Stuttgart
In diesem Jahr erinnert das Wetter im April eher an Hochsommer als an Frühling. Die Temperaturen steigen auf nahezu 30 Grad. Die Menschen zieht es hinaus ins Freie. Sie reagieren fast alle vernünftig, halten Abstand und tragen Schutzmasken, doch ihre Verunsicherung ist fast körperlich zu spüren.
Das Leben in Stuttgart hatte sich durch den Lockdown vollständig verändert. Das Basta ist geschlossen. Geschäfte mussten schließen. Menschen eilen mit riesigen Paketen Toilettenpapier durch die Straßen.
Immerhin: Olga ist aus Rumänien zurückgekommen, wo sie ihre Familie besucht hat, bevor in Europa die Grenzen geschlossen wurden. Sie entdecken den Rössleweg und machen Spaziergänge um die Stadt, besuchen Denglers Freund Mario, der sein Ein-Tafel-Restaurant ebenfalls geschlossen hat. Leopold Harder, der Journalist, ist auch dabei, aber die alte, fröhliche Stimmung unter den Freunden kommt nicht mehr auf. Überall auf der Welt treibt das Coronavirus die Sterblichkeitsraten in die Höhe, und Leopold berichtet, wie die Intensivstationen in den Stuttgarter Krankenhäusern sich auf einen Ansturm von Infizierten vorbereiten. Keiner von ihnen kennt das Gefühl, einer Gefahr ausgesetzt zu sein, die sie nicht sehen und nicht fassen können. Es ist eine bedrückte Stimmung, die sich wie ein Schatten auf die Stadt legt. Die Menschen gehen auf Abstand, tragen Schutzmasken.
Doch dann ändert sich plötzlich etwas. Ein Ruck geht durch die Stadt. Junge Leute organisieren Einkaufsdienste für ihre gefährdeten älteren Nachbarn. Die Wirtin seines Lieblingslokals Vetter im Heusteigviertel ruft ihn an. Sie kocht wieder und organisiert den Straßenverkauf ihres beliebten Essens. Die türkische Änderungsschneiderei näht Gesichtsmasken. Ein stadtbekannter Journalist organisiert eine finanzielle Soforthilfe für Künstler, Musiker, Literaten, denen vereinbarte Honorare wegbrechen und die nun nicht mehr wissen, wie sie sich über Wasser halten können. In wenigen Tagen sammelt sich auf diesem Notkonto ein sechsstelliger Betrag. Die Stadt und ihre Bewohner ergeben sich nicht dem Virus, sondern ordnen ihr Leben neu und solidarisch: mit Rücksicht, mit gegenseitiger Unterstützung, wechselseitiger Anteilnahme und einer heiteren Gelassenheit, die erstaunlich ist angesichts der Bedrohung durch ein tödliches Virus.
Dengler grübelt. Zwar hat die Kröger Immobilien AG alles bezahlt, und Petra Wolff war nicht zimperlich mit der Endrechnung. Sein Kreuzberger Auftrag ist erledigt. Alles abgeschlossen. Doch etwas ist auf eine beunruhigende Art unklar. Wer hat Silke und Hatice auf das Dach des Plattenbaus bestellt? Wer erschoss den Kleingangster, der die Ratten aussetzte?
Wieder telefoniert er mit Weber, doch der Hauptkommissar wimmelt ihn ab. »Dengler, wir sind dran, aber die Akte von diesem Gangster liegt nicht gerade oben auf unserem Stapel. Geh mir damit nicht auf die Nerven.«
Während Dengler versucht, die Gedanken an die Ungereimtheiten des Falls zu vertreiben, sitzt Petra Wolff in ihrer Wohnung und macht Homeoffice. Sie hat das Bürotelefon umgestellt, aber niemand ruft an. Wer braucht in diesen Zeiten schon einen Privatdetektiv? »Selbst die Ehemänner aus der Automobilbranche sind entweder treu geworden, oder ihren Frauen ist es mittlerweile wurscht, was sie treiben«, sagt sie.
