Berlin-Kreuzberg, Plattenbau, auf dem Dach
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, mit Mund-Nasen-Schutz sechs Stunden im ICE zu sitzen. Manchmal klappt er einfach die Maske über den Mund zurück, atmet befreit ein und aus und schiebt die Maske wieder zurück.
Da die Hotels geschlossen haben, hat Kröger ihm eine Wohnung im Gästehaus der Kröger Immobilien AG reserviert. Dengler packt seine Tasche aus, zieht Jeans und Turnschuhe an, ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt und eine dunkelblaue Bomberjacke. Dann nimmt er seine Smith & Wesson, lädt das Magazin und schiebt es in den Griff der Waffe, bevor er sie in den Hosenbund steckt.
Freundlicherweise hat man ihm Mineralwasser, Obst und einige belegte Brötchen auf den Tisch gestellt. Daneben liegen die KeyCard und Papiere des BMW . Er isst das Obst, gießt sich ein Glas Wasser ein und lässt die Brötchen unbeachtet.
Dann wartet er.
*
Um halb zwei nimmt er die KeyCard und geht. Er steigt in den BMW und fährt nach Kreuzberg.
Die Straße vor den beiden hohen Plattenbauten wird von dem fahlen Licht der Straßenleuchten nur schlecht ausgeleuchtet. Die beiden Parkplätze an der Kita sind frei. Er parkt rückwärts ein und steigt aus. Alles ist still. Auf Arthurs Balkon glimmt eine Zigarette auf. Dengler lächelt. Er überquert die Straße und schließt die Eingangstür auf. Das Flurlicht springt an. Dengler fährt mit dem Aufzug in den obersten Stock und steigt aus. Neben dem letzten Wohnungseingang ist die Tür zum Dach. Alles ist genau so, wie Kröger es ihm beschrieben hat.
Er schließt die Tür auf.
Dahinter führt eine Treppe aufwärts. Er geht einige Stufen, da verlöscht das Licht.
Dengler bleibt mitten in der Bewegung stehen, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Dann steigt er vorsichtig die restlichen Stufen hinauf, drückt eine schwere Stahltür auf und steht auf dem Dach des Hauses. Vor ihm liegen die Aufbauten der Fahrstühle und die kastenförmigen Öffnungen einiger Luftschächte. Die Fläche ist groß, und die Aufbauten bieten einem potenziellen Attentäter reichlich Verstecke.
Dengler geht systematisch vor und kontrolliert jeden Aufbau. Er schaut hinter jede Ecke, und nach zwanzig Minuten besteht kein Zweifel: Er ist allein hier oben.
Er schickt Kröger eine SMS : Sie können kommen. Der Ort ist sicher.
Er kehrt zurück an den Ausstieg zum Dach. Von hier hat er einen perfekten Blick auf den benachbarten Block. Auf Arthurs Balkon leuchtet keine Zigarette mehr auf. Dengler schmunzelt. Vielleicht hat der alte Mann nun endlich Schlaf gefunden. Er gönnt es ihm.
Dengler schaut auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zum Treffen mit Kröger.
Dengler prüft den Sitz seiner Waffe, geht in die Hocke und wartet.
Nach zwanzig Minuten hört er ein scharrendes Geräusch. Die Tür zum Dach wird leise aufgedrückt. Dengler hält die Luft an und lauscht konzentriert.
Geflüster.
Kröger kommt nicht allein.
Oder es ist jemand anders?
Vielleicht Krögers geheimnisvoller Gesprächspartner.
Schritte knirschen.
Dengler richtet sich auf.
Prüft den Sitz der Waffe.
Die Unbekannten schließen die Tür.
Vorsichtig und leise.
Erneutes, kurzes Flüstern.
Schritte nähern sich.
Dengler legt die Hand an die Smith & Wesson.
Zwei Gestalten schälen sich aus dem Dunkel.
Keine davon hat die Statur von Kröger.
Beide sind deutlich kleiner.
Eine geht zum Rand des Daches und schaut hinunter, die zweite Gestalt blickt zu dem anderen Wohnblock.
»Wir sind wohl die Ersten«, sagt Silke und dreht sich um.
»Ich warte aber hier nicht ewig«, antwortet Hatice etwas lauter.
»Ihr seid nicht die Ersten«, sagt Dengler halblaut.
