Berlin-Wannsee, Villa Kunterbunt
Zur selben Zeit blättert Fuhrmann im Berliner Morgenspiegel . Auf der Seite drei eine Reportage über die Stadt Wuhan: Seit ein paar Tagen ist die Millionenstadt wegen des neuartigen Virus unter Quarantäne gestellt und komplett abgeriegelt.
Da muss er lächeln. Eine Operation der Amerikaner? Eine neue Stufe im Ringen der beiden Supermächte um die Weltherrschaft? Er weiß es nicht. Sicher nicht. Aber verrückt, dass er sofort an eine Geheimdienstoperation denkt. Eine déformation professionnelle? Möglich. Doch andererseits – vielleicht gar nicht so verrückt. Er braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie in Langley, dem Hauptquartier der CIA , solche Szenarien erdacht und durchgespielt werden.
Aber mehr noch als die Meldung von dem neuartigen Virus fesselt ihn der Bericht über den Bauunternehmer Kröger, den die Gruppe Fuhrmann unter Noppers Regie exekutieren wird. Dieser Mann scheint nicht die hellste Kerze auf der Torte zu sein. Hat er sich doch idiotischerweise vor eine Gruppe von Hausbesetzern gestellt und tatsächlich gedacht, er könne sie überzeugen. Fuhrmann liest den Bericht mit Kopfschütteln. Der Berliner Morgenspiegel verspottet ihn auf der zweiten Seite des Regionalteils. Sebastian Kröger ist damit endgültig zum zentralen Hassobjekt der radikalen Linken avanciert. In einem umrahmten Kasten hat der Redakteur die Linkadressen einiger Videos aufgelistet, in denen Kröger vorgeführt wird. Fuhrmann ruft einige davon auf. »Ich bin nicht böse. Ich will nur Geld verdienen« – dieser Satz ist der Kern von fünf Videos, einmal unterlegt mit klassischer Musik, einmal mit Rap, dann als Comic dargeboten. In zwei Aufnahmen werden diese beiden Sätze als Beweis für das unmenschliche kapitalistische Immobiliensystem aufgeführt.
Interessant.
Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Was wird passieren, wenn Kröger umgebracht wird? Selbst der blödeste Journalist wird annehmen, Leute aus dieser Mieterbewegung hätten ihn umgelegt. Nopper lag hier völlig richtig: Das wäre das Ende dieser Bewegung.
Fuhrmann kann sich nicht erinnern, dass es in der Bundesrepublik Deutschland jemals eine breite Volksbewegung gegeben hat, die Enteignungen verlangt hätte. Sicher: Unmittelbar nach dem Krieg forderte sogar die CDU in ihrem Ahlener Programm die Enteignung der Schlüsselindustrien. Aber damals war jedem klar gewesen, dass dies nicht sonderlich ernst gemeint war. Doch das hier ist anders. Die Berichte des Landesamts für Verfassungsschutz in Berlin haben einen alarmierten Unterton. Die Bürger stünden Schlange, um für das Volksbegehren zur Enteignung der großen Immobilienkonzerne zu unterschreiben. Die Mieterinitiativen würden die nötigen Unterschriften für ein Volksbegehren schneller einsammeln, als sie selbst angenommen hatten. Die Sache sei brandgefährlich.
Das Ganze muss beendet werden.
Die Organisation Fuhrmann hat Erfahrungen in diesen Dingen. Dazu ist sie da. Mit nur zwei Operationen war es gelungen, die Stimmung in der Bevölkerung bezüglich der Flüchtlinge komplett zu drehen. Fuhrmann hatte es zunächst auf friedlichem Weg probiert. Er hatte alle Kanäle in die Parteien aktiviert. Ergebnislos. Nachdem dies nichts genutzt hatte, beauftragte er ein Mitglied seines Direktoriums, einen ehemaligen Staatssekretär des Innenministeriums, ein Papier zu schreiben und es der Welt zuzuspielen. Unter der Überschrift »Sicherheitsexperten entsetzt über deutsche Politik« kommentierte dann sogar der Chefredakteur »das Manifest der Sicherheitsbehörden«. Es wurde die sofortige Grenzschließung gefordert, der Stopp der Flüchtlingsströme, Streichung von Sozialleistungen und so weiter. Samt und sonders vernünftige Sachen.
Doch die Kanzlerin schlug alles in den Wind.
Er erinnert sich genau: Damals stand er in der großen Halle des Hauptbahnhofs, als die ersten Flüchtlinge in München ankamen. Traumatisierte, elende Gestalten. Sicher keine Gefahr für die innere Sicherheit oder für sonst irgendjemanden. Die wirkliche Gefahr ging von den umstehenden Münchnern aus, die diesen hungrigen, desorientierten Gestalten applaudierten und ihnen zujubelten. Er hätte kotzen können. Diese radikal kommunistische Menge nutzte die Flüchtlinge, um das innenpolitische Klima nach links zu verschieben. Als er diese begeisterte Masse sah, wurde ihm schlecht vor Ekel. Er begriff die Gefahr sofort. In den folgenden Monaten weitete sich diese Verneinung alles Deutschen bis in die Mitte der Gesellschaft aus, und irgendjemand erfand sogar einen Begriff dafür: Willkommenskultur. Er fuhr nach Berlin zurück und war fest entschlossen, diese Entwicklung zu beenden.
Mit Erfolg. Die Organisation Fuhrmann mobilisierte alle Kräfte und aktivierte ihre Verbindungen in die Sicherheitsbehörden. Mit einigen wenigen, aber aufsehenerregenden Geheimdienstoperationen gelang es, die Stimmung in der Bevölkerung vollständig zu drehen. Dazu war die Organisation Fuhrmann schließlich da.
Jetzt ist es Zeit für eine neue Operation.
Er betrachtet noch einmal das Foto von Kröger in der Zeitung.
Nopper hatte den richtigen Mann ausgesucht.
Kröger wird sterben.
Für eine gute Sache.
Und ganz nebenbei wird er dabei auch Nopper in die Hölle schicken.
Fuhrmann lächelt.