Stuttgart, Cannstatter Wasen
Martin Klein trägt einen weißen Mundschutz, auf den er mit schwarzem Filzstift geschrieben hat: Ich bin kein Sklave! Und du?
»Hey Martin, sind das nicht ein paar Widersprüche zu viel? Corona gibt es angeblich nicht, und trotzdem trägst du einen Mundschutz, der doch ein Zeichen der Versklavung sein soll. Dann schreibst du noch drauf, du seist kein Sklave. Ich versteh das nicht.«
Martin Klein blinzelt Dengler zu: »Sicher ist sicher. Ich gehöre
zur Risikogruppe. Falls an der Sache doch was dran ist, bin ich mit dem Maulkorb sicherer.«
»Na, dann los.«
*
Mehrere Tausend Menschen stehen auf dem Cannstatter Wasen. Nur wenige davon tragen Schutzmasken.
»Wieso hast du dir den Maulkorb umgebunden?«, wird Dengler von einer jüngeren Frau angefaucht.
Er sieht sich um. Jesus rettet Leben, Bill Gates zerstört Leben
, steht auf einem Plakat. Corona ist fake
, auf einem anderen. Keine Zwangsimpfung
, fordert ein Transparent, das von drei jungen Frauen getragen wird. Einige stadtbekannte Rechtsradikale verteilen Flugschriften.
Er sieht viele Wir-sind-das-Volk
-Plakate. Das geschmackloseste zeigt ein altes Foto einer schwarzen Frau in Ketten, die wahrscheinlich tatsächlich eine Sklavin ist. Ihr hat man einen Mundschutz aufgemalt. Ein gut genährter blonder Mann in einem roten Poloshirt hält es gut gelaunt in die Luft. Dengler fragt ihn, ob er auch glaube, dass das Coronavirus eine Erfindung sei.
»Klar«, sagt er. »Wie kann das denn sein, dass sich so etwas plötzlich weltweit verbreitet?«
»Flugzeuge?«, schlägt Dengler vor.
Der Mann beugt sich zu ihm vor. »Das ist ja nicht nur in Deutschland«, raunt er ihm ins Ohr. »Das ist weltweit.«
»Ich weiß.«
»Das geht nur, wenn da dran gedreht wurde.«
Er beugt sich näher zu ihm hin, aber Dengler geht ein paar Schritte zurück. Der Mann folgt ihm.
»Da gab es ein Treffen. In New York. Amerikanische Milliardäre. Der Gates war auch dabei. Am 18. Oktober 2001. Event 2001 hieß das Treffen. Da beschäftigten sie sich schon mit der Möglichkeit
einer Pandemie. Und jetzt ist sie da. Es kommt genauso, wie die das besprochen haben. Das sagt doch alles.«
»Die Tatsache, dass die Chefs großer Firmen sich über die Möglichkeit einer Pandemie unterhalten, beweist doch nicht, dass sie dann sogleich eine solche inszenieren. Es beweist überhaupt nichts, außer dass sie darüber geredet haben. Aus welchem Grund sollten sie denn eine Pandemie auslösen? Warum?«
Wieder kommt der Mann Denglers Ohr nahe, wieder weicht Dengler zurück, und wieder folgt der Mann.