Merkwürdig ist, dass Martin Klein, Denglers Freund und Nachbar, der in der Stuttgarter Wagnerstraße auf demselben Stock wie er wohnt, sich mehr und mehr abkapselt. In früheren Zeiten hätten sie jede Gelegenheit genutzt, um sich bei einer Flasche Wein über den Stand der Dinge auf der Welt und insbesondere im Bohnenviertel zu unterhalten, doch nun winkt Martin Klein verärgert ab, wenn Dengler ihn zu einem Glas einlädt. Früher fühlte er sich manchmal geschmeichelt, wenn Olga ihn besuchte, doch nun schaut er kaum noch auf, wenn sie an seine Tür klopft. Die meiste Zeit sitzt er in seinem Arbeitszimmer vor dem bläulich leuchtenden Bildschirm und surft im Internet. Zuerst dachte Dengler, sein Freund arbeite endlich an dem Kriminalroman, von dem Klein träumt, seit Dengler ihn kennt. Doch immer, wenn Dengler bei Klein hereinschaut, sieht dieser sich YouTube-Videos an oder studiert etwas bei Facebook oder Telegram. Recherche für den Krimi? Dengler ist skeptisch.
Deshalb klopft er am Abend bei ihm an. Er hält zwei Gläser und eine Flasche guten Nebiolo in den Händen.
»Martin, jetzt klapp mal den Rechner zu. Wir trinken einen Schluck, und du erzählst mir etwas von deinen Recherchen. Ich kann dir auch eine interessante Geschichte von meinem letzten Fall erzählen. Wusstest du, dass in Leipzig aus wissenschaftlichen Gründen extrem aggressive Ratten gezüchtet werden? Sie greifen alles an, was sich bewegt. Vielleicht kannst du das für deinen Krimi gebrauchen.«
Martin Klein dreht sich zu ihm um und sagt: »Es ist unglaublich.«
»Ja«, sagt Georg Dengler munter und füllt die Gläser. »Die Viecher sind wirklich superbissig. Wird dir vielleicht bei deinem Krimi helfen. Du musst mal mit Olga reden. Sie hat einen Kampf gesehen: zehn Ratten gegen einen aggressiven Kampfhund. Glaubt man nicht, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Rate mal, wer gewonnen hat? Jetzt setz dich zu mir und mach die Klapperkiste zu.«
Mit einer langsamen Bewegung drückt Martin Klein den Deckel des Laptops zu. Als er aufsteht, kommt er Dengler müde und erschöpft vor. Nur seine Augen funkeln entschlossen über den Tisch. Er setzt sich.
»Es ist unglaublich«, wiederholt er.
»Alles okay?«, fragt Dengler besorgt. »Passt du auf dich auf? Wenn man dich so sieht, glaubt man es nicht, doch auf dieses Coronavirus wirkst du besonders appetitlich. Es mag ältere Männer. Du gehörst zur Risikogruppe.«
Martin Klein schüttelt den Kopf. »Sie wollen uns alle Mikrochips implantieren, Georg. So sieht es aus.«
»Sie wollen uns was?«
»Du gehst wie ein Blinder durch die Welt. Und redest von Ratten. Redest von Literatur.«
»Äh, von Krimis habe ich gesprochen. Du wolltest doch einen Krimi schreiben, oder? Seit ich dich kenne, redest du davon.«
»Große Dinge gehen vor, Georg. Wir müssen die Augen aufmachen.«
»Alles okay? Wir sind gerade alle ein bisschen durch den Wind …«
»Georg, du redest von Belanglosigkeiten. Ratten! Krimis! Weiß du, was da draußen abgeht?«
Martin Klein hebt das Glas und schwenkt es in Richtung Fenster. Etwas von dem guten Nebiolo schwappt über und hinterlässt einen Fleck auf Kleins Teppich, doch dieser bemerkt es nicht einmal.
»Äh, Martin, trink lieber einen Schluck, bevor …«
Klein grinst. »Du hast recht.«
Sie stoßen an.
»Also«, hebt Martin Klein an, »die Merkel ist gerade dabei …«
»Wie findest du den Wein?«
Martin Klein schaut erstaunt auf das Glas, als würde er es jetzt erst sehen, dann trinkt er langsam einen Schluck.