Die beiden Frauen fahren herum. Hatice zieht das rechte Bein hoch, gleichzeitig fährt ihre Hand blitzschnell zum Stiefel. Sie hält Dengler ihre Pfefferspray-Dose ins Gesicht.
Er hebt die Hände. »Nicht schießen!«
Silke hat einen Schrei ausgestoßen. »Georg? Was machst du hier?«
»Ich warte auf euren Gesprächspartner.«
»Auf Kröger?«
»Genau.«
»Auf den warten wir auch.«
»Prima. Dann warten wir zusammen.«
Hatice senkt misstrauisch die Pfefferspray-Dose und steckt sie zurück an ihren Stiefel.
»Was will er denn von uns?«
»Was wollt ihr denn von ihm?«
»Wir sollen uns anhören, was er uns zu bieten hat.«
»Mir hat er gesagt, er wolle sich von euch geheime Dokumente zeigen lassen, die beweisen, dass er nichts mit der Rattengeschichte zu tun hat.«
»So ein Unsinn! Es war doch einer seiner übereifrigen Mitarbeiter. Das ist doch mittlerweile bewiesen.«
Dengler fragt: »Warum seid ihr hier?«
»Kröger will uns ein Wiedergutmachungsangebot machen.«
»Deshalb seid ihr hier?«
»Allerdings«, sagt Hatice.
Dengler: »Mit anderen Worten: Ihr und Kröger wurdet hierherbestellt, jeder mit einer anderen Geschichte.«
Hatice: »Ich bekam einen Anruf …«
»Von Kröger selbst?«
»Nein«, sagt Hatice zögernd, »von einem seiner Angestellten.«
»Name?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Dann warten wir«, sagt Dengler, »bis Kröger auftaucht und das Geheimnis lüftet.«
Sie stehen unschlüssig herum. Hatice fummelt an ihrem Stiefel, Silke blickt zum anderen Haus.
»Arthur schläft«, sagt sie leise.
»Keine brennende Kippe auf seinem Balkon«, bestätigt Dengler und schaut ebenfalls hinüber.
Schweigen.
»Wir sind auf dem falschen Haus«, sagt Silke plötzlich.
»Wieso?«, fragt Hatice.
Dengler sieht, was Silke meint. Drüben auf dem anderen Plattenbau wird ein Lichtstrahl von einem der Aufzugtürme reflektiert. Offenbar wird eine Tür geöffnet.
»Kröger ist dort drüben«, sagt Silke.
Hatice und Dengler stellen sich neben sie.
Auf dem Dach des Nachbarhauses bewegt sich ein Schatten. Oder sind es mehrere? Dengler kann es nicht erkennen.
»Ich rufe ihn an«, sagt Dengler und zieht das Handy aus der Hosentasche.
Er hört, dass die Nummer gewählt wird, aber Kröger nimmt nicht ab.
»Himmel, was ist das?«, ruft Silke.
Etwas Dunkles bewegt sich drüben direkt am Rand des Daches entlang.
Hatice beugt sich vor. »Da ist jemand«, sagt sie.
Für einen Moment sieht Dengler deutlich die Silhouette eines Mannes. Er verschwindet hinter einem Schacht. Dann ist dort drüben niemand mehr zu sehen. Nur der Lichtreflex aus der geöffneten Tür.
Da – erneut etwas Dunkles.
Es bewegt sich auf den Rand des Daches zu. Dengler kneift die Augen zusammen. Doch der Lüftungsschacht versperrt ihm die Sicht.
Sie hören einen erschütternden, nahezu unmenschlichen Schrei.
Dann ein kurzes, dumpfes Geräusch, als ein Körper auf dem Gehsteig aufschlägt.
*
Ich habe versagt, fährt es Dengler durch den Kopf. Völlig versagt. Ich sollte Kröger schützen, und das ist mir nicht gelungen. Jemand hat ihn ermordet. Ich habe ihn nicht geschützt. Ich habe versagt. Ich bin ins falsche Haus gelaufen. Ich bin zu blöd, ins richtige Haus zu gehen. Ich bin ein kompletter Versager.
»Lasst uns verschwinden«, sagt Hatice.
Sie sehen sich an, und es ist ein Gefühl, als würden sie aus einem schlimmen Traum erwachen.