Er flüstert: »Sie wollen, dass alles vor die Hunde geht. Dann können sie billig aufkaufen. Alles. Schnäppchenpreise. Darum geht’s. Und wir sollen in dieser neuen Ordnung die Leibeigenen sein. Das wird gerade eingeübt. Unsere Rechte werden abgeschafft. Niemand darf mehr seine Meinung sagen.«
»Sagst du nicht gerade deine Meinung?«
Dengler wartet die Antwort nicht ab. Eine merkwürdige Versammlung hat sich hier zusammengefunden. In anderen Zusammenhängen würde man von einer solch »bunten Bewegung« schwärmen, doch bei diesem Anblick schaudert es Dengler. Es ist eine krude Mischung aus Alternativen und Nationalen, Libertären und Normalos. Einträchtig weht die regenbogenfarbene Fahne der Friedensbewegung neben der Flagge des Deutschen Reichs und dem Andreaskreuz Schwedens, das wegen seiner lockeren Seuchenpolitik auf Plakaten gelobt wird. Es ist keine Querfront, die sich hier versammelt, dazu fehlen linke Banner und Positionen, doch Vertreter des alternativ angehauchten Bürgertums haben sich unter das Publikum gemischt. Nur die Rechten zeigen sichtbar Präsenz. Dengler sieht einschlägig tätowierte Ordner, einen Bücherstand des rechtsradikalen Compact
-Magazins, und auch AfD-Landespolitiker stolzieren gut gelaunt durch die Menge der Demoteilnehmer. Die Rechten sind weit davon entfernt, die Szene zu dominieren, und doch ist ein ultrarechtes Motiv zu so etwas wie dem Markenzeichen des Tages geworden: die aggressive Verharmlosung des
Nationalsozialismus durch irrwitzige historische Vergleiche. Die hygienischen Vorsichtsmaßnahmen werden durchgängig zu brutalen Vorboten einer neuen Diktatur umgedeutet. Der Mundschutz mutiert zum Maulkorb, und Bill Gates wird zum Dämon, als sei er ein zweiter Adolf Hitler. »Ach was, schlimmer«, schwäbelt am Abend ein Teilnehmer in der heute-show.
Dengler verliert Martin Klein aus dem Blick, als er auf dem Wall, der zum Wasen abfällt, eine Gestalt sieht. Er erkennt sie nicht, sie ist zu weit von ihm entfernt, doch sein Körper reagiert sofort. Sein Magen krampft sich zusammen. Dengler kann den Blick nicht abwenden von diesem Mann, der im Gegenlicht einen fast dämonischen Eindruck macht. Woher kennt er diese Gestalt, die groß und herrisch wie ein General auf dem Feldherrnhügel steht, seine Armee überblickend?
Martin Klein taucht wieder auf und zieht ihn weiter.
Dengler nimmt sein Handy und fotografiert den Mann.
Woher kennt er ihn?
Er ist unruhig. Jede Faser seines Körpers signalisiert ihm – Gefahr.
*
Der Streit mit Martin Klein beschäftigt Georg Dengler auch noch am nächsten Tag. Er steckt ihm buchstäblich in den Knochen. Er fühlt sich schwer und müde, obwohl er in der Nacht gut geschlafen hat.
»Impfgegner«, denkt er. »Seit wann ist Martin ein Impfgegner?«
Er schüttelt den Kopf. »Verrückt«, sagt er laut. »Alle werden verrückt.«
Dann fällt ihm das Foto ein, das er gestern auf der Demo geschossen hat. Er lädt es auf seinen Rechner und vergrößert es.
Kein Zweifel! Das ist Harry Nopper. Aufrecht steht er auf dem Damm, und drückt seinen Bierbauch ins Bild. Er vergrößert die
Aufnahme noch mehr. Jetzt sieht er Noppers zufriedenes Grinsen. Wie ein Kommandeur, der eine Übung seiner Truppen beobachtet.
Was macht Nopper hier?
Dengler checkt zwei Männer, die neben ihm stehen. Er kennt sie nicht. Nun vergrößert er ihre Gesichter, speichert sie und schickt die Datei an den Drucker im Büro.
War Nopper als Privatmann da? Als besorgter Bürger?
Was macht der Geheimdienst auf der Demo?
Er kann es sich nicht erklären.
Dengler steht auf und geht hinüber ins Büro, um den Ausdruck aus dem Drucker zu nehmen.
Noch bevor er die Tür aufmacht, hört er Rap-Musik aus dem Empfangsraum klingen: Bring Em’ Out
von T.I. Irritiert drückt er die Klinke herunter und bleibt überrascht im Türrahmen stehen. Petra Wolff sitzt an ihrem Schreibtisch und tippt etwas in den Computer.
»Hi«, sagt sie munter, »ich halt das Homeoffice nicht mehr aus. Ich muss wieder unter Leute.«
»Und dann sitzt du allein im Büro? Ich bin mir nicht sicher, ob das ein bedeutender Fortschritt ist.«
Petra Wolff greift in den Druckerschacht und zieht die Fotos heraus.