»Sehr gut«, sagt er. »Italiener?«
»Ja. Aus dem Piemont.«
»Trotzdem Georg, du musst mir zuhören. Ungeheure Dinge geschehen.«
»Weiß Gott, ich habe einige davon erlebt. Meine Ermittlungen bei einem Immobilienhai in Berlin könnten interessant sein für deinen Krimi. Also, pass auf, was passiert ist …«
»Georg, bitte, hör mir zu. Gerade schafft die Merkel unsere Grundrechte ab. Wir werden versklavt.«
»Wir werden … versklavt?«
»Ja. Dich habe ich beim Edeka doch auch mit dieser Maske gesehen.«
»Stimmt. Erstens, weil ich das Virus nicht bekommen möchte, und zweitens, weil ich sonst nicht bedient werde.«
»Siehst du, das meine ich. Selbst du verhältst dich wie ein Sklave. Verstehst du?«
»Nein, das versteh ich nicht. Beides sind nachvollziehbare Gründe für das Tragen der Maske beim Einkaufen. Erklär mir, was dich umtreibt. Ich halte solange die Klappe, versprochen.«
»Die Merkel ist gerade dabei, unsere Grundrechte abzuschaffen. Wir merken es nicht, aber sie ist damit schon weit vorangekommen.«
Dengler holt Luft, erinnert sich dann an sein Versprechen, die Klappe zu halten, und schweigt.
Im Gesicht von Martin Klein graben sich tiefe Falten ein. Es macht auf Dengler den Eindruck, als werde er tief in seinem Inneren von etwas gepeinigt.
Martin Klein sagt: »Ich erklär dir’s von Anfang an. Die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, dieser Supermilliardär und seine Frau, hat sich die Weltgesundheitsorganisation gekauft. Diese beiden finanzieren die Weltgesundheitsorganisation zu über 80 Prozent und bestimmen dort ganz knallhart, was Gesundheit ist. Sie wollen jeden Menschen auf der Welt impfen, weil sie glauben, dass dann alle gesund sind. Vor allem wollen sie noch mehr Geld machen, Profit machen mit den Impfstoffen. Deshalb haben sie die Weltgesundheitsorganisation gekauft. Sie haben auch die Internationale Impfallianz gekauft. Sie haben sich auch in der Bundesregierung eingekauft. Sie finanzieren diesen Herrn Drosten von der Berliner Charité. Sie geben Millionen an den Spiegel und an die Zeit ; das heißt: Sie bestimmen die öffentliche Meinung über das Thema Impfen komplett. Die gesamte Welt ist im Visier dieser beiden Gates. Und unsere Regierung? Die ist höchst korrupt, weil sie nur Menschen um sich hat, die auf der Gates-Lohnliste stehen. Ich dagegen gehöre zu denen, die das Grundgesetz verteidigen. Das musst du dir mal geben: In Berlin wurden Menschen auf einer Demonstration verhaftet, weil sie das Grundgesetz offen bei sich trugen. Die Polizei hat die Leute aufgefordert, das Grundgesetz herunterzunehmen, weil, so haben sie gesagt, das Grundgesetz sei eine unerlaubte politische Äußerung. Stell dir das vor: Wer das Grundgesetz im Merkel-Deutschland offen trägt, wird von der Polizei kassiert. Das ist Merkel-Deutschland heute, und das alles nur, weil Melinda und Bill Gates das so wünschen. Stell dir nur vor: Ein Ehepaar diktiert der ganzen Welt, wie sie zu leben hat. So weit sind wir heute. Dieses Ehepaar hat mehr Macht als damals Roosevelt, Churchill, Hitler und Stalin zusammen. Das Ehepaar Gates hat über die Weltgesundheitsorganisation auch die deutsche Demokratie gekapert. Jetzt soll eine Impfpflicht über die Hintertür eingeführt werden, Georg, und – ich sag dir – das Ganze funktioniert so: Wenn du dich impfen lässt, dann kannst du leben wie bisher. Weigerst du dich, dann werden dir ganz viele Grundrechte aberkannt. Was für ein Impfstoff uns eingespritzt wird, bestimmt allein das Ehepaar Gates.«
Martin Klein schweigt erschöpft und sieht Dengler erwartungsvoll an.
Dengler schweigt.
»Was ist mit den Grundrechten?«, fragt er schließlich. »Welche sollen abgeschafft werden?«
»Alle«, sagt Martin Klein. »Alle, mit denen wir uns gegen die Gates-Vergiftung wehren können. Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit und so weiter. Ich weiß, das kommt für dich alles überraschend. Aber, bitte glaub mir, ich habe ziemlich lange über alles nachgedacht.«
»Und mehr ist nicht dabei herausgekommen?«
Martin Klein lächelt nachsichtig. »Georg, ich kann dir Videos zeigen, da ist alles erklärt. Willst du …?«
Er dreht sich in Richtung seines Laptops.