Sie hasten das Dach entlang zur Tür. Dann die Treppe hinunter. Es ist dunkel. Silkes Hände gleiten an der Wand entlang und erzeugen ein raues Geräusch. Dengler schaltet die Taschenlampenfunktion seines Handys ein und leuchtet die Stufen aus, damit die beiden Frauen den Weg besser sehen. Die Tür zum Flur ist abgeschlossen. Dengler zieht den Schlüssel aus der Tasche und sperrt auf.
»Komisch«, sagt Silke, »ich habe die Tür nicht abgeschlossen.«
»Wahrscheinlich ein ordentlicher deutscher Nachbar«, sagt Hatice.
Dann stehen sie vor der Aufzugtür.
*
Als sie zum Nachbarblock kommen, ist bereits ein Krankenwagen da. Er steht mit rotierendem Blaulicht am Straßenrand. Sanitäter breiten gerade eine braune Wolldecke über der Leiche aus. Darunter sieht Dengler ein Paar braune, offenkundig sehr teure Lederschuhe hervorlugen. Einige Nachbarn sind ebenfalls da, Bademäntel eilig über Nachthemden und Schlafanzüge geworfen. Einer von ihnen macht verstohlen Fotos mit dem Handy.
Silke ist blass und klammert sich an Hatices Schulter. »Das hat er nicht verdient«, flüstert sie. »Niemand mochte ihn, aber das hat er nicht verdient.« Sie wendet sich an Dengler. »Er hat Olga Geld für Lena gegeben. Sehr viel Geld.«
Dengler nickt. »Er hat von den Ratten nichts gewusst«, sagt er.
Dann läuft er um das Haus zum Türeingang. Er versucht den Schlüssel, den Kröger ihm geschickt hat, ins Schloss zu stecken. Er passt nicht. Er versucht es noch einmal, doch es ist eindeutig: Der Schlüssel passt nicht zu diesem Block.
Er geht zurück zu den beiden Frauen. Mittlerweile sind zwei Streifenwagen eingetroffen. Zwei Polizisten sichern mit Absperrband die Aufschlagstelle.
»Wir sind nicht im falschen Haus gewesen. Kröger hat die beiden Häuser verwechselt«, sagt er.
»Selbstmord. Warum macht man so etwas?«, fragt Silke leise.
Dengler denkt daran, wie er Kröger vor der psychotherapeutischen Praxis abgesetzt hat. Er erinnert sich an den Moment, als Kröger Pillen geschluckt hat. Er schaut nach oben.
Auf Arthurs Balkon glimmt eine Zigarette.
*
In der Nacht schläft Dengler schlecht. Er wirft sich im Bett des Gästezimmers hin und her, und im Traum schreit ihn Kröger an, zieht ihn am Hemd und reißt ihn vom Dach des großen Blocks in die Tiefe. Als sie an Arthurs Balkon vorbeirasen, bläst der ihnen den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht und springt ihnen hinterher. Dengler erwacht schweißgebadet. Erst als es hell wird, fällt er in einen unruhigen, aber traumlosen Schlaf.
Der schrille Ton seines Handys weckt ihn. Er streckt eine Hand unter der Bettdecke hervor und tastet nach dem Telefon. Er zieht es in die Wärme und drückt den grünen Knopf.
»Hallo Dengler, sind Sie etwa in Berlin?«, tönt ihm Kröger fröhlich entgegen.
»Was für ein beschissener Traum«, denkt Dengler und drückt die Aus-Taste.
Sofort schrillt es erneut.
Dengler seufzt und nimmt ab.
Es ist Kröger.
Kein Zweifel.
»Eben lese ich deine SMS .« Er lacht. »Oh sorry, ich soll ja ›Sie‹ sagen. Also, eben lese ich Ihre SMS , dass der Ort sicher ist. Sehr lustig. Wo sind Sie?«
»In Ihrer Gästewohnung.«
»Ich hatte Ihnen doch geschrieben, dass diese Aktivisten das Treffen abgesagt haben.«
»Ich habe nichts bekommen.«
»Haha, das kommt davon, wenn man seine Mails nicht liest.«
»Ich habe keine Mail von Ihnen bekommen.«
Kröger wirkt plötzlich verunsichert. »Komisch. Ich hab doch die Mail geschrieben! Habe ich selbst getippt!«
»Ich hab nichts bekommen.«
»Ich bin gerade den Berliner Kreisel hochgelaufen, und es gibt eine neue persönliche Bestzeit.«
»Großartig«, murmelt Dengler.