»Oh«, sagt sie, »diese Hackfresse kennen wir doch. Der ehemalige Boss des Verfassungsschutzes in Thüringen. Der die dortige Nazitruppe aufgebaut hat. Wo ist der dir wieder über den Weg gelaufen?«
»Bei der Hygiene-Demo der Impfgegner auf dem Cannstatter Wasen.«
»Oh Gott – da war meine Mutter auch.«
Dengler lacht: »Deine Mutter? Auf solchen Demos?«
Petra Wolff: »Das ist nicht zum Lachen. Ich komme aus einer streng anthroposophischen Familie. Die drehen gerade alle völlig durch.«
»Tatsächlich? Ich habe dich noch nie in selbst gestrickten Baumwollstrümpfen gesehen.«
»Das ist nicht lustig. Jedenfalls nicht für mich.«
Seltsam, denkt Dengler, ich Ignorant weiß nichts über ihren familiären Backround. Habe sie nie danach gefragt. »Ich mach uns einen doppelten Espresso. Wenn du magst, erzählst du mir etwas über das Leben in einer anthroposophischen Familie.«
Dengler geht in die Küche, mahlt Kaffee, füllt ihn in die große Bialetti und stellt sie auf den Herd. Als er mit zwei Tassen ins Büro zurückkommt, sieht er, dass Petra Wolff zum Fenster hinaussieht. Ihre Augen sind feucht.
»Wenn es dir unangenehm ist«, sagt Dengler, »müssen wir nicht darüber reden.«
Sie schüttelt heftig den Kopf, dreht sich um und sieht ihn an.
»Wie viele Geschwister hast du?«, fragt sie.
»Ich bin ein einsames Einzelkind.«
»Wir sind sieben. Ich bin das zweite Kind meiner Eltern. Mein älterer Bruder kam zwei Jahre vor mir auf die Welt.«
Sie nimmt einen Schluck Kaffee. »Ich habe mit 18 Jahren zum ersten Mal in meinem Leben Nein gesagt.«
Dengler sieht erstaunt auf.
»18 Jahre lang war nein ein Unwort. Du musst dir vorstellen, ich bin aufgewachsen in einem Haushalt, in dem jeder Tag eine bestimmte Farbe hat und jeder Tag ein bestimmtes Getreide. Die Deckchen auf dem Tisch mussten in der Farbe des Tages hingelegt werden. Dazu musste ich die passenden Ähren des ›Getreides des Tages‹ dekorieren. Ich trug als Kind nur von meiner Mutter geschneiderte Kleider, von Hand pflanzengefärbt natürlich. Immer nur blasse Hängerkleidchen, die die Taille verdecken mussten, was die Erweckung früher Sexualität verhindern sollte. Hat allerdings nicht geholfen. Mein Gott, als Kind habe ich mit meiner Mutter bis in die Nacht genäht, dekoriert, Strümpfe gefärbt, Kraut gestampft. Es war …«
Wie wenig ich doch von ihr weiß …
»Wir durften nicht mit normalen Nachbarkindern spielen. Wenn ich im Kaufladen ein Bonbon geschenkt bekam, musste ich es bei meiner Mutter abgeben. Sie gab mir dann Rosinen dafür. Wenn ich von Freundinnen oder Klassenkameradinnen außerhalb der Anthroszene eingeladen wurde, ging meine Mutter vorher zu der Familie und inspizierte die Kinderzimmer. Wenn irgendwo Fernseher standen, durfte ich nicht hin, wenn Plastikspielzeug rumlag, durfte ich nicht hin. Sogar wenn die anderen Kinder ihre Schulhefte mit einem Umschlag aus Plastik schützten, gab es Diskussionen. Plastik ist giftig, erklärte sie mir. Meine Bücher und Hefte durften nur Papierschutzumschläge haben. Wenn ich ein ›Straßenwort‹ sagte, zwang sie mich, drei sogenannte schöne Worte zu sagen: Engel, Blume, Honig. Das war aber immer noch besser als im Waldorf-Kindergarten. Da wuschen sie uns Kindern den Mund mit Seife aus, wenn wir ›Scheiße‹ sagten oder ein anderes ›Straßenwort‹ benutzten.«
Sie wischt sich mit der Hand die Augen trocken.