»Ne, lass mal stecken.«
Dengler schweigt erschüttert. Martin Klein fasst dies als Ermunterung auf. Er beugt sich zu Dengler hinüber.
»Sag mal ganz ehrlich«, flüstert er. »Kennst du jemanden, der an diesem angeblichen Virus erkrankt ist? Ganz ehrlich.«
»Nein«, sagt Dengler unsicher.
»Siehst du«, sagt Martin Klein und lehnt sich zurück.
»Aber Martin: Na und? In meinem Freundeskreis gibt es kein einziges Arschloch. Alles gute Leute. Kann ich daraus den Schluss ziehen, dass es keine Arschlöcher gibt? Sicher nicht. Dein Argument ist zu 100 Prozent ungültig.«
Martin Klein schnaubt. »Was ich sagen will, Georg: Es wird uns etwas vorgemacht. Vorgespielt. Dieser angeblich tödliche Virus ist in Wirklichkeit nicht gefährlicher als eine normale Grippe. An der Grippe sterben jedes Jahr viele Menschen. Im Internet sagt ein Lungenarzt, ein Lungenarzt, Georg, dass …«
»Ein Lungenarzt? Mensch Martin, nahezu alle Virologen auf der ganzen Welt …«
»Die bekommen doch alle Geld von der Gates-Stiftung, Georg. Verstehst du das denn nicht? Auch der Drosten, der da immer im Fernsehen rumturnt.«
Dengler sagt: »Ich habe die Schlagzeilen der Bild -Zeitung gesehen. ›Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch – Wie lange weiß der Star-Virologe schon davon?‹ Aber alle Quellen, die dieses Schmierblatt anführt, haben gesagt, sie seien verfälscht oder missinterpretiert worden. Überleg doch mal, Martin: Wenn die Bild -Zeitung eine Kampagne gegen einen der führenden deutschen Virologen führt, dann ist der logische Schluss doch nur der, dass der Mann aller Wahrscheinlichkeit nach recht hat.«
Martin Klein sagt: »Weißt du, was der Gates wortwörtlich gesagt hat? Er hat gesagt, die Welt werde erst zur Normalität zurückkehren, sobald man der gesamten Menschheit einen Impfstoff verabreicht habe.«
»Verabreicht? Das hat er gesagt?«
»Wortwörtlich. Du musst die Augen aufmachen, Georg. Und die Ohren. Man muss die Dinge hinterfragen, Georg. Hinterfragen und immer wieder hinterfragen. Mündig sein. Wir können doch nicht länger irgendwelchen Leuten hinterherlaufen, der Merkel, dem Drosten, und denen alles glauben und alles schlucken, was die uns vorschreiben.«
»Okay, da stimme ich dir zu. Ich verspreche dir, ich befasse mich mit allem, was du mir sagst, aber im Augenblick sieht es für mich so aus, als wärest du derjenige, der hinter etwas herläuft mit einer großen Bereitschaft, ziemlich viel zu schlucken.«
»Ich nicht, Georg, ich nicht.« Martin Klein steht auf und klappt den Laptop auf. »Hier, das schreibt ein berühmter Koch. Jemand, der sich um nichts mehr kümmern müsste, der Promi ist und so weiter.«
Klein dreht den Rechner zu Dengler hinüber.