»Komm doch, oh Entschuldigung, kommen Sie doch rüber in mein Büro. Wir frühstücken zusammen. In einer halben Stunde?«
»Großartig. Gut, dass Sie leben.«
»Was?«
»Gut, dass Sie leben«, wiederholt Dengler und legt auf.
Nachdem er geduscht hat, ruft er Weber im LKA an.
»Heute Nacht gab es einen Selbstmord in einem von Krögers Plattenbauten in Kreuzberg«, sagt Dengler.
»Stimmt«, sagt Weber. »Woher weißt …«
»Wer war die Person?«
»Warum willst du das wissen?«
»Ich stand im Block gegenüber und sah ihn fallen.«
»Du willst eine Aussage machen? Gab’s Fremdeinwirkung?«
»Es war zu dunkel. Ich sah ihn nur fallen. Wer war es?«
»Ein Rentner. Hatte wohl genug vom Leben. Einsamkeit. Seine Tochter kam noch in der Nacht aus Hamburg und hat ihn identifiziert. Er soll sehr zurückgezogen gelebt haben. Wenig Sozialkontakte. Das Verhältnis zur Tochter und den beiden Enkeltöchtern war zerrüttet. Es gab wohl nicht sehr viel, was diesen Mann noch auf der Erde gehalten hat.«
»Wie heißt er?«
Dengler hört, wie Weber auf einer Tastatur klappert.
»Karl Fuhrmann war sein Name. Sagt dir das etwas?«
»Nein«, sagte Dengler. »Dieser Name sagt mir nichts. Seltsam. Ich wurde von Kröger zu einem Treffen aufs Nachbargebäude gebeten. Vielleicht sollte ich zu der Beerdigung von diesem Fuhrmann gehen und mir mal anschauen, wer da auftaucht.«
»Kannst du vergessen. Berliner Corona-Verordnung. Bei Beerdigungen dürfen nur fünf Personen anwesend sein. Und das nur mit Mundschutz und Einhaltung des Mindestabstands. Schlimme Zeiten.«
*
»Sie haben die beiden Frauen nicht eingeladen, auf das Dach des Plattenbaus zu kommen?«
Kröger lacht und schenkt Dengler Kaffee ein. »Sehen sie gut aus?«
»Keine blöden Witze am frühen Morgen. Haben Sie?«
»Natürlich nicht. Ich sollte dahin kommen und wurde wieder ausgeladen.«
»Das ist ziemlich ungewöhnlich.«
Kröger nimmt ein iPad, tippt und wischt darauf herum. »Komisch, dass ich diese E-Mail nicht mehr finde. Ich muss sie aus Versehen gelöscht haben …«
»Kann passieren, natürlich. Seltsam ist aber, dass die beiden Frauen durch Anrufe an den gleichen Platz gelockt wurden. Angeblich, um Sie dort zu treffen.«
»Merkwürdig. Ich habe jedenfalls keine Frauen nachts auf irgendein Dach bestellt. Daran würde ich mich bestimmt erinnern.«
»Sagt Ihnen der Name Karl Fuhrmann etwas?«
Kröger überlegt. Dann schüttelt er den Kopf. »Nein, nie gehört. Wer ist das?«
»Das ist der Rentner, der sich vom Dach gegenüber zu Tode gestürzt hat.«
»Möchten Sie ein Laugenbrötchen? Als Schwabe?«
»Ich bin kein Schwabe.«
»Sorry. Noch einen Kaffee? Wann fährst du wieder nach Stuttgart zurück?«
»Mit dem nächsten Zug.«
»Schreib ’ne Rechnung. Komisch, dass du meine E-Mail nicht bekommen hast.«
*
Dengler fährt mit dem Zug nach Stuttgart.
Unterwegs googelt er den Namen Karl Fuhrmann und erhält eine endlose Liste mit Treffern.
Was soll’s, denkt er. Für mich ist dieser Fall erledigt. Schluss.
Er legt den Kopf zurück, zieht die Luft durch die Maske ein – und das gleichmäßige Rattern des ICE rüttelt ihn in den Schlaf.