»Bis zum dritten Lebensjahr wurden den Mädchen die Haare nicht geschnitten, danach durften wir nur Zöpfe tragen.«
»Warum, um Gottes willen?«
»Wir sollten den Kontakt zum Kosmos nicht verlieren, der wird über die Haarspitzen hergestellt. Deshalb: Haare bei den Mädchen nicht abschneiden. Die Jungs dagegen hatten alle Frisuren wie mit einem Topf geschnitten. Alle meine Brüder schämten sich auf der Straße für ihr Aussehen. Sie mussten auch schreckliche bestickte Kittelchen tragen. Diese durften auf keinen Fall Bündchen am Handgelenk haben, denn der Energiezufluss von der Seele zur tätigen Hand darf auf keinen Fall unterbrochen werden.«
»Mein Gott!«
»Jeden Abend wurde gebetet. Das war ein festes Ritual. Wenn ich oder eines meiner Geschwister dabei lachen musste, dann setzte es eine harte Strafe. Wir mussten eine halbe Stunde auf dem harten
Boden im Flur knien. Also konzentrierten wir uns darauf, nicht zu lachen. Es gelang nicht immer.«
Petra Wolff sieht Dengler an. »Willst du noch mehr Geschichten aus meiner Kindheit hören?«
»Ja.«
»Sonntags gingen wir in die Waldorf-Kirche, die Christengemeinschaft. An der Türe standen zwei Ministranten, denen wir in die Augen schauen mussten. Das Schlimmste war, dass sie oft unangenehmen Mundgeruch hatten. Die Ministranten sagten dann: ›Du weißt, du gehst zu der Handlung, die die Seele erheben wird zum Geiste der Welt.‹ Der Pfarrer sagte zu jedem einzelnen Kind: ›Der Gottesgeist wird sein mit dir, wenn du ihn suchest.‹ Und wir mussten dann antworten: ›Ich will ihn suchen.‹ Einmal sagte ein Junge: ›Ich will ihn nicht
suchen.‹ Das war genug Gesprächsstoff für mehrere Monate in der Gemeinde.«
Dengler sagt: »Merkwürdig, so wie ich dich bisher erlebt habe, offen und selbstbewusst, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass du so eine Kindheitsgeschichte mit dir rumschleppst.«
Petra Wolff lächelt. »Wir haben uns gewehrt, so gut wir konnten. Rauchen mit 15. Kiffen mit 16. Mit 18 bin ich ausgezogen. Nachdem ich mein erstes Zimmer gemietet hatte, sah ich drei Monate rund um die Uhr fern und stopfte Chips in mich hinein. Ich wurde fett. Meinem kleinen Bruder, dem es peinlich war, immer nur im Bioladen einzukaufen, besorgte ich eine Perücke.«
Dengler wirft einen Blick auf das Foto von Harry Nopper. »Und wie ist deine Mutter heute drauf? In diesen Coronazeiten?«
Petra Wolff sieht Dengler an. »Im Augenblick läuft sie zur Hochform auf. Das Coronavirus ist für sie zu einem Jungbrunnen geworden. Sie googelt den ganzen Tag und schickt ohne Ende Videos, Botschaften und Mails in die Welt. Sie bombardiert uns damit. Erst habe ich versucht, mit ihr zu diskutieren: aussichtslos. Dann bat ich sie, mir den ganzen Müll nicht mehr zu schicken: genauso aussichtslos. Jetzt lösch ich das Zeug ungelesen.«
Noch ein Blick auf Harry Nopper. »Was steht in ihren Mails?«
»Schau dir’s selbst an.«
Sie dreht sich zum Computer, ruft YouTube auf und startet ein Video. Eine ältere Frau setzt sich mit einem gewisslichen Lächeln an einen Schreibtisch, schaut in die Kamera und sagt mit sanfter Stimme: »Guten Tag, liebe Freunde, heute möchte ich über den Coronavirus sprechen aus geistlicher Sicht.«
Dengler zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich.