Dengler liest: »Attila Hildmann: Das Ende der Demokratie und der Anfang der NWO hat einen Stichtag: der 15.5.2020, wenn die Novelle des INFEKTIONSSCHUTZGESETZES in Kraft tritt! … Ab heute lebt ATTILA HILDMANN im Untergrund denn sie werden versuchen mich zu ermorden! Gehe ich im Kampf für unsere Freiheit drauf dann nur mit der Waffe in der Hand und erhobenen Hauptes!«
Dengler sagt: »Martin, das ist doch komplett durchgeknallt. Was ist mit dir los? Wieso siehst du den Irrsinn nicht, wenn er sich direkt vor deinen Augen abspielt? Martin, ich mache mir Sorgen um dich. Was ist los mit dir?«
»Und ich mache mir Sorgen um dich. Um die Gedankenlosigkeit der Welt. Alle schlafen, und die Monster greifen nach der Macht, nach uns, unserer Gesundheit, unserem Gehirn. Aber ich sage dir, am Samstag demonstrieren wir. Tausende werden kommen. Normale Leute, Impfgegner. Kommst du auch mit auf den Cannstatter Wasen?«
»Normale Leute. Impfgegner«, wiederholt Dengler. »Ich denke, das Demonstrationsrecht wird abgeschafft. Das Ende der Demokratie ist nahe.«
Martin Klein lächelt nachsichtig. »Du bist noch nicht so weit wie ich, Georg. Komm mit zur Demo. Dann reden wir weiter.«
Dengler hebt das Glas. Doch der Wein schmeckt ihm nicht mehr.
*
Am Abend sitzt er mit Olga in ihrer Wohnung.
»Martin ist völlig abgedreht. Er glaubt ernsthaft, dass das Ehepaar Gates schon die Weltherrschaft errungen hat.«
Olga lacht. »Sympathisch ist mir Gates auch nicht. Hab mich früher viel zu viel über Windows geärgert.«
Dengler berichtet ihr, was Martin Klein ihm erzählt hat. Olga schnappt sich ihren Laptop. Dengler sieht zu, wie ihre Finger auf der Tastatur tanzen.
Dann sagt sie: »Das ist Bullshit, was der Martin erzählt hat. Schlicht und ergreifend falsch. Die Fakten stimmen nicht. Die Weltgesundheitsorganisation finanziert sich zwar zu 80 Prozent aus freiwilligen Beiträgen. Diese 80 Prozent kommen aber nicht allein von der Gates-Stiftung. Die Bill & Melinda Gates Foundation hat in Wirklichkeit einen Anteil von 9,76 Prozent. Keine 80 Prozent. Trotzdem: viel Geld. In zwei Jahren etwa 550 Millionen Dollar. Die Kohle ist dort auch deshalb willkommen, weil der US -Präsident Trump die Beiträge der USA nicht mehr bezahlen will. Dennoch: 80 Prozent ist falsch.«
»Stimmt die Aussage, dass Gates der ganzen Welt einen Impfstoff verabreichen will? Vorher würde er keine Ruhe geben.«
Er greift zum Weinglas und sieht zu, wie ihre Finger erneut auf den Tasten ihres Rechners hin und her sausen. Der Rotwein schmeckt ihm jetzt besser; besser jedenfalls als vorhin in Martin Kleins Wohnung.
Olga sagt: »Er hat sich im April zur Pandemie geäußert. Der genaue Wortlaut ist in Wirklichkeit: ›Man kann durchaus sagen, dass die Dinge erst dann wieder wirklich normal werden, wenn wir einen Impfstoff haben, den wir nahezu der ganzen Welt zur Verfügung stellen werden.‹«
»Also nicht ›verabreicht‹.«
»Nein. Martin Klein biegt sich da etwas zurecht, was nicht haltbar ist. Eigentlich ist es kompletter Unsinn. Nebenbei: Die Gates-Stiftung wird kritisiert. Sie gibt Geld nur zweckgebunden zur Eindämmung von Infektionskrankheiten, also für Impfkampagnen und die Verteilung von Medikamenten. Thomas Gebauer von der Hilfsorganisation Medico International kritisiert das als zu einseitig. Wichtig wäre außerdem der Aufbau funktionierender Gesundheitssysteme in armen Ländern. So sieht es auch der WHO -Direktor Gaudenz Silberschmidt. Er sagt im SWR : ›Diese Tendenz stimmt; und wir sind uns dessen bewusst. Aber wir sind auch im Dialog, der dazu beigetragen hat, dass die Gates-Stiftung und Bill und Melinda Gates selber verstanden haben: Es geht nicht ohne eine Stärkung der Gesundheitssysteme.‹«
»Also weit weg von der Erringung der Weltherrschaft.«
»Sehr weit weg.«
»Er hat auch behauptet, Drosten, dieser Chefvirologe, sei von der Gates-Stiftung gekauft.«
Klapperdieklapp – fasziniert sieht Dengler, wie Olgas Finger über die Tastatur fliegen.
