte. Heute haben wir den Lebensraum der Tiere so zusammengedrängt, dass es den Viren erneut leichtfällt, auf Menschen überzuspringen.«
»Nicht zu vergessen – die Massentierhaltung«, sagt Olga.
»Viren kann man kaum stoppen«, sagt Jakob. »Früher brauchte die Pest lang. Sie reiste auf dem Kamel, dem Maultier oder dem Segelschiff. Moderne Viren reisen mit dem Flugzeug oder dem Auto. Sie sind Stunden später in einem anderen Land oder auf einem anderen Kontinent.«
»So schlimm wie in China wird’s bei uns bestimmt nicht werden«, sagt Dengler.
»Das wird sich noch zeigen«, sagt Jakob und nippt an seinem Bier. »Jetzt mal zu euch: Was macht ihr hier in Berlin?«
»Es ist ein seltsamer Fall«, sagt Dengler. »Hat auch mit Tieren zu tun.«
Dann berichtet er.
»Zu den Miethaien kann ich dir auch eine Geschichte erzählen. Das ist sogar eine wahre Geschichte, die unserer WG zugestoßen ist«, sagt Jakob. »Aber ich warne dich. Vermutlich hat sie auch etwas mit dem Kapitalismus zu tun.«
»Das ist mir klar«, sagt Dengler.
»Als ich in den USA war, haben meine Mitbewohner entdeckt, dass unsere Wohnung auf der Website des Eigentümers zum Verkauf angeboten wird. Auf dem Grundriss, der dort abgebildet war, ist unsere Wohnung sehr gut zu erkennen – allerdings völlig anders gestaltet und aufgeteilt.«
»Wurdet ihr gekündigt?«, fragt Dengler.
»Keine Spur. Wir haben einen gültigen Mietvertrag, und der ist eigentlich unbefristet. Er ist ausgestellt auf meinen Kumpel und gilt seit fünf Jahren.«
»Das ist sicher ein Missverständnis«, sagt Dengler.
»Das ist sicher kein Missverständnis«, sagt Jakob. »Unser Haus wurde in den letzten drei Jahren fünfmal hintereinander verkauft. Vermutlich hat bei jedem Deal der Verkäufer ordentlich verdient. Mit anderen Worten: Das Haus hat eine enorme Wertsteigerung erlebt. Wir armen Studenten zahlen vermutlich zu wenig Miete, um dem jetzigen Eigentümer den Kaufpreis wieder reinzuholen. Mit anderen Worten: Sie werden uns raussetzen.«
»Und was macht ihr dagegen?«, fragt Olga.
»Gehört das Haus dem Kröger?«, fragt Dengler gleichzeitig.
Jakob schüttelt den Kopf. »Ne, zuletzt gehörte das Haus einer Bank aus Singapur. Die haben es jetzt an die Deutsche Eigentum verkauft.«
»Habt ihr mit denen gesprochen?«
Jakob grinst. »Allerdings. Danach sind wir sofort zur Mieterinitiative in unserem Kiez marschiert und haben uns Beratung geholt. Wir verlangen über einen Anwalt die Löschung dieses Eintrags auf der Website.«
Dengler richtet sich auf. »Gut. Ich finde ein solches Verhalten empörend. Es widerspricht allen guten Sitten.«
»Alle bis auf ein älteres Ehepaar haben sich in unserem Haus der Initiative für die Enteignung von Deutsche Eigentum, Kröger und Co. angeschlossen. Wir sammeln Unterschriften für ein Volksbegehren dazu. Es läuft super.«
»Enteignung«, sagt Dengler. »Ich weiß nicht … ziemlich drastisch, oder?«
Jakob legt ihm die Hand auf den Arm.
»Papa«, sagt er. »Als ich ein Kind war, warst du mein Held und Vorbild. Als du Laura, Cem, Simon und mich aus dem brennenden Putenstall gerettet hast, [2] erinnerst du dich, warst du es umso mehr. Ich wollte immer so werden wie du. Du bist der anständigste Mensch auf der ganzen Welt, den ich kenne …«
Dengler sieht auf den Tisch und spürt plötzlich, wie seine Augen feucht werden. Mit einer schnellen Bewegung fährt er sich mit dem Ärmel über die Augen.
Jakob: »Ich habe das irgendwie immer gemerkt … Du wolltest ein guter Mensch sein. Selbst in den vielen Streitereien mit Mama … Für mich waren sie schrecklich, aber ich konnte spüren, wie du darum gerungen hast, anständig zu sein. Niemandem wehzutun. Selbst als Mama dich angeschrien hat wie verrückt. Und ich hab immer gespürt, dass du mich beschützen wolltest. Ich habe das als Kind wahnsinnig bewundert. So wollte ich auch werden.«
Dengler rutscht auf dem Stuhl hin und her. Aus Verlegenheit greift er zur Bierflasche und hebt sie an den Mund, doch sie ist leer. Er kratzt sich am Hinterkopf.
Olga lächelt. »Du hast deinen Vater gut beschrieben.«
Plötzlich wird Jakob ernst. »Doch ich möchte dir heute eines sagen: Es reicht nicht mehr, ein anständiger Mensch zu sein. Wenn wir die Erderwärmung nicht stoppen, ist Schluss mit dem Homo sapiens und mit vielen anderen Lebewesen auch. Es reicht nicht mehr, persönlich anständig durchs Leben zu gehen. Heute muss sich ein guter Mensch einmischen. Die Katastrophe verhindern. Aktiv sein. Das Böse sehen. Das Böse bekämpfen. Demonstrieren. Ich weiß nicht – verstehst du, was ich meine?«
Schweigen.
Dengler sieht seinem Sohn in die Augen. »Ich habe mehr mit dem Kampf gegen das Böse zu tun, als du glaubst«, sagt Dengler und legt beide Arme um ihn.