»Wir wissen, dass alles Schwingung ist. Das ganze Universum beruht auf Schwingung. Absolut alles, was wir sehen oder nicht sehen, hat eine Schwingung: zum Beispiel die Farben, die Musik, die Blumen, die Bäume, die Steine, die Tiere – und auch wir Menschen; alles ist Schwingung. Jeder Mensch hat seine Schwingung, und das ist ja auch die Basis für die Homöopathie. Jetzt können wir uns überlegen: Welche Schwingung hat das Coronavirus? Jesus hat gesagt, den Baum erkennt man durch die Früchte. Also gucken wir uns mal die Früchte des Coronavirus an. Leid, Krankheit, Schmerz, Unwohlsein bis in den Tod hinein. Also hat dieses Virus keine hohe Schwingung, sondern eine niedrige Schwingung. Eine hohe Schwingung öffnet unser Herz. Lasst uns freudig sein. Lasst uns erweitern. Also – was können wir tun, damit wir nicht erkranken? Wir dürfen nicht in Resonanz gehen mit dieser Schwingung. Wir müssen in eine höhere Schwingung gehen. Doch wie schaffen wir das? Durch die Zuversicht. Hohe Schwingungen sind Schwingungen der Liebe, sind Manifestationen der Liebe. Verständnis, Zufriedenheit. Und natürlich als Erstes die Liebe. Das erhöht unsere Schwingungen, und wir sind für das Virus unerreichbar.«
»Stell es ab«, sagt Georg Dengler. »Das ist unerträglich. Dumm und verantwortungslos.«
»Damit beschäftigt sich meine Mutter rund um die Uhr.«
»Das ist reines Kabarett. Man könnte diese Dame auf eine Bühne setzen, und alle denken, es wäre Satire.«
»Es ist ernst, Georg. Und es gibt Schlimmeres. Als ich zuletzt bei meiner Mutter zu Hause war, erzählte mir eine ihrer Freundinnen, Donald Trump sei ein Erzengel.«
Dengler sieht sie verblüfft an. »Was? Trump ein Erzengel? Jemand, der so systematisch lügt?«
»Du verstehst das nicht«, sagt Petra Wolff. »Die Freundin meiner Mutter hat es mir erklärt: Trump muss sich tarnen. Er muss merkwürdige Dinge sagen und tun, denn sonst würde jeder
erkennen, dass er ein Erzengel ist. Die Tarnung wäre weg.«
»Und so wissen das nur er und einige Anthroposophen?«
»Bingo. Ich weiß nicht, was meine Mutter im Augenblick reitet, aber ihre Szene ist außer Rand und Band.«
Georg Dengler betrachtet noch einmal das zufriedene Gesicht von Harry Nopper auf dem Bild. Er steht auf.
»Es tut mir leid, ich habe dich nie nach deiner Kindheit gefragt.«
»Ist schon okay. Ab einem bestimmten Alter ist jeder für sich selbst verantwortlich. Ich bin drüber weg. Ich mach mal hier im Büro mit der Ablage weiter.«
Dengler hört die Brüchigkeit in ihrer Stimme. Über nichts ist sie hinweg.
»Weißt du«, sagt Petra Wolff und nimmt einen Stapel Papier in die Hand, »es ist hart zu verstehen, dass wir als Kinder nach einer Schrift erzogen worden sind und nicht nach dem Herzen einer Mutter.« Sie zögert. »Weil Rudolf Steiner es gesagt hat, wurden wir als Babys nicht in den Arm genommen und getröstet, wenn wir geschrien haben. Wir wurden in ein leeres Zimmer gestellt, und wir schrien, bis wir nicht mehr konnten.« Jetzt stehen wieder Tränen in ihren Augen. »Ich erinnere mich natürlich nicht mehr, wie es bei mir war. Aber nachts höre ich manchmal immer noch die Schreie meines kleinen Bruders. Es ist so …« Mit einer schnellen Bewegung wischt sie sich die Augen trocken. »Ich gehe jetzt besser an die Ablage.«
»Okay. Noch eine Frage. Deine Mutter und ihre Szene – sie sind gegen das Impfen?«
»Aber hallo! Impfen ist eine Teufelssache! Mein kleiner Bruder durfte nicht gegen Zeckenbisse geimpft werden. Jetzt quälen ihn richtig schmerzhafte Entzündungen in den Knien und Gelenken. Vor drei Monaten wurde eine chronische Gehirnentzündung bei ihm festgestellt. Er hat Borreliose. Drittes Stadium. Es ist nicht witzig, wenn man eine Impfgegnerin als Mutter hat.«
»Wenn ich irgendwie helfen …«
Petra Wolff schüttelt den Kopf.
Dengler nimmt das Foto von Nopper und geht.