»Das ist der gleiche Mist«, sagt sie. »Das Virologische Institut von Professor Drosten bekam tatsächlich einige technische Geräte als Spenden von der Gates-Stiftung. Diese Zuwendungen sind auf der Homepage des Instituts fein säuberlich aufgeführt. Kein Geheimnis. Unser Freund Martin arbeitet mit einer unsauberen Methode. Er nimmt einen beliebigen Realitätspartikel und versucht damit eine bestimmte These zu belegen. Doch bei allen Beispielen, die du aufgeführt hast, widersprechen die Belege seinen Behauptungen. Sie haben nicht einmal etwas miteinander zu tun. Gates’ Spenden an die Weltgesundheitsorganisation beweisen nicht seine Weltherrschaft. Seine Spenden an das Institut beweisen nicht, dass Drosten in seinem Sinn agiert. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Tatsache und Schlussfolgerung.«
Sie klappert weiter auf der Tastatur herum. »Das ist das generelle Merkmal der Leute, die behaupten, es gäbe keine Pandemie: Die Behauptung ist durch keinerlei Tatsachen belegt. Normalerweise nennt man das Demagogie.«
»Ich fürchte, Martin dreht durch. Er hat mich eingeladen, mit ihm auf eine sogenannte Hygiene-Demo zu gehen. Ich gehe mit. Ich muss auf meinen Freund aufpassen.«
Olga küsst ihn. »Es ist gut, dass du dich um ihn kümmerst. Aber eigentlich geht dir doch noch immer die Berliner Sache durch den Kopf.«
»Ja, ich habe immer noch das Gefühl, da hat jemand etwas arrangiert. Und ich weiß nicht, wer.«
»Du meinst Wenzel?«
»Ja. Bewiesen ist, dass er den Auftrag gab, die Ratten auszusetzen. Man könnte sagen, er hat das im Übereifer gemacht. Kröger wollte eine saftige Mieterhöhung durchsetzen und das ging nur, wenn die alten Mieter rausgeschmissen werden. Er war also Kröger verbunden. Handelte nicht in dessen Auftrag, aber in dessen Interesse. Dachte er jedenfalls. Er war loyal. Auf eine üble Art. Übermotiviert, sagt man heute, aber loyal. Warum sollte er Kröger und Silke mit ihrer Freundin auf das Dach des Plattenbaus locken? Was für einen Sinn macht das? Ich verstehe es nicht.«
»Vielleicht war er nicht so loyal, wie du annimmst?«
»Das habe ich mich auch gefragt. Doch erinnerst du dich, als wir Wenzel das erste Mal in seinem Büro trafen? Ich wendete meinen üblichen Trick an und platzte noch einmal in sein Büro herein, als wir bereits gegangen waren. Ich erwischte ihn, wie er gerade Kröger darüber informierte, dass wir da waren und mit der Öffentlichkeit gedroht haben.«
»Ich erinnere mich. Du sagtest: Ich wollte nur sicher sein, dass unser Gespräch Ihnen wichtig genug war, es sofort Herrn Kröger zu melden.«
»Ja. Das war wichtig, wir wussten nun, dass unser Auftritt genügend Staub aufgewirbelt hat. Die andere Seite würde reagieren.«
Olga sagt: »Streng genommen, rein logisch betrachtet, ist deine Annahme, Wenzel informierte Kröger – nur eine Vermutung . Auch hier, mein Geliebter, ist deine Schlussfolgerung nicht belegt. Wir wissen nicht sicher, ob tatsächlich Kröger am anderen Ende der Leitung war.«
»Das ist doch Quatsch. Wer soll es sonst gewesen sein?«
»Dengler, werde nicht tattrig! Ich sage nur: Wir vermuten etwas, aber wir wissen es nicht. Deine Vermutung passt in dein Bild der Sache, dass Wenzel übermotiviert, aber ansonsten ein loyaler, braver Angestellter ist. Aber trifft das auch zu? Das wissen wir nicht.«
Dengler: »Du hast recht. Wahrscheinlich ist es nicht wichtig. Doch wir sollten uns sicher sein. Olga, sorry. Würdest du …?«
»Einen kleinen Dateneinbruch vornehmen?«
»Ja. Dann könnten wir an dieser Stelle einen Fehler ausschließen und müssten nicht länger darüber diskutieren.«
Olga seufzt und steht auf.