Berlin-Neukölln
Roy, der Ältere, nimmt noch einen kräftigen Schluck aus dem Pappbecher, rülpst laut und fährt sich dann mit dem Ärmel über den Mund.
»Bringen wir es hinter uns«, sagt er zu Matze. »ich will nachher noch den Schluss von 4 Blocks gucken.«
»Hehe, guckst du Gangstafilme?«
»Klar doch, man kann immer noch was lernen.«
Sie stehen auf und gehen zur Tür.
»Hey, ihr Penner! Wollt ihr eure Tabletts nicht zurücktragen?«, ruft ihnen ein Hipster mit dunkelblondem Bart, kreisrunder Brille, Norwegerpullover und einer schicken Freundin hinterher.
Matze bleibt abrupt stehen. »Dann zeig mal, was du gelernt hast.«
*
»Olga, es passt gerade nicht.«
Dengler beobachtet, wie Mike und sein Kumpel auf ein junges Paar zugehen und sich vor ihm aufbauen.
»Georg, ich weiß, wo die Ratten herkommen. Ein Tierpfleger …«
»Olga, ich ruf dich zurück. Hier kracht es gleich.«
Die Freundin des Hipsters drückt sich eng an den Norwegerpullover ihres Freundes.
Dengler sieht, wie Mike sich vorbeugt, das Tablett des jungen Mannes mit einer Portion Chicken McNuggets und zwei Bechern Cola hochhebt und es ihm über den Kopf kippt. Dann holt er aus und schlägt es ihm auf den Kopf. Die Freundin schreit so laut und spitz, dass Dengler es durch die Glasfront bis auf den Parkplatz hören kann. Er seufzt und öffnet die Tür des BMW .
*
Matze packt seinen Kumpel am Arm: »Komm, lass uns verschwinden. Wir müssen noch was erledigen.«
Der schlägt Matzes Hand weg und dreht wütend den Kopf: »Lass mich los. Den mach ich Krankenhaus.«
»Roy, ich denke, du willst heute noch 4 Blocks gucken.«
Als hätte jemand eine Nadel in eine Gummipuppe gestoßen, weicht die Luft aus Roy. Seine Schultern fallen zusammen. Schnaubend atmet er aus, dreht sich zu Matze und grinst ihn freundlich an: »Du hast recht. Wir haben Wichtigeres zu tun.«
Er beugt sich zu dem Hipster über den Tisch, der zwei Chicken Nuggets von seinem neuen Pullover zieht. »Du hast Glück, dass wir keine Zeit haben.« Dann schlägt er unvermittelt zu. Die runde Brille fliegt in hohem Bogen auf den Boden. Das Mädchen schreit etwas Unverständliches. Roy und Matze gehen zur Drehtür.
*
Als Dengler den McDonald’s betritt, verlassen die beiden Schläger ihn. Dengler wendet den Kopf und hebt den Arm vors Gesicht, damit sie sein Gesicht nicht erkennen. Alte Zielfahnderroutine. Er bleibt in der Tür stehen und verlässt den McDonald’s sofort wieder. Er läuft zwanzig Schritte hinter den beiden, als er hört, wie einer der beiden sagt: »Roy, eine Supergerade. Hat man nicht kommen sehen.«
Roy, registriert Dengler. Sein Mike Ehrmantraut heißt in Wirklichkeit Roy.
Die beiden gehen zu dem Cayenne. Dengler startet den BMW und lässt ihn zur Ausfahrt des Parkplatzes rollen. Als Roy ohne zu blinken von der Busspur auf die Fahrbahn wechselt und ein wütendes Hupen des Touareg hinter ihm auslöst, biegt Dengler drei Autos nach diesem auf die Straße ein und fährt ihnen nach.
Ohne den Blick vom Cayenne zu lassen, wählt er Olgas Nummer.
»Entschuldige, mein Herz«, sagt er. »Ich observiere gerade den Rattenkönig von Kreuzberg. Ich sitze im Auto, aber wir können reden.«
»Georg, ich habe ziemlich sicher die Bezugsquelle entdeckt. Ein Tierpfleger aus dem Institut in Leipzig, das aus irgendwelchen wissenschaftlichen Gründen besonders aggressive Ratten züchtet.«
»Bist du okay? Keine gefährlichen Aktionen, ja? … Wieso lachst du?«
»Alles prima, Georg. Das, was ich jetzt unbedingt brauche, ist eine heiße Dusche.«
*
Olga startet den Mitsubishi und wendet.
»Hast du alles dokumentiert?«, fragt Dengler.
»Ja. Ich habe schöne Fotos von der illegalen Zuchtanstalt geschossen.«
»Illegale Zuchtanstalt? Olga! Wovon redest du? Bist du in Gefahr? Was treibst du da in Leipzig?«
Olga lacht. »Ich habe den Typen verfolgt, der die Rattenkäfige putzt. Er wohnt mit seiner Mutter in einem einsamen Haus …«
»Olga, brich sofort alle Aktionen ab. Das klingt gefährlich. Warte, bis ich …«
»Alles gut, Georg. Mach dir keine Sorgen. Ich stelle mich jetzt eine halbe Stunde unter eine heiße Dusche, und morgen bin ich wieder in Berlin.«
Sie fährt an der Seitenstraße vorbei, die zu Winklers Haus führt. Vor der Tür steht ein schwarzer SUV mit erleuchteter und geöffneter Heckklappe. Die beiden Besucher stehen davor. Dann sieht sie, wie Sandro Winkler einen großen Metallkäfig in den Kofferraum stellt. Die drei Männer steigen in den Wagen. Olga bremst und hält neben dem Bürgersteig.
»Du, Denglerschatz, da ist was … ich rufe dich später noch einmal an«, sagt sie und drückt die Trenntaste.
»Was ist da? Olga? Hallo?«
Sie fahren die nächtliche Oberlandstraße hinab. Neukölln, Berlins dichtest besiedelter Bezirk scheint nie schlafen zu wollen. Die Menschen stehen an den Imbissständen, die Kneipen sind immer noch voll.
Dengler wählt erneut Olgas Nummer, doch sie nimmt nicht ab.
Er versucht es noch einmal.
Die Ampel vor ihnen schaltet auf Rot. Die beiden Wagen vor ihm bremsen. Der Cayenne gibt Gas und überquert die Kreuzung.
»So ein Mist!« Er legt das Handy zurück auf den Beifahrersitz.
Der Porsche fährt jenseits der Kreuzung weiter. Als nur noch die kleiner werdenden Rücklichter erkennbar sind, sieht Dengler, wie der Wagen nach links in eine Seitenstraße abbiegt. Die Ampel vor ihnen ist immer noch rot. Er wird die beiden Arschlöcher aus den Augen verlieren. Wütend schlägt er mit der Faust aufs Armaturenbrett.
Er muss eine Entscheidung treffen. Dengler überlegt kurz, dann kurbelt er das Lenkrad herum und drückt das Gaspedal durch. Der BMW schert aus und rast mit quietschenden Reifen über die Kreuzung. Von links sieht er einen Scheinwerfer größer werden.
Hinter ihm hupt es.
Der Scheinwerfer wird größer – ganz groß.